Gruppieren, ordnen, beschreiben: Typologisierung ist der Anfang jeder wissenschaftlichen Forschung. Auch in der Kunst hat diese Methode einen großen Stellenwert. Das Ausstellungsplakat der Fondazione Prada zeigt einen Mann mit Hut, der sich in einem Fahrstuhl unbeobachtet wähnt. Er ist Teil einer Serie von Schwarzweiß-Aufnahmen des bislang wenig bekannten Fotografen Heinrich Riebesehl, der heimlich Mitfahrende ablichtete.
Die Geschichte der Typologisierung in der Fotokunst – warum wendet sich eine Institution wie die Fondazione Prada jetzt diesem Thema zu? "Die Ausstellung und der Katalog bringen die Geschichte des Mediums in einen zeitgenössischen Kontext", schreibt Miuccia Prada in der Publikation zur aktuellen Schau. Klassifizierung war bereits 2020 Thema, als Trevor Paglen und Kate Crawford die Ausstellung "Training Humans" dazu konzipierten, wie Künstliche Intelligenz menschliche Gesichter verarbeitet und Stereotype füttert.
Die Wissenschaftlerin Crawford wurde gerade ins Leitungskomitee der Fondazione berufen. Die systematische Bestimmung durch digitale Technologien löse emotionale Reaktionen in der Gesellschaft aus, schreibt Prada weiter. Und sie will sich ihnen mit fotohistorischem Wissen stellen. Dass die 75-jährige Designerin und Unternehmerin KI-generierte Bilder und Material von Überwachungskameras in Beziehung zu dieser gründlich recherchierten Ausstellung setzt (ohne dass diese Teil der Präsentation wären), zeigt, was für eine engagierte und intellektuelle Mäzenin Miuccia Prada ist.
Eine ziemlich deutsche Angelegenheit
Fotohistorisch ist es eine ziemlich deutsche Angelegenheit. Das Erfassen, Festhalten, Einsortieren kann etwas Rigoroses haben. Doch bei Karl Blossfeldt, Bildhauer und Fotograf der neuen Sachlichkeit, und seinen Pflanzenstudien aus dem 19. Jahrhundert ergibt sich aus der formalen Strenge gerade auch die Poesie. Man sieht den Original-Abzügen das Staunen über das damals neue Medium noch an.
Die andere große Künstlerfigur ist August Sander, der mit seiner fotografischen Serie "Menschen des 20. Jahrhunderts" den Anspruch verfolgte, unterschiedslos alle abzubilden. Auf einer Begegnung mit Sander begründen Bernd und Hilla Becher später ihr eigenes konzeptuelles Œuvre: nämlich Industriebauten in systematischer Nüchternheit abzufotografieren. Als Professoren an der Düsseldorfer Akademie werden die Bechers zu Multiplikatoren dieses künstlerischen Objektivismus: Die berühmte, nach ihnen benannte Schule mit Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth, alle Protagonisten einer neuen Fotokunst, ist prominent in der Ausstellung vertreten.
Von Struth gibt es, neben seinen berühmten großformatigen Familienporträts, auch eine frühe Schwarzweiß-Serie von Vorbeilaufenden an seinem Atelierfenster zu sehen. Indem er die Belichtungszeit bei jedem Bild verlängert, kommt die zunehmende Bewegungsunschärfe einer Beschleunigung gleich - bis die Passanten verwischen und zu entfliehen scheinen.
Die Unmöglichkeit der Vollständigkeit
Im elegant auf schwebenden Wänden installierten Ausstellungsparcours folgt darauf eine Sequenz aus Wolfgang Tillmans "Concorde"-Serie, einer von vielen feinen kuratorischen Übergängen, die Susanne Pfeffer gesetzt hat. Tillmans‘ Einfangen dieser Techno-Utopie, längst selbst wieder historisch, ergänzt die Ausstellung um einen wichtigen Aspekt: Die sich auf jedem der großen Papierabzüge weiter entfernende Überschallmaschine verdeutlicht die Unmöglichkeit der Vollständigkeit, gesteht die Vergeblichkeit mit ein. Und beharrt darauf, es dennoch zu tun.
Der Sortierzwang lässt sich gut ad absurdum führen, wie Sigmar Polke in seiner Palmen-Serie zeigt: Seine Kategorisierung dieser Fernweh-Pflanze der Deutschen bezieht sich auf selbstgebastelten Nonsens – Glaspalme aus Trinkbeschern, die Handschuh-Palme aus schwarzen Gummi-Überziehern, so setzt er die Artenstudie fort. Typologien lassen sich sehr gut gegen sich selbst verwenden.
Das weiß auch Hans-Peter Feldmann, der "Alle Kleider einer Frau" Stück für Stück auf Polaroid bannte; als ließe sich etwas über die mysteriöse Spezies herausfinden, wenn man es nur sachlich genug anstellt. Typologisierung kann lustig sein, und sie kann sich auch lustig machen. Susanne Pfeffer lässt Feldmanns Arbeit klug mit Marianne Wex‘ Untersuchungen von männlicher und weiblicher Körperhaltung in der Öffentlichkeit korrespondieren.
Kann Objektivität zu weit gehen?
Kategorien behaupten immer Erkenntnis, und Hans-Peter Feldmanns "Die Toten" unterläuft das grandios. Die Serie zeigt alle Todesopfer der RAF – die der Anschläge sowie die getöteten Terroristen. Kann Objektivität zu weit gehen? Die andere Frage wäre, ob diese Objektivität nicht immer schon nur Behauptung war.
Im oberen Stockwerk sind die Menschen nicht mehr unfreiwillig Gegenstand typologischer Betrachtungen, sondern werden zu Teilnehmern. Die Reihung von rund 80, größtenteils originalen Abzügen von August Sander sind in vieler Hinsicht zwingend. Sie betonen im respektvollen Umgang mit jedem Individuum – vom politischen Häftling über den Kohlearbeiter bis zum Nazi-Offizier – eine große Gemeinsamkeit - auch wenn natürlich gerade die Unterschiede der reizvolle Aspekt dieses epochalen Lebensprojekts sind. Das liegt in der Natur der Typologisierung.
Aber was ist in unserer Natur, das uns den Hang zum Sortieren verleiht? Adorno fand diesen in seinen "Studien zum autoritären Charakter". Nachdem Thomas Ruff in Düsseldorf seine Mitmenschen porträtierte und die neutralen Gesichter auf ungewohnte Größe brachte, kamen Künstlerinnen wie Rosemarie Trockel oder Isa Genzken auf andere Ideen: Trockels Porträts von Hunden und Genzkens Serie von weiblichen Ohren (van Gogh, die Blaupause des männlichen Künstlergenies, lässt grüßen) können als Widerspruch gelesen werden: eine augenzwinkernde Strategie gegen die sich in ihrer Versachlichung über alles stellenden Künstlerkollegen.
Eine Ausstellung, die ihr Scheitern mitdenkt
Denn da ist eine potenzielle Grausamkeit, die in Typologien liegen kann. Das Entweichen allen Lebens aus jedem Blatt, jedem Stängel, jeder Blüte, sobald sie aufgespießt und festgenagelt wurde. Das Fixieren von Merkmalen zugunsten einer Beweisführung, dass etwas oder jemand so sei, und nicht anders. Die Ausstellung wendet sich der pseudowissenschaftlichen Rassenlehre der Nazis nur indirekt zu, nämlich über Gerhard Richters "Atlas".
Pfeffer suchte zwei Aspekte aus diesem Künstlerarchiv heraus: Zum einen die Fotografien der überwältigenden Landschaft in Sils Maria, die Richter selbst aufnahm. Zum anderen die gesammelten Fotos aus den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, zum größten Teil von den Tätern selbst aufgenommen. In beiden Fällen scheitert die Methode. Weder für die Schönheit noch für die Unmenschlichkeit gibt es adäquate Beweisführungen. Auch dass die Ausstellung "Typologien" das letztendliche Scheitern der Methode mitdenkt, macht sie so eindrucksvoll.