Schau über Grenzüberschreitung im HKW

Ein Ort, wie es ihn vorher nicht gab

Die Ausstellung "Forgive us our Trespasses" im Berliner Haus der Kulturen der Welt will marginalisierte Gruppen von Schuldzuweisungen lossprechen. Der Parcours ufert thematisch aus, geht ästhetisch aber trotzdem auf

"Und vergib uns unsere Schuld", heißt es im deutschen Vaterunser-Gebet, mitgebrummt von Generationen von Christen. Das Englische formuliert anders: Hier heißt die Stelle "Forgive us our Trespasses", statt um Schuld geht es um das Überschreiten von Grenzen. 

Beiden Bedeutungsfeldern will die Schau "Forgive us our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld" im Berliner Haus der Kulturen der Welt auf die Spur kommen, mit der Intendant Bonaventure Soh Bejeng Ndikung sein über mehrere Jahre angelegtes Cluster aus Ausstellungen und Veranstaltungen zum Thema "Heimaten" weiterführt. Ein Ziel dabei ist, den Zusammenhang von "Trespasses" im Sinne des Überschreitens von Grenzen und "Schuld" zu entknoten: Eine Person, die Grenzen überschreitet, die marginalisiert und ausgeschlossen wird, brauche nicht um Vergebung zu bitten, so eine der Thesen der Schau. 

Die Idee ist von einer geradezu nerdigen Schönheit – nicht allzu oft werden Ausstellungskonzepte aus Übersetzungsfragen generiert. Doch die philologische Präzision verliert sich schnell. Die Grenzüberschreitung wird sehr weit gefasst und generell als Abweichung von der Norm verstanden: Es gehe um religiöse, soziale, klassenbezogene, nationale, sexuelle, disziplinarische und andere Formen des Überschreitens und Übertretens, so heißt es. 

Einmal alles, bitte!

Will sagen: Einmal alles, bitte! Man sollte also keinen allzu stringent argumentierten Parcours erwarten, wenn man sich in die weitläufige Ausstellung begibt und sich, wie immer im HKW, aus Ermangelung an Wandtexten durch das Begleitbuch blättert und mühsam anhand der Raumzeichnungen die realen Räume navigiert. Hatten wir erwähnt, wie unpraktisch das ist? 

Der Textildruck von Shehzil Malik am Eingang der Ausstellung zielt recht direkt auf sein Thema: "Tribute to World Refugee Week" zeigt ein farbenprächtiges Tableau mit Menschen, die in langen Reihen oder auf überfüllten Booten brennende, unter Bombardement stehende Städte verlassen. Durch ein Papierportal von Mariana Castillo Deball, mit einer von Azteken gern benutzten Farbe aus Kakteen rot gefärbt, tritt man in die große Halle, die ebenfalls von der Künstlerin gestaltet wurde. Sie hat einen der wenigen präkolonialen Kalender aus Mexiko, die die Vernichtung durch die Kolonisierung überstanden hat, auf den Boden übertragen. 

Die Füße auf dem Beleg des Epistemizids, der brutalen Vernichtung von Wissen, den der Kolonialismus in aller Welt mit sich brachte, kann man dann in zahlreiche verschiedene Geschichten und Gegenden der Welt eintauchen. Sim Chi Yin aus Singapur untersucht mit Filmen und zurückhaltenden Installationen aus alten Fotografien die Geschichte British-Malayas – ihr Großvater wurde von der britischen Kolonialverwaltung deportiert und später in China hingerichtet. 

Den modernistischen Dogmen die lange Nase drehen

Alfredo Esquillo Jr. aus Manila hat eine Kanone aus Bambusorgelpfeifen gebaut, die auf ein Gemälde von Meereswellen gerichtet ist – das Mahnmal für tödliche Attacken chinesischer Wasserkanonen auf philippinische Fischer kann auch Musik machen. Patricia Gomez und María Jesús González aus Valencia haben mit der Sorgfalt von Restauratoren Spuren von Menschen aus Lagern für Migrantinnen und Migranten freigelegt – in Wände eingeritzte Worte, Telefonnummern, Stoßgebete. Weniger dramatisch, dafür aber schön anzusehen: Tanja Ostojic, im serbischen Uzice geboren, hat einen Menopause-Schwimmkalender mit feinen Linien auf ein Tuch gestickt - und plädiert für Schwimmen als hormonelle Ausgleichsaktivität. 

Im zweiten großen Raum der Ausstellung, offensiv schwarz gestrichen, geht es weiter mit dem frei assoziierten Ritt durch die Themen, Weltgegenden und Jahrzehnte, mit der mächtigen gestickten Königsfigur des Nigerianers Viktor Ehikhamenor und dem ornamentalen Feminismus von Dorothy Iannone zum Beispiel. Oder mit den starkfarbigen, grafisch-flächigen Gemälden der Balinesin I Gusti Ayu Kadek Murniasih (Murni), die in den 1990er-Jahren verschlossene, mit Zähnen bewaffnete Vulven malte und damit Unfruchtbarkeit und Krankheit thematisierte. Oder auch mit einem großformatigen Gemälde einer finsteren Spinne von Leiko Ikemura aus den 1980ern, in dessen monsterhaft vervielfältigen Häuptern man alle Schrecken dieser Welt vermuten könnte, oder auch allen Widerstand.

Das alles geht im Kopf etwas durcheinander, ästhetisch aber insgesamt irgendwie auf, was auch an der Ausstellungsarchitektur liegt, oder der gesamten Anmutung des Gebäudes. Mit dem Beginn der Intendanz von Ndikung hat es sich in ein Gesamtkunstwerk verwandelt, das den modernistischen Dogmen die ornamentale lange Nase dreht. Das Ergebnis ist eine sehr eigene Mischung aus Rätselhaftigkeit und einladender Atmosphäre, aus politischem Engagement, harscher Kritik, ästhetischer Opulenz und, ja, guter Laune – ein Ort, wie es ihn vorher in Deutschland nicht gab.