Nach einem spektakulären Fund muss die Geschichte des weltberühmten Bildes "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" von Johannes Vermeer (1632-1675) umgeschrieben werden. Im Zuge der Restaurierung des Kunstwerks in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister haben Fachleute herausgefunden, dass die ursprüngliche Komposition mit dem Bildnis eines nackten Cupido (Amor) erst mehrere Jahrzehnte nach dessen Entstehung verändert wurde. "Bisher war einhelliger Konsens, dass Vermeer selbst die Figur übermalt hat, umso überraschender ist die Entdeckung, dass das von fremder Hand geschah", sagte der Direktor des Museums, Stephan Koja, am Dienstag in Dresden. Neue Laboruntersuchungen mit modernsten Verfahren hätten das zweifelsfrei bestätigt.
Nach Angaben von Christoph Herm von der Hochschule für Bildende Künste Dresden sprechen die Pigmente der aufgetragenen Farbschicht für eine Übermalung um 1700, mehrere Jahrzehnte nach Entstehung des Gemäldes und Vermeers Tod. Wegen des guten Erhaltungszustands der vom Künstler als "Bild im Bild" eingefügten zweiten Figur wurde entschieden, die Farbschicht zu entfernen. "Damit verändert sich die Bildaussage total", sagte die Oberkonservatorin des Museums der Staatlichen Kunstsammlungen, Uta Neidhardt. "Jetzt ist es ganz deutlich und klar ein amouröser Kontext: Vermeer wollte zeigen, dass es sich um einen Liebesbrief handelt."
Die bisherige Annahme, dass der Künstler den plastisch in Braun- und Ockertönen gemalten Liebesgott wieder getilgt und die Bildaussage absichtlich verschleiert hat, sei falsch. Unklar ist auch, wer den nackten Blondschopf überdeckt hat. "Wir wissen es noch nicht", sagte Neidhardt. Die Spuren führten nach Paris, wo das um 1658 entstandene Ölbild einige Jahrzehnte war. "Wir vermuten in dieser Zeit auch die Übermalung."
Vermeers Briefleserin war dort 1742 für Sachsens Kurfürst Friedrich August II. aus der Sammlung eines Prinzen erworben worden. Als sie nach Dresden kam, war der Nackte schon nicht mehr zu sehen. Seine Existenz ist seit einer Röntgenaufnahme 1979 bekannt, der Fund wurde 1982 veröffentlicht. Seitdem ging die Wissenschaft davon aus, dass Vermeer die Rückwand des Raumes später selbst übermalte. "Er hat in etwa dieselbe Größe wie das Mädchen", sagte Neidhardt.
Restaurator Christoph Schölzel entfernt die nicht mal einen Millimeter dünne Schicht extrem vorsichtig - mit winzigem Skalpell unter dem Mikroskop. "An einem guten Tag schaffe ich ein bis zwei Quadratzentimeter." Seinen Angaben nach sind die Originalfarbe und Teile von Vermeers Firnis erhalten und Pinselstrukturen erkennbar. Ein alter Kratzer an der Schulter des Cupido sowie eingetrocknete gealterte Farbe seien Indizien, dass das Gemälde schon Jahrzehnte alt war, bevor die Figur übermalt wurde.
Schölzels Präzisionsarbeit macht die seit Frühjahr 2017 laufende Restaurierung des 83 mal 64,5 Zentimeter großen Gemäldes aufwändiger als gedacht, sie wird noch mindestens ein Jahr dauern. In einer kleinen Ausstellung können Besucher den Zwischenzustand bis 16. Juni in der vom Künstler beabsichtigten subtilen kühlen Farbigkeit sehen und den Amor, der der Briefleserin von oben über die Schulter zu schauen scheint.
Die mit der Erforschung verbundene Restaurierung wurde dank einer sechsstelligen Summe der Hata-Stiftung in Tokio möglich, die sich weltweit für Vermeer und Alte Malerei engagiert. Eine internationale Expertenkommission begleitet das Forschungsprojekt. Von Vermeer, einem der bedeutendsten holländischen Maler des 17. Jahrhunderts neben Rembrandt und Frans Hals, sind laut Koja nur rund drei Dutzend Gemälde bekannt. Zwei davon befinden sich in Dresden: "Bei der Kupplerin" (1656) und die Briefleserin. Sie werde künftig wieder so zu sehen sein, wie sie das Atelier einst verließ - nach rund drei Jahrhunderten.