Wer die Ausstellungsräume im ersten Stock des Kasseler Fridericianums betritt, fühlt sich garantiert beobachtet. An der Stirnwand am Eingang hängt eine eisblaue, LKW-Reifen-große Iris auf runder Leinwand. Die Pupille ist ein tiefschwarzes Loch, das die Blicke ansaugt und ins Bodenlose zieht. Drumherum verlaufen feinste Farbbahnen in Blau-, Grün, und Brauntönen, in der Mitte ein gezackter Kranz, der an eine abstrahierte Blüte oder Sonnenstrahlen erinnert.
Fast ein Dutzend solcher Iriden in verschiedenen Farben und Größen bilden den Auftakt zur ersten deutschen Retrospektive der schwedischen Malerin Ulla Wiggen, die am Wochenende in Kassel eröffnet hat. Nun ist das Auge als Organ des Sehens und "Fenster zur Seele" in der Kunst nicht gerade klischeefrei. Wiggen interessiert sich seit den 2010er-Jahren jedoch auch für die Iris als biometrisches System im digitalen Zeitalter. Schließlich sind die Muster in unseren Augen genauso einzigartig wie ein Fingerabdruck - und machen uns für Maschinen identifizierbar.
Hier kann man auch die Verbindung zum Frühwerk der Künstlerin ziehen, das im nächsten Raum der Ausstellung wartet. Schon in den 60er-Jahren beschäftigte sich Ulla Wiggen, die damals mit einem Pionier der elektronischen Musik verheiratet war, mit dem Inneren von Computern. Allerdings ging es der heute 81-Jährigen dabei nicht um realistische Darstellung (wie Fridericianums-Direktor Moritz Wesseler mit sichtlichem Vergnügen referiert, würde es wohl veritable Kurzschlüsse geben, wenn man versuchen würde, die gemalten Schalt- und Stromkreise nachzubauen). Vielmehr ergeben die farbigen Kabel, Relais und Drähte abstrakte Muster, die manchmal ins Körperliche kippen. Man meint, in den Innenleben von damaligen Superrechnern Darmschlingen, Synapsen oder Spermien zu erkennen. Die Idee eines Cyborgs, der Verschmelzung von Mensch und Apparatur schleicht sich in diese künstlerischen Reflexionen des frühen Digitalzeitalters.
Wiederentdeckung nach langer Pause
Diese Gemälde-Serie machte Ulla Wiggen schnell international bekannt. 1968 war sie unter anderem Teil der legendären - und ansonsten ziemlich männerdominierten - Gruppenausstellung "Cybernetic Serendipity" am ICA in London, die die Synergien von Kunst und Wissenschaft untersuchen sollte. In New York hatte sie schon vorher Größen wie John Cage, Claes Oldenburg und Robert Rauschenberg kennen gelernt. Doch ein Schicksalsschlag bereitete ihrer Karriere ein jähes vorläufiges Ende. Wie auch aus der ausführlichen Biografie Wiggens an den Wänden des Fridericianums hervorgeht, starb ihre Tochter Ellen 1980 im Alter von acht Jahren. Daraufhin stellte Wiggen die Malerei fast vollständig ein und arbeitete vor allem als Psychotherapeutin und in der Kunsttherapie.
Erst drei Jahrzehnte später nahm sie den Pinsel wieder systematisch für sich selbst zur Hand. Sie schuf die ersten der erwähnten Irisbilder und malte außerdem Innenansichten des Körpers, in denen Organe zu surreal anmutenden Farblandschaften werden. Ihre späte Rückkehr auf die große Bühne der Kunstwelt fand unter anderem im New Museum in New York und dem Moderna Museet in Stockholm statt. 2022 zeigte Kuratorin Cecilia Alemani mehrere von Wiggens Schalt- und Augengemälden in der Hauptausstellung der Venedig-Biennale, was sie endgültig ins institutionelle Bewusstsein zurückbrachte.
Die Malerin kann heute als Vermittlerin zwischen einem analogen und einem digitalen Zeitalter in der Kunst gesehen werden. Der Körper zeigt sich als genauso komplex verschaltetes System wie ein Computer. Außerdem scheinen ihre Nieren, Lungen und Gehirne in einem Kosmos zu schweben, der entweder von Sternbildern erleuchtet ist oder in dem pausenlos Neuronen feuern. Man kann Ulla Wiggens Kunst als Blick aufs große Ganze interpretieren, in dem auch Maschinen eine spirituelle Aura haben. Oder aber man sieht die Bilder als Zoom ins Innere, als mikroskopische Ansichten, die selbst von der spezifischen Darstellungsform wissenschaftlicher Werkzeuge geprägt ist.
Tiefes Eintauchen ins Werk einer Künstlerin
Im Kasseler Fridericianum kann man nun mit 60 Werken einen Großteil aller existenten Werke der Künstlein besichtigen. Dabei wird deutlich, dass ihre stets aus akribisch-filigranen Pinselstrichen bestehenden Bilder dann am interessantesten sind, wenn Wiggen sich eine Abstraktion von ihrem Gegenstand erlaubt. Das funktioniert vor allem bei den Computer- und den Körperbildern, die eine ästhetische Mehrdeutigkeit in sich tragen und sich gegenseitig überraschend gut ergänzen.
Dagegen wirken ihre eingestreuten Porträts in Pastellfarben und die akribischen Irisdarstellungen in der Summe etwas brav und schematisch. Insgesamt erlaubt die Ausstellung jedoch ein tiefes Eintauchen in das Schaffen einer Künstlerin, deren Karriere alles andere als geradlinig verlief und die die neue Anerkennung mehr als verdient hat. Gerade ihr Frühwerk trägt für heutige Betrachterinnen eine eigenartige Techniknostalgie in sich und wirkt trotz des Fokus auf vergangene Utopien äußerst zeitgenössisch.
Übrigens sind die Malereien von Ulla Wiggen nicht das Einzige, was man gerade im Fridericianum entdecken kann. Wer seinen Rucksack oder die Jacke im Untergeschoss des Hauses einsperrt, hört einen intensiven Sound durch den Flur zwischen den Schließfächern wehen. Mal ertönt industriell-rhythmisches Stampfen und Klappern, dann wird es melodischer. Bei der Arbeit handelt es sich um eine Komposition von Kai Althoff, die er extra für das Kasseler Ausstellungshaus geschaffen hat. Auf Wunsch des öffentlichkeitsscheuen Künstlers, der bereits 2012 im Fridericianum seinen Absagebrief für die Documenta 13 ausgestellt hat, gibt es keinerlei Hinweise auf das Werk. Wer allerdings wissen will, was er oder sie da hört, kann sich an das ausgeprochen freundliche Personal an der Kasse wenden.