Helen Frankenthaler in Essen

Verwegene Großformate

Helen Frankenthaler, eine der wenigen Frauen des Abstrakten Expressionismus, wird in Essen angemessen mit einer Retrospektive gewürdigt: Als Pionierin, die aus dem Kanon verdrängt wurde und es doch schaffte, den Boys Club hinter sich zu lassen

Mit 23 Jahren war Helen Frankenthaler bereits ein Meisterstück des Abstrakten Expressionismus gelungen. Ihr Großformat "Mountains and Sea" wurde 1952 als ein Schritt ins Neuland gefeiert, heute hängt das Landschaftsbild in der National Gallery in Washington. Wie Jackson Pollock malte sie auf dem Studioboden. Im Gegensatz zu ihm benutzte sie aber keine Lackfarben, sondern mit Terpentin extrem verdünnte Farben. In die unbehandelte Leinwand sickerten sie unter Verzicht auf energische Gesten, dafür aber vorangetrieben von Rakel und Schwämmen, ein und hinterließen dabei die typischen fließenden Formen – ein Verfahren, das fortan als "Stain Painting" bezeichnet und von Kollegen wie Kenneth Noland oder Morris Louis aufgegriffen wurde.

Dass Frankenthaler zu dem Zeitpunkt bereits eine fünfjährige Beziehung mit dem einflussreichen Kritiker Clement Greenberg vorweisen konnte, der sie in sein tonangebendes Netzwerk eingeführt hatte, beschleunigte natürlich den damals für eine Frau rasanten Aufstieg zur Vorläuferin der Farbfeldmalerei. Von 1957 bis 1971 war sie dann mit dem Maler Robert Motherwell verheiratet, einem Exponenten der ersten Generation des Abstrakten Expressionismus, mit dem sie lange Reisen durch Italien, Spanien und Frankreich unternahm.

Eine unabhängige Position

Frankenthalers mal sanft mäandernde, mal sich lustvoll aufbäumende Leichtigkeit war meilenweit von seinem Ansatz entfernt. Weswegen es ihr auch gelingen konnte, eine eigenständige Position zu behaupten und nicht nur als Ehefrau eines Maler-Heroen wahrgenommen zu werden, auch wenn das Interesse an ihrem Werk nach der einflussreichen Erfindung einer neuen Technik zunehmend abnahm. Auf dem Kunstmarkt half die unabhängige Positionierung ebenfalls nicht. Erst seit der Wiederentdeckung der Kollegin Joan Mitchell, deren Werke neuerdings im achtstelligen Bereich den Besitzer wechseln, ist auch bei Frankenthaler mit steigenden Preisen zu rechnen. Und das, obwohl sie die Welle des frühen Erfolgs bereits 1966 bis in den US-amerikanischen Pavillon auf der Kunstbiennale von Venedig brachte.

In der Ausstellung "Malerische Konstellationen" im Essener Folkwang Museum erstreckt sich das Werk der 2011 verstorbenen Malerin chronologisch über sechs Jahrzehnte, von dem kubistischen Frühwerk bis zu den späten Monochromien. Der Fokus liegt auf Papierarbeiten, weswegen 75 Malereien auf Papier lediglich neun Leinwände gegenüberstehen. Nicht ohne Grund, denn auf Papier experimentierte Frankenthaler bereits in den frühen 1950er-Jahren mit Öl- und Acrylfarbe. In den Nullerjahren zeigte sie keine Angst vor der Brüchigkeit des Materials und wagte sich auch auf Papier ins Großformat, wie auf "Southern Exposure" von 2002, wo ein warmes Orange regiert, gepaart mit Schlieren aus Grün und Rot.

Zu neuen Ufern

Die Dekade der Sechziger, als in New York die Pop Art ihren Siegeszug antrat, repräsentiert etwa "Grotta Azura" (1963), eine Landschaft bei Capri, die das Meer und den Strand auf expandierende Fleckenformationen reduziert – ein exemplarisches Beispiel für die Farbfeldmalerei. In den kommenden Jahrzehnten geraten die Farbkombinationen komplexer. Immer wieder durchkreuzt Frankenthaler Erwartungen, bricht zu neuen Ufern auf, indem sie die Leinwand wie tiefgefroren in eine weiß-graue Eisdecke taucht und den so in ihrem Werk dominanten mediterranen Flair hinter sich lässt. Ohne darauf zu verzichten, dem auf Zufall basierenden Chaos ihrer Malerei eine möglichst verwegene Struktur zu verleihen.     

Bis zum Schluss bleibt Frankenthaler die einzige Kapitänin eines Forschungsschiffs, das keine noch so ungemütliche Klimazone scheut. Von ephemerer Unschuld, die ihr bei manchen Kritikern den Stempel "zu feminin", "zu süß" bescherte, bis zum kraftvollen Aufruhr, der eine scheinbar "maskuline Seite" offenbarte. Wie Joan Mitchell lehnte Frankenthaler derartige Kategorisierungen stets ab. Bereits 1957 konterte sie einen misogynen Kommentar zu ihrem Gemälde "L´Amour Toujours L´Amour" mit der lakonischen Bemerkung: "Wenn Sie das für zu lyrisch oder zu skurril halten, sehen Sie es nicht."