Zahllose Objekte lagern in den Museen. Die überwiegende Mehrzahl davon befindet sich in den Depots, ohne Aussicht, jemals in die Schausammlung zu gelangen. Dabei haben auch unscheinbare, fragmentierte oder gar beschädigte Objekte spannende Geschichten zu erzählen. 26 Volontärinnen und Volontäre der Staatlichen Museen Berlin haben sich aufgemacht, jeweils ein Objekt zu wählen und ihm auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis ist eine höchst überraschende und lehrreiche Ausstellung unter dem Titel "(Un)seen Stories".
Die findet – und das ist schon die erste Überraschung – im Ausstellungssaal des Kupferstichkabinetts statt. Der stand zur Verfügung und bietet nicht nur den nötigen Platz, sondern ist auch, weil tageslichtfrei, für empfindlichsten Objekte geeignet. In vier Themenbereiche haben die Nachwuchswissenschaftler ihre Funde gegliedert. Zuerst wird das Sichtbare näher untersucht: Was sieht man dem Objekt an, was erschließt sich auf den berühmten zweiten Blick?
Nach dem Sehen kommt das Material, da ist tieferes Eindringen gefragt: Woraus besteht das Objekt, wie ist es hergestellt worden, gab es Veränderungen? Eine Transformation anderer Art beleuchtet das dritte Kapitel, nämlich den Wertewandel. Dem unterliegen alle Objekte, auch die eines Museums. Dinge werden mit einem Mal geschätzt, die im Depot schlummerten, und anderer Objekte wird man überdrüssig. Dabei spielt die Herkunft eine große Rolle, und gerade in den zurückliegenden Jahren ist der Provenienzforschung, der Frage nach Herkunft und Lebensweg eines Objekts, eine Schlüsselrolle zugewachsen.
Seit 1910 niemandem mehr aufgefallen
Was die Volontärinnen und Volontäre gewählt haben, war ihnen vollkommen frei überlassen. Und so heterogen die Auswahl insgesamt ist, ahnt man, dass ein Museum an schier jedes Objekt Fragen stellen und Spannendes zutage fördern kann. So zeigte sich bei einem Gemälde aus der Alten Nationalgalerie, dass es sich tatsächlich um zwei Bilder handelt – sorgsam aufeinander gelegt und in ein und denselben Keilrahmen eingespannt. Das ist seit 1910, als das jüngere der beiden Bilder entstand, niemandem mehr aufgefallen.
Nicht mehr, sondern weniger blieb bei einem anderen Objekt nach der Untersuchung. Eine Tontafel, 2700 Jahre alt aus Assur im Zweistromland, ist so etwas wie ein Lexikon damaliger Hochsprachen. Nach der Ausgrabung 1904 wurden die damals schon zerbrochenen Fragmente großzügig und mit reichlich Gips zu einem Ganzen ergänzt. Das musste jetzt rückgängig gemacht werden, um allein das authentische Objekt herauszupräparieren.
Ein aus Kunststoff geformtes Saxofon – "einst als Gipfel des schlechten Geschmacks wahrgenommen", wie es im Online-Katalog heißt – steht für Wertewandel. Tatsächlich haben sich Größen wie Ornette Coleman an diesem Instrument versucht und seinen zuvor verachteten Klang gerade geschätzt. Von einem Liebhaber wurde das jetzt gezeigte gute Stück für das Musikinstrumentenmuseum erworben.
Keine Friedhöfe toter Objekte
Die dunkle Geschichte des 20. Jahrhunderts kommt schließlich in einem Aquarell des Berliner Architekturmalers Eduard Gärtner zum Vorschein. Es zeigt den Leipziger Platz im Jahr 1862. Das großformatige Blatt aus der Nationalgalerie wurde Ende 1933 an die Reichskanzlei ausgeliehen und befand sich fortan zwölf Jahre lang in den Wohnräumen Hitlers. Gegen Kriegsende in einen Bunker verbracht, war das Blatt alsbald verschwunden – bis es 75 Jahre später in einem englischen Auktionshaus auftauchte. Ein Kunsthändler machte die Berliner Museen aufmerksam, und vor zwei Jahren kehrte das Werk zurück in die Sammlung des Kupferstichkabinetts – wo es jetzt erstmals im Ausstellungsraum zu sehen ist.
Über jedes Objekt, ob islamische Keramik, altägyptisches Textil, vermeintliche Dürer-Grafik oder antiker Frauenkopf, förderten die Volontärinnen und Volontäre gleichermaßen Interessantes, vor allem aber nicht sofort Ersichtliches zutage. Museen sind keine Friedhöfe toter Objekte, das ist die Botschaft, sondern Aktionsorte im Wartestand, bereit, zu jedem ihrer Sammlungsbestandteile etwas herauszufinden und mitzuteilen. Allemal sind es Spuren menschlichen Handelns an und mit den Objekten, die auf diese Weise zutage gefördert werden.
"Gerade diese unsichtbaren Geschichten sind für viele, wohl sogar für die meisten Museumsleute der Grund dafür, dass sie diesen Beruf ergriffen haben und für ihn brennen", schreibt Kupferstichkabinetts-Direktorin Dagmar Korbacher im Online-Katalog. Herausgekommen ist tatsächlich ein, wie sie weiter festhält, "in höchstem Maße gemeinschaftliches, partizipatives und zukunftsweisendes Ausstellungsprojekt". Wie lautet ihr Untertitel? "Suchen, Sehen, Sichtbarmachen". Genau das ist es: Eine, wenn nicht die Kernaufgabe des Museums