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Wie das Los Angeles Philharmonic seinen 100. Geburtstag feiert

Vier Tage dauerten die Auftaktfeierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen des Los Angeles Philharmonic, für die Medienkünstler Refik Anadol die Walt Disney Concert Hall in eine Welt aus Licht tauchte. Florian Werner war für Monopol in der Stadt, in der Träume produziert werden

Träume. Der Begriff fällt so häufig an diesem lauen kalifornischen Spätsommerabend, dass der geneigte Galabesucher irgendwann nicht mehr sicher ist, was er eigentlich bedeutet. Oder liegt es an dem fliederfarbenen Signature-Drink, der eigens für den Abend kreiert wurde und entsprechend großzügig gereicht wird? "WDCH Dreams" heißt die Lichtinstallation von Refik Anadol, "Die Walt Disney Concert Hall träumt", und der junge Medienkünstler aus Istanbul wird hernach zu Protokoll geben, dass hier ein Traum für ihn in Erfüllung geht, a dream come true, was sonst, er strahlt dazu wie ein Honigkuchenpferd.

Verständlich. Gerade hat der sagenhaft charismatische Dirigent der Los Angeles Philharmonics, Gustavo Dudamel, die Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen des Orchesters eingeläutet; der in Würden ergraute Doors-Drummer John Densmore persönlich hat bei einer orchestralen Version von "L.A. Woman" die Trommelstäbchen geschwungen, während Chris "Coldplay" Martin den toten Jim Morrison channelte.

Danach nahm die illustre Festgemeinde auf dem Oberdeck eines zur Open-Air-Lounge umfunktionierten Parkhauses gegenüber der Konzerthalle Platz, um Anadols Beitrag zum Centennial zu bestaunen. Eine Viertelstunde lang brachten flirrende Videosequenzen den Stahlkorpus des Gebäudes zum Leuchten, begleitet von einem aus unzähligen historischen Klangbrocken amalgamierten Soundtrack. Die massiven, tagsüber bisweilen aggressiv gleißenden Oberflächen des Gehry-Gebäudes wurden unter den Projektionen fluide, brüchig, als hätte sich der San-Andreas-Graben aufgetan, um die Konzerthalle von ihrem Thron auf dem Bunker Hill in Richtung Pazifik zu spülen.

Mal schlängelten Bildströme aus der Geschichte des Orchesters über die Außenhaut, mal schien das Gebäude sein Gerippe offenzulegen, dann wieder blitzten Neuronenimpulse auf, Assoziationsketten wie Liebesperlen, aus denen sich wimpernschlagschnell Orchestermitglieder schälten oder legendäre Dirigenten der Vergangenheit: Zubin Mehta, André Previn, Esa-Pekka Salonen. Und immer wieder Dudamel, den hier alle nur "Gustavo" nennen und so innig lieben, dass ihm jede Karriere zuzutrauen wäre; sollte er jemals für das Amt des amerikanischen Präsidenten kandidieren, hier wäre das passende Billboard, um seine Bewerbung zu plakatieren.

Doch die Frage bleibt: Wie bringt man ein Gebäude zum Träumen? Zumal wenn es erst 15 Jahre alt ist, die glorreiche Geschichte, von der es träumen soll, die aber satte hundert Jahre umfasst, mithin viel älter ist als die hypnagogische Architektur. Die kalifornische Antwort: Man tut sich mit dem "Artists and Machine Intelligence"-Programm von Google zusammen und digitalisiert erst einmal das gesamte Orchesterarchiv, 40 000 Stunden an Audioaufnahmen, dazu knapp 600 000 Bild- und 1800 Videodateien - ein technologisches Erhabenes, das sich von keinem Gebäude oder Menschen mehr umfassen lässt, weshalb Refik Anadol es gleich von einem artifiziellen neuronalen Helferlein zu Traumsequenzen verknüpfen ließ.

Es ist also streng genommen nicht das Gebäude, das träumt, sondern ein Computer; konsequent, da ja auch das menschliche Gedächtnis zunehmend in externe Speichermedien ausgelagert wird. Werden künstliche Intelligenzen dereinst für uns die "Traumarbeit" (Sigmund Freud) übernehmen? Träumen Konzerthallen von musikalischen Schafen? Mögliche Bedenken, die Zusammenarbeit mit einem allmächtigen Internetkonzern betreffend, erscheinen hier so fern wie das frische europäische Herbstwetter. "Data made beautiful" lautet Refik Anadols Parole; das Verhältnis zwischen ihm und dem digitalen Assistenten sei ähnlich wie ehedem das zwischen einem Renaissancemaler und seiner Werkstatt.

Natürlich arbeitet er auch mit menschlichen Intelligenzen zusammen. Nicht zuletzt mit Frank Gehry, der die Walt Disney Concert Hall von Anfang an als dreidimensionale Leinwandassemblage konzipiert hatte; Anadols Installation erfüllt also eine Vision, die bereits in der DNA des Gebäudes angelegt ist. Wenn es nach dem Willen des Architekten ginge, würden Konzerte, während sie im Leib des Gebäudes stattfinden, zeitgleich auf seine Haut projiziert: eine Verschränkung von Innen und Außen, wie sie in der südkalifornischen Architektur allenthalben anzutreffen ist, man denke an das Eames House in Santa Monica oder die luftigen Villen von Rudolf Schindler. Die Rolle, die dort die großzügigen Schiebetüren und Fenster spielen, übernehmen bei Gehry/Anadol die winzigen Scheiben der Videoprojektoren.

Und dann, zwei Tage nach dem Kick-off zu den Hundertjahrfeierlichkeiten, öffnet sich die Walt Disney Concert Hall tatsächlich ihrer Umgebung: Ein Open-Air-Auftritt der Philharmoniker macht den Anfang, danach ergießt sich ein Strom von abertausenden Angelenos zu Fahrrad, Skateboard und Roller in die Stadt, die Straßen sind für den Autoverkehr gesperrt, 1 500 Musikerinnen und Musiker ersetzen den Motorenlärm. Angeführt von der wummernden High School Marching Band aus einer berühmt-berüchtigten Gangsta-Rap-Metropole im Süden geht es – nein, nicht straight inna Compton, sondern nordwestwärts. Runter vom Bunker Hill in die endlosen "Ebenen des Es", wie der englische Architekturtheoretiker Reyner Banham sie nannte: in die Niederungen des Los Angeles-Beckens, wo die Triebe, die Musik, das Verdrängte toben. Drei Streicher der Philharmoniker gondeln auf einer Rikscha durch die Straßen von Westhill und spielen das Thema von "Love Story". Im MacArthur Park schwitzt ein mexikanischer Wanderprediger in der Hitze und brüllt wie ein Besessener "Gloria! Gloria! Gloria!" Die Pastorin einer koreanischen Freikirche steht am Wilshire Boulevard und tutet in ihr Saxofon. Ein paar Kilometer weiter, aber Lichtjahre entfernt, swingt derweil Wynton Marsalis.

Abends in der Hollywood Bowl werden dann wieder die Los Angeles Philharmonics auftreten, aufgepimpt durch Gaststars wie Herbie Hancock, Terrace Martin und Katy Perry. Und als zum Finale des Abends plötzlich der 86-jährige John Williams aus der Kulisse tritt und unter dem Sternenhimmel von Hollywood das Titelthema von "Star Wars" dirigiert, so kraftvoll, dass es auch unten im Tal, wo die Träume fabriziert werden, noch zu hören sind – und wenn dann Hancock und Perry plötzlich auf offener Bühne anfangen, sich mit Lichtschwertern aus Plastik zu duellieren – dann erscheint das ganze Gerede von träumenden Gebäuden, Menschen und Maschinen, das zwei Tage zuvor noch etwas strapaziert gewirkt hatte, mit einem Mal absolut realistisch.