Göttingen

Verwahrte Kunst: Klingebiel-Zelle wird öffentlich

Die wenigen Quadratmeter, die er zum Leben hatte, verwandelte Julius Klingebiel in ein Kunstwerk. Lange war es so abgeschottet von der Außenwelt wie er selbst. Das soll sich nun ändern

Vom Waschbecken der Zelle aus geht der Blick aufs Meer. Ein großes Schiff hat seine weißen Segel gesetzt, der Schein der untergehenden Sonne spiegelt sich im Wasser. Die Zeichnung ist nur eine von zahlreichen, mit denen Julius Klingebiel vor über 50 Jahren seine Zelle in ein Gesamtkunstwerk verwandelt hat. Es fristet in Göttingen ein Schattendasein auf rund neun Quadratmetern. Doch das soll sich ändern. 

"Die Zeit drängt", sagt der leitende Baudirektor beim Staatlichen Baumanagement Südniedersachsen, Marcus Rogge, mit Blick auf die geplante Aufbereitung der Zelle im ehemaligen Verwahrhaus für psychisch kranke Menschen, die auch der Öffentlichkeit den Besuch ermöglichen sollen. Eine Mitte der 1980er Jahre aufgetragene Schutzschicht über der Wandmalerei beginne sich abzulösen. Dabei werde auch das Kunstwerk mit abgerissen. Um die Zeichnungen zu schützen, wurde inzwischen unter anderem das einzige Fenster versiegelt.

Für die Aufbereitung der Zelle soll in der Nebenzelle Klimatechnik installiert werden, die bisher nur provisorisch in der Raummitte aufgebaut ist. Die Zelle soll dann konstant 20 Grad warm sein und eine geringe Luftfeuchtigkeit haben. Für die Technik soll so wenig wie möglich an dem Raum verändert werden, indem Schächte der ehemaligen Fußbodenheizung genutzt werden. Gittertüren auf dem Flur sowie die niedrige Zellentür sollen bleiben. Über einen Glaskasten sollen Besucher den ersten Quadratmeter der Zelle betreten können.

Glaskasten für Besucher

"Dieser eine Schritt in den Raum ist nötig, um das Ausmaß des Kunstwerkes zu erfassen", sagt Projektleiter Robin Kluge. Ein Betreten des ganzen Raumes werde nicht möglich sein. Der Glaskasten sei für das konstante Raumklima notwendig. Besichtigungen sollen nur in Kleingruppen nach vorheriger Anmeldung möglich sein. Teil der Bauarbeiten, die vermutlich einen sechsstelligen Betrag kosten werden, sei auch der Einbau einer neuen Beleuchtung. Das Fenster bleibe versiegelt - obwohl Tageslicht versteckte Aspekte der Zeichnungen zutage fördern könnte.

"Es gibt Vermutungen, dass Julius Klingebiel seine Zeichnungen nach dem Licht ausrichtete. Das konnte vor der Versiegelung des Fensters nicht geklärt werden", sagt Kluge. Doch auch ohne Tageslicht bietet das Wandgemälde viele Aspekte. So sind auf der linken Raumseite vor allem kleinteilige Zeichnungen zu sehen, in denen Klingebiel etwa die Themen Religion und Nationalsozialismus verarbeitete. Kreuze, Militärorden oder eine Hitler-Karikatur sind zu erkennen. Auf der rechten Seite prangen großflächige Malereien, etwa von Hirschen. Abgeschlossen war das Gemälde für Klingebiel nie. Immer wieder übermalte er Stellen, "er war nie fertig", erzählt Kluge.

Jahrelang in der gleichen Zelle gelebt

1940, zur Zeit des Nationalsozialismus, wurde Julius Klingebiel im Alter von 35 Jahren erstmals in das Verwahrhaus gebracht und später verlegt. 1951 kam er erneut nach Göttingen, wo er bis zu seinem Tod 1965 die meiste Zeit in der nun nach ihm benannten Einzelzelle 117 lebte, heißt es in einer Dokumentation, die vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen herausgegeben wurde. Seit 2012 steht die Zelle unter Denkmalschutz. Sie gilt als herausragendes Beispiel des Schaffens psychiatrieerfahrener Künstler, wie es im niedersächsischen Denkmalatlas heißt.

Wenige Jahre vor seiner ersten Ankunft in Göttingen diagnostizierten Ärzte bei dem gelernten Schlosser nach einem Arbeitsunfall eine angebliche Schizophrenie und wiesen ihn in die Nervenklinik Hannover ein. Zuvor soll er einen seiner zwei Stiefsöhne bedroht und seine Frau gewürgt haben. Dem Tötungsprogramm der Nazis entging er später aus bis heute ungeklärten Gründen. Eine wirksame Behandlung erhielt er erst ab 1961. Weil ihn das Bemalen der Wände scheinbar beruhigte, erlaubte man es ihm nach anfänglicher Ablehnung. Später malte Klingebiel auch Kunstwerke auf Papier, von denen einige erhalten und in einer nahe gelegenen Klinik ausgestellt sind, wie Rogge berichtet. Eine gerichtliche Anordnung zu seiner Unterbringung gab es bis zu seinem Tod nicht.

Ehemaliges Verwahrhaus stand lange leer

Noch Jahrzehnte nach Klingebiels Tod wurde das einstige Verwahrhaus für psychisch kranke Menschen genutzt - allerdings anders als zuvor. Psychisch kranke Straftäter wurden dort fortan im Maßregelvollzug untergebracht. Nur die Klingebiel-Zelle blieb leer. Seit 2016 steht das dreigeschossige Gebäude leer, sagt Projektleiter Kluge. 

Nun soll nicht nur die Klingebiel-Zelle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Sämtliche ehemaligen Zellen sowie Therapie- und Gemeinschaftsräume des auch Festes Haus genannten Gebäudes sollen Lager für die Landesmuseen Hannover und Braunschweig werden. Im August sollen die viereinhalb Millionen Euro teuren Bauarbeiten offiziell beginnen. Es werden unter anderem Büros und Toiletten instand gesetzt sowie Regale eingebaut. Es entstehen auch je vier Arbeitsplätze für die zwei Museen. 

Zelle sollte einst nach Hannover

Streng genommen sind der Umbau des von hohen Mauern umgebenden Gebäudes zu einem Museumsdepot und die Aufbereitung der Zelle zwei getrennte Projekte, sagt Baudirektor Rogge. Und doch hingen sie voneinander ab. Gäbe es die denkmalgeschützte Zelle nicht, wäre das Feste Haus wohl abgerissen worden; die beiden Museen hätten Depots anmieten müssen. Ausstellungstücke aus Ton und Stein sollen künftig in Göttingen lagern.

Gleichzeitig könne das Raumkunstwerk nur zugänglich gemacht werden, weil das Gebäude, für das es zuvor keine Nutzungsidee gab, saniert werde. Im Gespräch war daher auch mal der Wiederaufbau der Zelle im Sprengel-Museum in Hannover. Dagegen wehrte sich die Stadt Göttingen erfolgreich. "Zum Glück", meint Rogge. Schließlich hätte bei so einem Umzug auch einiges von dem Kunstwerk kaputtgehen können, das die Öffentlichkeit dann womöglich nie zu Gesicht bekommen hätte.