Tom McCarthy, in Ihrem neuen Buch "Schreibmaschinen, Bomben, Quallen" schreiben Sie über Künstler und Schriftsteller, aber genauso viel über Theorie aus dem letzten Jahrhundert. Sind Sie nostalgisch?
Ich hoffe, dass da nichts nostalgisch ist! Das Wort "Theorie" ist mir verdächtig. Das benutzen Kritiker, um alles auszusortieren, was nicht dem Massengeschmack entspricht. Aber das ist falsch. Alles ist Theorie, nur manches ist schlechte Theorie.
Auch Literatur?
Wenn Jacques Derrida oder Roland Barthes 50 Jahre früher geboren wären, dann hätten sie Romane geschrieben. Was sie machen, ist Literatur.
Was wäre Derrida heute? Künstler?
Wahrscheinlich. Literatur steckt größtenteils im kommerziellen Realismus fest, beinahe so, als wäre das Erbe des literarischen Modernismus von der Kunstwelt aufgenommen und weiterentwickelt worden. Es gibt ein paar interessante Schriftsteller, aber es gibt mehr gute Künstler.
Ihr Debütroman "8 1/2 Millionen" liest sich wie eine Anleitung zum Kunstschaffen.
Darüber habe ich mit meinem Freund und Kollaborateur Rod Dickinson gesprochen, in dessen Arbeit es immer um Reenactments geht, wie in dem Roman. Ich fragte ihn, ob das Sinn ergibt.
Und?
Er sagte Nein. Wenn der Held ein Künstler wäre, dann wäre das ganze Buch ein einziger Arbeitstag. Was er macht - alles nachspielen: Schießereien, Banküberfälle -, hat etwas von Kunst, aber auch von Terrorismus.
Das Buch wurde vom Videokünstler Omer Fast verfilmt und als Konzeptkunst behandelt.
Das Buch wurde von jedem Verlag abgelehnt, bis die Kuratorin Clémentine Deliss es in Paris als Teil eines Kunstprojekts publizierte. Es wurde überhaupt erst durch die Kunstwelt möglich.
In Ihrem letzten Roman "Satin Island" steht viel, was man über den Spätkapitalismus wissen muss. Ist das schon die Geschichte?
Literatur heißt nicht, einfach nur eine Geschichte zu erzählen. Peyman, eine Figur in dem Roman, ist Kopf eines Beratungsunternehmens, das Regierungen und Firmen hilft, "ihre Geschichte zu erzählen". Peyman fantasiert über das Buch, den großen Bericht, der alles über unsere Gesellschaft enthält. Die Idee habe ich von Stéphane Mallarmé. Aber für U, den Erzähler in dem Roman, geht es in seiner Arbeit als Hausanthropologe der Firma um etwas Grundlegenderes: Wie die Arbeiter, die nachts Gleise reparieren, setzt Peyman die Welt in Bewegung. Indem er ihr Bedeutung gibt.
Mallarmé sagte im 19. Jahrhundert, dass alles existiere, um in einem Buch zu landen. Wo landet das alles heute?
Wenn Mallarmé vom Buch spricht, stellt er sich seine Form aufgebrochen vor, über andere Medien verteilt. Wenn man heute sagt: Klar, das ist das Internet, liegt man wohl nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig.
Wieso?
Weil das Buch immer noch kommen muss. Selbst "Satin Island" verweist auf ein anderes Buch, das stattdessen hätte geschrieben werden sollen. Irgendwas fehlt immer.
Mallarmé und Werbung - hat der Kapitalismus alles gefressen, was mal Avantgarde war?
Ich habe mir diese Welt nicht ausgedacht. Mein Cousin arbeitet für eine Beratungsfirma, und er setzt den Kunden Deleuze vor. Surrealismus wurde zur Bildsprache der Werbung, die Cut-up-Experimente von William Burroughs und Brion Gysin wurden zu MTV. Künstler schweben nicht über allem. Die Dinge sind verbunden.
Wir haben über Bücher gesprochen. Aber das Internet ist ja ein ganz anderer Maßstab. Nur Maschinen können …
… das ganze Internet lesen? Das fragt sich U in "Satin Island". Erst denkt er, das große Buch kann nicht geschrieben werden, dann stellt er fest - noch schlimmer -, dass es schon von Software geschrieben wurde.
Ein Problem für Schriftsteller.
Da wird es zum theologischen Problem. Denken sie an Trevor Paglens Bilder der NSA-Gebäude, dann an die Kaaba in Mekka. Diese riesigen schwarzen Kästen sind sich sehr ähnlich. Die NSA hatte alle Informationen, um 9/11 zu verhindern - aber sie konnte sie nicht lesen. Digitale Kultur macht Schrift nicht überflüssig, sondern rückt sie ins Zentrum: als Aufschreibesysteme und als Archive.