Aller, jamais retour
Am Anfang nur Ausschnitte: Beine, Hände, Stoff, der Saum eines feuerroten Mantels, der metallische Klang von High Heels, die laut und einsam über den Marmorboden klacken, ganz so, als müsse sich die Person, zu der diese Details gehören, noch zusammensetzen. Ulrike Ottingers "Bildnis einer Trinkerin" (1979) ist in den ersten Minuten ein Film der Worte. Es sind diese Worte, aus dem Off gesprochen, die sich für immer in mein Teenager-Hirn schnitzten: "Sie, eine Frau von hoher Schönheit, von antiker Würde und raphaelischem Ebenmaß, eine Frau geschaffen wie keine andere, Medea, Madonna, Beatrice, Iphigenie, Aspasia zu sein, beschloss an einem sonnigen Wintertag La Rotonda zu verlassen." Die gesichtslose Frau tritt an einen Tresen, kauft ein Ticket: "Aller jamais retour, Berlin-Tegel".
Dann, nach den Filmtiteln, landet eine Pan-Am-Maschine mit ihr an Bord vor einem blauen Himmel auf dem verschneiten Rollfeld. Man sieht, wie kalt diese Winter in den späten 1970ern- und frühen 1980er-Jahren waren – als noch der Geruch von Kohleöfen und Zweitakt-Motoren in der Luft hing, die Hundekacke liegen blieb, einfror, geologische Erdschichten bildete wie auf den Illustrationen in alten Schulbüchern, antaute und wieder fror, gefrorene Zeit.
Die Menschen in den U-Bahnen und Bussen hatten speckige Krägen, die Hausfassaden waren grau, von Granatsplittern vernarbt. Der Potsdamer Platz war eine Sandwüste mitten in der Stadt, durch die sich die mit Stacheldrahtzäunen eingefasste Mauer zog, in der das halb verfallene Hotel Esplanade und später das Tempodrom-Zelt standen. Keine Stadt der Welt machte den Weltkrieg, den Kalten Krieg gegenwärtiger. Und dann war da diese Subkultur, dekadent, hedonistisch, zynisch, wie in der Weimarer Republik, in Leder uniformiert, die Haare ausrasiert, Menschen, die kalt, androgyn, urban aussahen, wie aus der Russischen Revolution, Avantgardisten, Stummfilmstars, Gestalten auf Otto Dix' Gemälden der Weimarer Republik, Transvestiten und Nazis aus "Cabaret". Man ging in Läden wie das "Shizzo" oder den "Dschungel", hörte Bands wie Einstürzende Neubauten oder Mania D.
Die Berlin-Trilogie
Ein Gefühl von Weite und Abenteuer stellt sich bei mir noch heute ein, wenn ich diese ersten Sequenzen in Ottingers Film sehe, der zugleich eine Topografie des alten Westberlins, ein Porträt von Tabea Blumenschein und ein historisches Dokument dieser einmaligen Aufbruchs- und Untergangszeitzeit ist, in dem eingemauerten Westberlin, das Künstler, Musiker, Intellektuelle aus der ganzen Welt anzog. "Bildnis einer Trinkerin" bildet nur den Auftakt, es folgten noch zwei weitere Filme, die die sogenannte "Berlin-Trilogie" bilden: Magdalena Montezuma unternimmt in "Freak Orlando", auch angelehnt an den berühmten Roman von Virginia Woolf, als ständig das Geschlecht und die Identität wechselnder Orlando eine Zeitreise - von der mythologischen Vorzeit bis ins 20. Jahrhundert - die auch durch die Berliner Industrielandschaften und in die faschistische Vergangenheit führt. Veruschkas spätkapitalistischer Dorian Gray folgt in "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" (1984) der zwielichtigen Chefin eines Medienkonzerns, Dr. Mabuse (Delphine Seyrig), auf einen surrealen Trip zu einer Kolonial- Oper und eine Unterwelt aus Abwasserkanälen und U-Bahnschächten.
Absolute Herrscherinnen
Für mich war "Bildnis einer Trinkerin" wie eine Verheißung. Beim Anblick des glitzernden Schnees in Tegel, der weißen Wolken, die aus den Schornsteinen des Kraftwerks an der Charlottenburger Stadtautobahn aufsteigen, erinnere ich mich an meinen ersten Winter Anfang der 1980er-Jahre, in dem es wochenlang unter minus zehn Grad sein konnte, so eisig, dass die Polaroids, die wir nachts machten, sich nicht richtig entwickelten, die Außenklos in den Hinterhäusern einfroren und man mit langen Unterhosen und Mütze ins Bett ging oder einfach Speed nahm und wach blieb.
Ich hatte mich in Nikolaus Utermöhlen verliebt, der zusammen mit Wolfgang Müller die Band und Künstlergruppe Die Tödliche Doris gegründet hatte, die mit Tabea 1981 im "Kassettenkombinat" eine Kassette aufnahm: "Tabea Und Doris Dürfen Doch wohl Noch Apache Tanzen". Da singt sie zwei Jahre nach "Bildnis einer Trinkerin", ähnlich wie im Film mit ihrer atonalen, Brecht-artigen und zugleich fast kindlichen Stimme ihre Texte, deren Genialität und Skrupellosigkeit immer noch atemberaubend ist: "Bewegen Sie sich nicht, es wird scharf geschossen!"
Und so sah ich sie dann aus angemessener Entfernung im wirklichen Leben, starrte diese Frau an, die für mich spätestens seit Ottingers "Madame X – Eine absolute Herrscherin" (1978) in dem sie die Titelrolle spielt, ein totaler Star war. Den Film hatte ich noch in einem Studentenfilmclub in Westdeutschland gesehen. Madame X, eine grausame, charismatische Piratin, bewegt sich, wie so viele Figuren in Ottingers Filmen, non-binary, spielerisch zwischen männlichen und weiblichen Rollen, heuert Frauen für ihr Schiff an, verführt und unterwirft sie und schlägt Meutereien blutig nieder. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig diese Filme für schwule Teens wie mich waren. Man musste sie in einer Zeit ohne Internet finden, indem man irgendwelche Artikel in Magazinen oder Sachen im Fernsehen aufsaugte, in dem es nur drei Programme gab und nachts nach der Nationalhymne ein Testbild erstrahlte.
Verzerrung, Deformation, Metamorphose
Ich erinnere mich noch an einen Bericht über Ulrike Ottinger und Tabea im "Zeit"-Magazin, der 1977 oder 1978 erschienen sein muss. Er lag auf dem Glastisch im Wohnzimmer, auf dem Land, wohin wir nach dem Tod meines Vaters gezogen waren. Da waren die beiden in ihrem Wohnzimmer, Ottinger mit ihrem lockigen Haar und Zigarette wie ein androgyner Poet oder Rockstar, Blumenschein in einer schwarzen Hose und einem weißen Hemd, sehr YSL-Helmut-Newton-artig, beide eher Paris als Berlin. Hinter ihnen eine Wand mit Ottingers Schwarz-Weiß-Porträts von Blumenschein, die auch groß im Heft zu sehen waren, moderne, queere, kongeniale Bilder voller Glam, Ironie, völlig ihrer Zeit voraus. Tabea war eine einzigartige Kostümbildnerin, eine Performerin, die die Haute-Couture von Poiret und Vionnet mit Punk, Hollywood-Drama und experimentellen Theater vereinte. Ottinger ist eine herausragende Fotografin, die immer wieder ikonische Bilder geschaffen hat. Diese performativen und experimentellen Porträts, die beide oft in nächtlichen Sessions in ihrer Wohnung in der Schöneberger Erdmannstraße realisierten, waren, wie auch die "Verzerrungsstudien" (1980), die mit der Hauptdarstellerin Magdalena Montezuma im Vorfeld zu "Freak Orlando" (1981) entstanden, eng mit der Filmarbeit verbunden.
Sowohl auf den Fotografien wie auch im Film versuchte Ottinger immer wieder, neue Formen der Verzerrung, Deformation, Metamorphose zu finden. Sie stopfte Montezumas Kostüm aus, staffierte es mit Alltagsgegenständen, Rugby-Maske, Schutzpolstern, Schienen für Arme und Beine aus, band einzelne Partien mit Seilen ab, sodass sich der Körper völlig deformierte – und fotografierte ihn dann nochmals vor Spiegeln und Spiegelfolie. Die Serie hängt eng mit einer Sequenz zusammen, in der Orlando als mit einem siamesischen Zwilling verwachsene, mittelalterliche Bettlerin auftritt.
Die Fotoarbeiten mit Blumenschein entstehen in den mittleren und späten 1970er-Jahren. Sie tun das, was die US-Künstlerin Cindy Sherman fast zeitgleich mit ihren berühmten "Untitled Film Stills" macht. Sie appropriieren und sabotieren zugleich weibliche Stereotypen, die in den Massenmedien, Fotografien und Filmen seit der Nachkriegszeit immer wieder reproduziert werden. Tabea tritt in den Rollen der unnahbaren, wütenden, eleganten, irren, eiskalten, einsamen Frau, der wasserstoffblonden Sexbombe, der neurotischen Sekretärin, der Piratin, des Macho-Manns oder des Vamps im Smoking auf. Ottingers Kosmos ist dabei "queerer" und "non-binärer" als Shermans Werk, obwohl es diese Worte damals nicht gibt.
Weiße Wiedergängerinnen, koloniale Fantasien
Zugleich bringt Ottinger queeres Begehren mit verdrängter deutscher Geschichte zusammen. Deutlich wird das etwa zu Beginn von "Bildnis einer Trinkerin". Blumenschein, die in einer ikonischen Szene im Flughafen Tegel zwischen Schiebetüren gefangen ist, weder vor, noch zurückkann, steigt, nachdem sich die Türen schließlich öffnen, in einen Bus, auf dem "Wahnfried-Reisen" steht. Diese Anspielung auf die Villa Wahnfried, das ehemalige Wohnhaus Richard Wagners in Bayreuth, macht klar, wohin die Reise führt: nicht nur in den alkoholischen Wahn der Protagonistin, sondern auch zurück zu wagnerianischer Todessehnsucht, der mythologischen, nationalistischen, oder auch exotischen Verklärung, die Teil der Nazi-Ideologie war.
Interessanterweise erinnern viele Figuren in Ottingers frühen Filmen an neurotische, rebellische Versionen von sexualisierten, unterdrückten, "exotischen" oder traditionellen Frauenrollen der Nachkriegszeit. Ottinger dringt dabei auch auf abgründiges Terrain vor. Das "Fremde", "Andere", das in der Nazizeit Rassismus und arischer Vorherrschaft zum Opfer fiel, verfolgt, gefoltert, ermordet wurde, weil es den "gesunden" Volkskörper gefährdete, fand in Filmen der UFA eine weiße, "gereinigte" Entsprechung – mit Stars wie der Revuetänzerin La Jana (1905-1940), die bürgerlich Henny Hiebel hieß und in Wien geboren wurde. Seit den 1920er-Jahren trat sie, meist nur wenig bekleidet, in Filmen wie "Die weiße Geisha" (1926), "Der Tiger von Eschnapur", "Das Indische Grabmal" (beide 1938) oder "Stern von Rio" (1940) auf und stellte ähnlich wie die Schwedin Zarah Leander einen "fremdländischen", dem Standardbild der arischen "deutschen Frau" nicht entsprechenden Typ dar, die Surrogat-Spanierin, Inderin oder "Indianerin", unter der sich aber der entsprechende völkische Typ verbarg. Auch Joseph Goebbels wurde eine Affäre mit La Jana nachgesagt.
Diese Tradition des weißen Surrogats reichte in das Kaiserreich zurück, dessen koloniale Fantasien mit Karl-May-Romanen angefeuert wurden Der Versailler Vertrag zerstörte nach dem Ersten Weltkrieg Deutschlands imperiale Träume, das Dritte Reich ging unter. Aber nicht diese weißen Wiedergängerinnen, die in Heimat- und Abenteuerfilmen, Schul- und Bilderbüchern der 1950er- und 1960er-Jahre fröhliche Auferstehung feierten: die Geisha, das "Indianer"- oder "Eskimo"-Mädchen, die "Sexbombe" aus Hollywood, die sich in eine Pension in den Alpenort Bad Dingsda verirrt, die Europäerin, die sich in den Maharadscha verliebt, die indigene Prinzessin, in die sich ein kolonialer "Eroberer" verguckt, für den sie sich nach kurzem Glück meist aufopfert.
Der Blick in den Spiegel
Ottinger übernimmt in ihren Fotografien und frühen Filmen diese verklemmten, kolonialen, rassischen Rollenbilder, jedoch nicht, um sie didaktisch zu entlarven, sondern, um sie wie Madame X umzudrehen, lesbisch und abtrünnig zu machen. Auf den Fotos und in den Filmen der Berlin-Trilogie, sind der Spiegel, die Spiegelung, der zerschmetterte Spiegel, die Doppelgängerin wiederkehrende Topoi oder "Vorstellungsbilder", die damals absolut den postmodernen Zeitgeist treffen.
Ottinger und Blumenschein knüpfen damit an die feministische Fotografie der Moderne und der Nachkriegszeit an, bei der der weibliche Blick in den Spiegel Rollenbilder und Identitätsbegriffe hinterfragte. Das reicht von Claude Cahuns surrealen, extremen Selbstporträts über berühmte Fotografinnen wie Ilse Bing, Marianne Breslauer oder Lotte Jacobi, die mit dem Blick in den Spiegel auch ihre Rolle als Künstlerinnen reflektierten, bis zu der US-Fotokünstlerin Francesca Woodman und anderen Vertreterinnen der feministischen Avantgarde der 1970er-Jahre.
Der zersplitterte, in Scherben zerspringende Spiegel ist in der Popkultur der 1970er- und 1980er-Jahre ein Symbol für das postmoderne, fragmentierte, entfremdete Ich. Und immer fällt der Blick in den Spiegel bei Ottinger auf das Fremde, Andere, das einen da wie eine gespenstische Doppelgängerin zurück ansieht. Ihre Filme sind voll von gespiegelten, ineinander verwachsenen Identitäten. In "Bildnis einer Trinkerin", in der die Titelfigur einfach nur "Sie" heißt, spiegelt sich die außergewöhnlich reiche und mondäne Frau nicht nur in einer wohnungslosen Alkoholikerin, sondern auch in einem mysteriösen, kleinwüchsigen Mann wider, dem sie an verschiedenen Orten in der Stadt begegnet. Immer wieder kämpft sie mit ihrem eigenen Spiegelbild, verliert sich in ihren Rollen.
Ich ist ein Anderer
Das Fremde, Andere, das da aus dem Alltäglichen oder Vertrauten heraustritt und dagegen rebelliert, hat in Ottingers Berlin Trilogie fast immer etwas Libertäres, Verbrecherisches, Unberechenbares, etwas von der Tradition der Poètes maudit, von Baudelaire, Mallarmé oder Rimbaud, der sagte: "Ich ist ein Anderer". Am meisten muss ich jedoch an Jean Genet denken. Auch bei Ottinger ist da eine kaum verhohlene Bewunderung der schönen, eleganten Brutalität. Wie Genet zelebriert sie festliche, oft rituelle und zugleich sexuelle Metamorphosen von Körpern. Die Wege von Magdalena Montezumas Freak Orlando sind gezeichnet von Gewalt, Verbrechen, Inquisition, Strafen, Hinrichtungen. Ottingers Schauplätze sind wie bei Genet oft mit der Aura der Halbwelt, der Arbeiterschicht, mit Sexualität und Tod besetzt: Jahrmärkte, Gefängnisse, Bahnhöfe, Kaschemmen, Friedhöfe. Erotik und Homosexualität werden auch bei ihr mit religiösen und mythischen Metaphern verbunden. Ihre Figuren sind Anti-Heilige, Ausgestoßene, die radikale Freiheit, den Bruch mit moralischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Wertbegriffen suchen.
Ottinger machte, ähnlich wie John Waters, sexuelle Misfits zu den Held:innen, die wir brauchten: grausame, lesbische Piratinnen, hedonistische Cross-Dresser, bourgeoise Haute-Couture-Frauen, die sich im zerbombten Kreuzberg vorsätzlich und randalierend zu Tode trinken. Die Berlin-Trilogie ist ruchlos, manchmal grausam, immer ambivalent, unerschrocken und unmoralisch. Dafür wurde Ottinger in den frühen 1980er-Jahren von der feministischen und lesbischen Bewegung in Deutschland angegriffen, in den USA gefeiert.
Trinkerinnengeografie
Das Credo von "Bildnis einer Trinkerin", "Aller jamais retour", war für mich wie für Tausende andere, die in Westberlin landeten, verbindlich. Ich nahm es wortwörtlich. Sätze aus dem Film wie "Sie wollte ihre Vergangenheit vergessen, vielmehr verlassen wie ein abbruchreifes Haus" oder "Leben, um zu trinken, trinkend leben" waren selbsterfüllende Prophezeiungen. Es dauerte nicht lange, da lebte ich wie die Trinkerin im Film, nicht so schick stilisiert und stumm, kein Geheimnis, aber vor allem nachts, im Rausch. Ich ahnte damals nicht, dass ich Alkoholiker werden sollte, eines Tages Tabea in einer Bar bedienen würde, beide besoffen, und sie mich beschimpfen würde, so wie die Trinkerin ihr unsichtbares Gegenüber im Café Möhring.
Ich ahnte nicht, dass ich viel später eine Galerie gründen würde, in der ich ihre Zeichnungen ausstelle, dass sie im Plattenbau in Marzahn leben würde, auch nicht, dass ich jahrelang im Taut-Haus, einem Bauhausgebäude am Oranienplatz arbeiten würde – mit Blick auf Kippenbergers ehemaliges Penthouse-Studio und die Wendeltreppe, auf der die Gesangs-und Partyszene auf dem Dach über Berlin gedreht wurde.
Im ersten Teil der Berlin-Trilogie entwickelt Ottinger eine "Trinkerinnengeografie" für Westberlin, die in unterschiedlichen Kontexten bedeutsam ist. Die Tour der Trinkerin führt in Absturzkneipen, ins Spielkasino, ins legendäre Lesbenlokal "Pour Elle", an Stellen, die damals den queeren, campen Zeitgeist treffen. Natürlich hatte man, im eingemauerten und künstlich am Leben erhaltenen Berlin, auch künstliche oder verborgene Ausflugsziele: die Wasserfälle im Botanischen Garten, den japanischen Pavillon. Man fuhr raus zum Wannsee, um eine Tour mit der MS Moby Dick zu machen, diesem riesigen, etwas aufschneiderischen und auch komischen Stahlfisch. Der Park des Charlottenburger Schlosses war auch ein Ort, an dem man Leute aus dem Nachtleben sah, die dann wie die Adeligen in Peter Greenaways Film "Kontrakt des Zeichners" (1982) in den barocken Gärten herumstolzierten.
Alltägliche Spuren der Gewalt
Aber gab auch ein anderes, noch größeres Interesse damals, nach ephemeren, regelrecht kaputten Orten: halb stillgelegten Industrieflächen, Brachen, in die sich Krieg und Teilung eingeschrieben haben, die man sich aneignen konnte. So viele Flächen in der Stadt waren damals noch nicht bebaut. Ich kann mich erinnern, dass Nikolaus nach unserer ersten Nacht sagte, wir würden picknicken gehen und wir zu einer Brache bei den Yorckbrücken gingen, wo heute, gleich neben dem Eingang zur S-Bahn ein türkischer Imbiss steht. Damals war diese Fläche umgeben von Mauerruinen, eine Art wilder Garten, in dem noch eine Plastiklilie vom Dreh eines Super-8 Films der Tödlichen Doris steckte.
Das Gleisdreieck, das damals noch "Reichsbahngelände" hieß und über das am Ende von "Bildnis einer Trinkerin" Lutze und der Schauspieler Günter Meisner stolpern, war ein solch magischer Ort. Einige der Hallen, Lager und Gleise, waren noch in Betrieb, es gab unzählige kleine Werkstätten, Firmen und Lager auf dem Gelände. Aber weite Teile des Areals waren seit der deutschen Teilung verfallen, voller Ruinen, die langsam mit Birken zuwuchsen, in denen man Schätze wie Maschinenteile, Akten, Büromaterial manchmal auch private Gegenstände aus der Nachkriegszeit finden konnte.
Westdeutschland war fast gänzlich saniert und zugebaut. Doch in Westberlin waren, wie im ganzen Osten Deutschlands, die ganz alltäglichen Spuren von Faschismus und Teilung noch deutlich sichtbar. Und während in der der DDR der Holocaust und die Nazizeit eher eine kapitalistische Angelegenheit waren, entstand auch unter dem Eindruck der Terroranschläge der Rote-Armee-Fraktion in der BRD eine Generation von Künstler:innen, die sich sehr komplex, mit ganz neuen künstlerischen Mitteln mit dem unbewältigten Erbe des Faschismus und den Traumata der Nachkriegszeit auseinandersetzte. Man muss Ottinger als eigenwillige Zeitgenossin von Pina Bausch, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge oder Hans-Jürgen Syberberg sehen, die mit ihrer Position ganz wesentlich an dieser Aufarbeitung beteiligt ist.
Let the Freak Out
So spannt "Freak Orlando" bei Anbruch der neoliberalen Ära von Reagan und Thatcher einen assoziativen Bogen von Inquisition und Kolonialismus über Faschismus und Totalitarismus bis in die Konsumwelt der beginnenden 1980er-Jahre. Dabei werden die historischen Verbindungen nicht chronologisch, sondern multiperspektivisch, in immer wieder neuen Konstellationen beleuchtet. Die Figur des "Freaks" ist seit der Hippie-Bewegung zu einer Art subkulturellem Symbol geworden, Teil einer "Freak-Kultur" mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Der Begriff wird auch verwendet, um die Zeit nach den Hippies und vor dem Punk in den frühen bis mittleren 1970er-Jahren zu beschreiben. Damals bezeichnen sich unterschiedliche Gruppen darunter Hippies, Pazifisten, politische Radikale, Anarchisten oder Fans von psychedelischer und progressiver Rockmusik als "Freaks". Oft sind mit dem Freak auch die nostalgische Idee von Schaustellern und fahrendem Volk aus vergangenen Jahrhunderten, dem Mittelalter, dem elisabethanischen England, dem Barock verbunden. Der Zirkus, das Wandertheater, der Karneval werden etwa wie in "Molière" (1978), dem grandiosen Historienfilm der Theatermacherin Ariane Mnouchkine, seit der als symbolische oder auch reale Orte des Widerstands gesehen – gegen einen autoritären, heteronormativen Kapitalismus, der die Arbeiterklasse und die durchaus auch erotischen, perversen oder derbe Fantasie unterdrückt.
Auch im Feminismus und der beginnenden Schwulenbewegung der 1970er ist diese motivische Verbindung zwischen Freaks und Wandertheater verbreitet, wobei Mythen, Märchen, historische oder fiktive feministische, queere, oder non binäre Held:innen im Mittelpunkt stehen, die häufig Reisen oder Zeitreisen antreten, um eine befreite, erfüllte Identität zu finden. So etwa auch in Irmtraud Morgners DDR-Roman "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura" (1974), der gleichermaßen von der Frauenbewegung In Ost- und Westdeutschland rezipiert wird. Der Feminismus verändert den literarischen Kanon.
Das gilt auch für Virginia Woolfs 1928 in London veröffentlichtem, ihrer Freundin Vita Sackville-West gewidmeten Roman "Orlando". Das Buch erlebt, wie ihr gesamtes Werk und ihr feministisches Manifest "Ein Zimmer für sich allein" (1929) durch die Frauenbewegung der späten 1970er-Jahre eine Neuentdeckung. Woolfs Werk wird in Deutschland erst Mitte der 1960er-Jahre neu übersetzt und gilt lange als gebildeter, feministischer Insidertipp, außergewöhnlich schwer zu lesen. Nicht umsonst spielt der Titel von Edward Albees mit Liz Taylor und Richard Burton verfilmtem Theaterstück "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" (1966) auf diesen Status an.
Die Geschichte des jungen Adeligen Orlando, der im elisabethanischen England des 16. Jahrhunderts aufwächst, in Konstantinopel in einen rätselhaften Schlaf verfällt, als Frau erwacht und dann mit wechselndem Geschlecht zu einer Zeitreise ins moderne England aufbricht, ist bis Ende der 1970er-Jahre in Deutschland einem Massenpublikum kaum bekannt. Erst als er in den USA eine Renaissance erlebt, wird er auch hier vertrauter. Auch als Ottingers "Freak Orlando" 1981 ins Kino kommt, hat der Roman den Mainstream noch nicht erreicht. Das ändert sich dann 1992, durch Sally Potters "Orlando" mit Tilda Swinton in der Titelrolle, der die Rezeption des Buches ankurbelt, das auch zum Film neu aufgelegt wird.
Welcome to the Sideshow
Zugleich spielt Ottingers Film auch auf eine ganz andere Freak-Kultur an. Die ist mit Glam, Punk und Gothic verbunden, weniger politisch korrekt, weniger hippiemäßig, erheblich dunkler. Bereits in den 1970ern erleben Horrorfilme durch den Vietnamkrieg und weltweite Wirtschaftskrisen eine Renaissance. Und dabei guckt man in der Szene nicht nur Filme wie George Romeros "Night of the Living Dead" (1968) oder Tobe Hoppers "Texas Chain Saw Massacre" (1974), sondern auch alte Schwarz-Weiß-Horrorklassiker oder B-Science-Fiction Filme aus den 1930er- bis 1950er-Jahren an. In denen spielen Monster, Aliens und Freaks eine zentrale Rolle – von Frankensteins Braut über Dracula, Werwölfe, Zombies bis hin zu Horrorclowns, entstellten Kreaturen und misslungenen wissenschaftlichen Experimenten. Diese Filme laufen, ähnlich wie John Waters "Pink Flamingos" (1972), in den USA mit großem Erfolg in Mitternachtsvorstellungen. Das gilt auch für "The Rocky Horror Picture Show" (1975), einen Film, der eine Hommage an Rock und diese B-Film Kultur ist und dessen Hauptfigur Dr. Frank-N-Furter ein verrückter, ziemlich scharfer Wissenschaftler ein "Sweet transvestite from Transsexual, Transylvania" ist. Der Film, der zunächst floppt, entwickelt sich zum weltweiten Hit, bei dessen Vorführungen das oft schwule oder lesbische Publikum in die Rollen von Aliens, Freaks und Sexmonstern schlüpft und mitmacht.
Die Mutter aller Freak-Filme und wahrscheinlich ein Werk der Filmgeschichte, das "Freak Orlando" sehr beeinflusst hat, ist Todd Brownings Horror-Film "Freaks", der 1932 in der Großen Depression entstand. Der Film erzählt die Geschichte eines Wanderzirkus, der wie noch viele Zirkusse damals eine sogenannte "Sideshow" hat: ein menschliches Kuriositätenkabinett, in dem Menschen mit allen möglichen Behinderungen und Erbkrankheiten ausgestellt werden und performen: Kleinwüchsige, der Mann ohne Unterleib, die Bartfrau. Der Film erzählt die Geschichte einer Trapezkünstlerin, die ihn heiratet, um das Erbe eines Kleinwüchsigen zu bekommen, und mit ihrem Freund, einem Gewichtheber, ein Mordkomplott schmiedet. Sie verachtet die Freaks zutiefst. Die kommen jedoch hinter ihren Plan und rächen sich schrecklich. Ihr Freund wird getötet und sie von den Freaks verstümmelt und zum krähenden, amputierten Vogel-Menschwesen gemacht, zum wahren Freak, der in einer Box ausgestellt wird.
Dass der Film mit wirklichen Sideshow-Performern mit echten Behinderungen gefilmt wurde, schockierte das Publikum, ebenso wie die grausame Handlung. Der Film wurde mehrfach verboten und wegen der Horrorelemente als "brutal und grotesk" verurteilt. Zur Zeit seiner Erscheinung war er ein Flop. Doch in den 1960er-Jahren wurde er als vergessener Hollywood-Klassiker und Avantgarde-Film wiederentdeckt und – auch wegen seines Mitgefühls für die Freaks – neu bewertet. Das Revolutionäre war, dass Browning die behinderten Figuren nicht nur in der Show, sondern ganz selbstverständlich bei alltäglichen Handlungen und auf Augenhöhe mit den nicht behinderten Schaustellern zeigt. Die eigentlichen Freaks sind die beiden "schönen" Menschen, die rachsüchtig, rassistisch und unmoralisch sind.
Degeneration und Rassenhygiene
Der Film wird heute als ein Appell gegen die Eugenik, die "Erbgesundheitslehre" verstanden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einflussreich war. Der Grundgedanke der Eugenik ist einer "Degeneration" der Gesellschaft oder der "Rassen" vorzubeugen, da in der modernen Zivilisation eine natürliche Auslese fehle und Menschen überlebten, die unter "natürlichen" Bedingungen nicht überleben könnten und "aussortiert" würden. Die Eugenik ist eine sozialdarwinistische Bewegung, bei der es, ähnlich wie in der Tierzucht auch, um eine Verbesserung des Erbguts geht. Dafür wird die Nachkommenschaft von als minderwertig bewerteten Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen durch Empfängnisverhütung, Geburtenkontrolle und Zwangssterilisation dezimiert oder ganz verhindert. Gesunde, und damit angeblich "höherwertige" Menschen sollen hingegen höhere Geburtenraten erzielen und bessere Zukunftschancen bekommen.
Unter den Nazis diente Eugenik unter dem Begriff der "Rassenhygiene" als Vorwand zur Ermordung von Behinderten und psychisch Kranken, zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens", etwa in der "Aktion T4", bei der 70.000 Menschen ermordet wurden, oder der "Kinder-Euthanasie", der Tötung von geistig und körperlich behinderten Kindern, und zu den Menschenversuchen in Konzentrationslagern. Zum "Degenerationskonzept" der Eugenik gehört auch, dass sich "die Träger minderwertigen Erbguts" rascher vermehren als die Träger "hochwertiger Erbanlagen". Das ist eine Vorstellung, die sich auch noch heute nicht nur im Umgang mit Behinderten oder Trans-Menschen, sondern auch mit nicht-weißen Migranten und Geflüchteten widerspiegelt.
Dieser Hass auf Minderheiten, sozial schwache, hilfsbedürftige, Menschen, die nicht rassischen, "religiösen", heteronormativen, "gesunden" Normen entsprechen, ist global auf dem Vormarsch. Angesichts einer neuen, nationalistischen Form von autoritärem Kapitalismus, die an einen Faschismus 2.0. erinnert, in ihrer Ausprägung aber noch jung und unberechenbar ist, bekommt Ottingers "Freak Orlando" neue Aktualität. Mit Brownings "Freaks" hat der Film nicht nur die Auseinandersetzung mit der Eugenik und die Mitwirkung von Kleinwüchsigen gemeinsam, sondern auch eine geradezu programmatische Opazität, den Verzicht auf klare moralische Botschaften. Das Verstörende an "Freaks" ist nicht nur die Grausamkeit, mit der die "normalen" Menschen gerichtet werden, sondern die regressive Freude, die man angesichts dieser archaischen, unbarmherzigen Rache empfindet, die völlig mit der Opferrolle der Freaks bricht.
Unsicheres Terrain
Diese Ambivalenz findet sich ebenfalls in Ottingers Kosmos. Auch die Freaks in "Freak Orlando" sind keine besseren, mitfühlenderen Menschen. Der Film erzählt von Machthunger, Angst, Wahnsinn und Grausamkeit – die der menschlichen Zivilisation immanent sind. Im Kosmos Ottinger gibt es keine "Bösen", keine "Guten", keine reinen "Täter", keine bloßen "Opfer". Heilige werden vom Sockel gestoßen oder zerstückelt. Die Verhältnisse sind komplexer, ungemütlicher, der Blick ist neugierig, nicht urteilend. Als Orlando vor den Toren eines psychiatrischen Landeskrankenhauses auf eine tourende Sideshow trifft, von der er als Mitglied aufgenommen wird, verliebt er sich in den siamesischen Zwilling Lena. Deren andere Hälfte heißt Leni, ist eifersüchtig und nervt. Also ermordet Orlando sie ohne Reue und damit natürlich auch seine Geliebte. Er selbst wird, wie es die Artisten-Tradition gebietet, ruckzuck zum Tode verurteilt. Auch Dorian Gray ist nicht zimperlich. Im Finale des Films richtet er mit einem Klappmesser ein regelrechtes Massaker an und schlachtet Dr. Mabuse und ihre Vorstandsvorsitzenden ab wie Hühner.
Ottingers Berlin-Trilogie hat etwas erfrischend Ruchloses, wenn man diese politisch unkorrekten Filme wieder ansieht. Niemand würde das heute machen, die wasserstoffblonde Tabea Blumenschein mit Federschmuck als indigene Prinzessin auftreten lassen, das ehemalige Supermodel Veruschka als non-binären Dorian-Gray-Dandy zeigen, der von seinem chinesischen Diener "Hollywood" im traditionellen Gewand geflissentlich bedient wird. Die Körperlichkeit, die diese Filme vermitteln, ist atemberaubend, gerade weil sie Grenzen überschreitet. Die Inquisition, die aus voll uniformierten Lederschwulen besteht, wird von Galli, einer kleinwüchsigen Berliner Künstlerin, als Inquisitorin "Galli el Primo" in einem schwarzen Plastikkleid mit Federhut angeführt, vor ihr ein wie eine Dogge bemalter Kleinwüchsiger als Fahnenträger. Ottinger betont vehement, sie habe zum Beispiel in den "Verzerrungsstudien" mit Magdalena Montezuma keine Bezüge zu Bondage oder S-M Praktiken gesucht. Aber in diesen Szenen, wie auch in den fast tranceartigen, sexualisierten Zuständen, die die Lederschwulen bei ihren Prozessionen und Paraden erreichen, ist die Nähe zur Fetischisierung von uniformierter, männlich konnotierter Gewalt kaum zu übersehen.
Natürlich denkt man angesichts der Theatralik, dem Rituellen, dem extrem Stilisierten, Philosophischen in "Freak Orlando" auch an Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit". Zugleich erinnern manche Szenen in ihrer Distanz und offensichtlichen Künstlichkeit an das epische Theater Brechts. Dazu gehört auch die an einer Felsenküste vor dem offenen Meer und in der Wüste auf Fuerteventura gedrehte Opernsequenz in "Dorian Gray", in der es um die (fiktive) Kolonialisierung und Missionierung der "Glücklichen Inseln" (wahrscheinlich der Kanaren) durch den Prinzen Luis de la Cerda im Auftrag von Papst Clemens VI im 14. Jahrhundert geht.
Der Prinz verliebt sich im Film in die indigene Prinzessin Andamana. Die Romanze wird jedoch von der Großinquisitorin beendet, die das Volk der Prinzessin unterjocht. Die natürlichen Landschaften sind in Ottingers Version mit surreal-barocken Kulissenrahmen eingefasst, die Stimmen der Sänger:innen kommen aus dem Off und werden von den Gesten der Akteur:innen fast mechanisch begleitet. Dorian Gray und die Medienchefin Dr. Mabuse treten als Zuschauer:innen auf, sind aber zugleich die Schauspieler auf der Bühne, wobei der narzisstische Dandy auch der koloniale Prinz/Eroberer ist und die Konzernchefin die Inquisitorin. Die kapitalistische Gegenwart blickt also auf ihr koloniales Spiegelbild, eingerahmt von Kunst und Kultur, die Teil des unterdrückerischen Systems sind, aber auch ihr Gedächtnis. Immer wieder zitiert Ottinger klassische Landschaftsmalerei, oder wie in der Goya-Sequenz von "Freak Orlando" Goyas Serie "Schrecken des Krieges".
Die ambivalente Rolle der Kunst, der Moden, des erlesenen, feinsinnigen Geschmacks und die gleichzeitige Faszination für Grausamkeit in der Berlin-Trilogie steht im Wiederspruch zu der heutigen Instagram-tauglichen, affirmativen Kunstwelt, die sich selbst gerne als mitfühlend inklusiv, de-kolonialisierend und solidarisch mit allen Marginalisierten und Unterdrückten sieht – und niemandem wehtun will. Ottinger tut in ihren Filmen genau das Gegenteil, sie begibt sich auf unsicheres Terrain, fast alle Figuren in ihren Filmen befinden sich in einem unlösbaren, moralischen Dilemma. "Die Aufgabe des Ethnologen ist nicht nur, den kolonialisierten Völkern bei der Erlangung ihrer Unabhängigkeit beizustehen, sondern die eigene Entkolonialisierung zu vollziehen, das heißt die eigenen Phantasmen. Phobien, Obsessionen zu beschreiben, sich selbst in der Sprache wiederherstellen, als Kunstfigur." Dieses Zitat von dem französischen Schriftsteller, Surrealisten und Ethnologen Michel Leiris (1901-1990), der für Ottingers Werk ein wichtiger Bezugspunkt ist, trifft auch auf ihre Praxis zu.
Ottinger zeigt in "Freak Orlando" ziemlich grandios, wie der nicht-konforme, "fremde" Körper von faschistischen oder totalitären Systemen mythologisiert, fetischisiert und gleichzeitig verfolgt und vernichtet werden kann. Riesen und Zwerge der nordischen Mythologien wurden im Dritten Reich als Ausdruck germanischer Kultur verehrt, während man Kleinwüchsige im Namen der Eugenik umbrachte. Andersherum, auch das thematisiert "Freak Orlando", kann aber auch der faschistische, soldatische, brutale Körper vom unterdrückten, "queeren" Objekt fetischisiert werden. Wissenschaftler und Intellektuelle können, wie in der berühmten Schwimmbad-Szene, dem "Gastmahl der Verfolgten" in "Freak Orlando", verfolgt, verurteilt, deportiert und ermordet werden. Zugleich bauen sie an Psychiatrien, Schulen, Kasernen, Lagern mit, formen Ideologien und Machtstrukturen. Oder erhalten sie halbherzig und bürokratisch, wie die drei Damen in Pepitakostümen in "Bildnis einer Trinkerin": "Soziale Frage", "exakte Statistik" und "gesunder Menschenverstand". Die Wissenschaftlerinnen versuchen, die ziemlich undurchschaubare, fantastische und brutale Wirklichkeit mit vermeintlich neutralen "Fakten" und Expertentum in den Griff zu bekommen. Das gerät zum Slapstick.
In ihrer Berlin-Trilogie führt Ulrike Ottinger in die Tiefen einer kolonialen, faschistischen, patriarchalen und auch sehr deutschen Geschichte, von der man spätestens in den 1990er-Jahren dachte, sie sei jetzt endgültig aufgearbeitet. Doch jetzt, angesichts des globalen Rechtsrucks, der erbitterten Debatten um Erinnerungskultur, Antisemitismus, Islamophobie, Migration sieht es aus, als käme der Faschismus in einer neuen Form zurück. Und mit ihm eine patriarchale, misogyne, darwinistische Bro-Kultur, die ähnlich wie in Margaret Atwoods "Handmaid's Tale" versucht, die Fortpflanzung und den weiblichen Körper zu kontrollieren, alles unterdrückt und zerstört, was nicht männlich, heteronormativ und binär ist. Es sieht aus, als hätten wir geschlafen, als hätten wir Ungeheuer, Freaks geboren, die wir uns nun genauer ansehen müssen, weil wir mit ihnen feststecken. Wie Ottinger schon damals andeutete, sollte unser Blick nicht nur in den globalen Süden oder auf unsere koloniale Vergangenheit fallen. Wir sollten, wie die Figuren in ihren Filmen in den Spiegel blicken, auf die fantastischen, traumatisierten, grausamen, paradoxen Freaks, die wir sind, und endlich versuchen, diesen Blick auszuhalten.