Abrechnung mit der Biennale

Tod in Venedig

Venedig, dieses untergehende, überlaufene, künstlich am Leben gehaltene Disneyland, ist der Inbegriff der kultivierten Dekadenz. Zur Biennale läuft das Kunstvolk alle zwei Jahre einer vergangenen Idee von Bedeutung nach und hat keinerlei Vision für die Zukunft. Eine Abrechnung


1. Auf der Suche nach der verlorenen Dekadenz

Ich kann mich jetzt nicht genau entsinnen, ob da nun "I am a Slut" oder "I am a Bitch" auf dem Designerschal des Kurators stand, der vor dem Abflug in Tegel zum Klo rannte, um sich noch mal die Nase zu pudern. Ich plauderte mit einem Bekannten, der einen ganz guten Off-Space leitet, aber endlich mal richtig große Künstler zeigen will. Seine Auswahlkriterien blieben rätselhaft, aber es fielen lauter weltberühmte Namen. Ich fragte ihn, was er denn gedenke, während der Vorbesichtigungstage der Biennale in Venedig zu tun. Er antwortete: "Feiern auf der Terrasse des Hotel Bauer und jeden Abend mindestens zehn Visitenkarten mit richtig guten Kontakten einsammeln, vielleicht von Marian Goodman oder so." Diese Terrasse ist der Ort, wo sich während der Preview der Biennale alle treffen. Da fliegen schon mal leere Champagnerflaschen und glühende Kippen aus den Hotelzimmern.

Bis der Flug dann endlich eine Stunde zu spät losging, kam es noch zu einem regelrechten Namensinferno. Natürlich nur die Vornamen, wie üblich. "Die Julia!" Oft weiß man nicht, ob die Person weltberühmt, ein Assistent, ein Hund oder ein Kind ist. Doch immer signalisiert dieser Name Nähe, Zugehörigkeit, eine gewisse Macht. "Ich stand mit Massimiliano (Gioni, Künstlerischer Leiter des New Museum, New York) in der Schlange, wir mussten alle anstehen." In diesem Ratespiel geht es darum, ob jemand einer von uns (Kunstwelt, voll im Business) oder denen ist (alle, die nicht so wichtig sind). Falls man nun wirklich nicht weiß, ob "Richard" Richard Long (Bildhauer) oder Richard Armstrong (Direktor der Solomon R. Guggenheim Foundation) oder einfach nur die neue Flamme des Gegenübers ist, reicht auch affirmatives Nicken.

Jede Onlineredakteurin will Aperol Spritz schlürfen

Abchecken beim Einchecken gehört zu den Ritualen des Kunstbetriebs, aber wird nirgendwo so kultiviert wie anlässlich der Venedig-Biennale. Die ist nicht nur, wie so gerne gesagt, eine "Kunst-Olympiade". Sie ist auch ein Festival der Repräsentation, das an Gesten, Hierarchien und Codes of Conduct durchaus mit den sozialen Regeln der französischen Bourgeoisie in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mithalten kann.

Der Zwang, etwas darzustellen, erreicht bei den Vorbesichtigungstagen in Venedig seinen Höhepunkt. Jede Onlineredakteurin will hier Aperol Spritz schlürfen, mit Sammlern und Kuratoren im Kerzenschein dinieren oder mal aus dem Wassertaxi fallen. Denn Venedig, dieses untergehende, überlaufene, künstlich am Leben gehaltene Disneyland, ist der Inbegriff der kultivierten Dekadenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der anbrechenden Moderne, die räumliche Manifestation des "Außerordentlichen", die Thomas Manns Schriftsteller Aschenbach in "Der Tod in Venedigso anzieht: "Was er suchte, war das Fremdartige und Bezuglose, welches jedoch rasch zu erreichen wäre. [...] Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man? Aber das war klar." 

Einsamkeit mit Papillon-Hündchen

Man kennt dieses Lebensgefühl aus der Visconti-Verfilmung oder den Fotos von Peggy Guggenheim, der Ultima Dogaressa von Venedig, die einsam mit exzentrischer Sonnenbrille und ihren Papillon-Hündchen auf einer Privatgondel über den Canal Grande treibt. Das reenactment dieser verloren gegangenen Dekadenz treibt das Kunstvolk an den Eröffnungstagen mehr um als die Kunst.

Das ist nicht neu. Seit Jahrzehnten wird darüber geschrieben und gemeckert. Und dank Instagram können jetzt auch die Zuhausegebliebenen Food-Porn, Sonnenaufgänge vor dem Excelsior oder die Suite von Sammlerin Julia Stoschek anschauen, während die Welt zur Hölle fährt. Doch noch nie war für mich dieses "Fremdartige und Bezuglose", dieser Wunsch, sich im märchenhaft Abweichenden von der ordinären Welt abzugrenzen, so deutlich zu spüren wie auf dieser Biennale.

Wir leben im Zeitalter des Niedergangs und der Krise, wahrscheinlich wird die Zivilisation, wie wir sie kennen, demnächst ausgelöscht – daran lässt die von Ralph Rugoff, dem Direktor der Londoner Hayward Gallery kuratierte Hauptausstellung "May You Live In Interesting Times" kaum Zweifel. Dabei legte er, anders als seine Vorgänger, eigentlich kein dezidiertes Thema für seine Schau fest. Der titelgebende, angeblich chinesische Fluch, den ein britischer Abgeordneter in den 1930er-Jahren als nonchalantes Bonmot für permanente Krisen und Katastrophen etablierte, ist tatsächlich frei erfunden, reine Fiktion. Die Kunst solle für sich selbst sprechen, sagt Rugoff, sei "keine Nachricht, die wir schnell entziffern und verstehen können". Sie solle sich davor hüten "Phänomene des Neoliberalismus und Rassismus aus einer Position des Aktivismus heraus anzugehen." 

Man möchte fragen, ja, warum eigentlich? Während jedes Schulkind auf die Straße geht, könnten die Künstler das ja ruhig auch mal tun, streiken zum Beispiel, aufhören die Villen der Reichen mit bedeutungsschwangerer Dekoration zu versorgen, damit sie sich kultiviert und auf der richtigen Seite fühlen – egal, woher das Geld für die Kunst nun kommt. Man könnte aber auch einfach mal durchatmen und sagen: Wie toll, endlich Luft. Hier wird die Kunst nicht dazu missbraucht, Ideen, Ideologien, politische oder wissenschaftliche Fakten zu illustrieren.

Besoffene, prekäre Männerwelt

So viel Luft lässt ihr diese Ausstellung dann aber doch nicht. Im Arsenale signalisiert einem George Condo, einer der teuersten Blue-Chip-Künstler der Gegenwart, wo es gerade langgeht: Auf seinem riesigen Gemälde Double Elvis halten zwei besoffene, struppige Penner ihre Flaschen und gigantischen Schwänze in der Hand und prosten sich zu. It’s a man’s world, und diese Welt ist prekär, besoffen und kaputt. Gleich daneben hängt Soham Guptas Fotoserie "Angst", nächtliche, höllische Aufnahmen der Ärmsten der Armen in Kalkutta. Um die Ecke riesig aufgeblasene Selbstporträts der südafrikanischen Fotokünstlerin Zanele Muholi, die sich als lesbische schwarze Frau in den verschiedensten stereotypen Rollenbildern inszeniert – als schwarz geschminkte "Blackfacing"-Figur einer Minstrel-Show oder im improvisierten traditionellen Kostüm, wie aus dem Fotoalbum eines kolonialistischen Volkskundlers. Diese Bilder begrüßen einen links und rechts vom zentralen Durchgang in die Ausstellung, wie Rummelplakate, die kommende Attraktionen ankündigen. Überall, auch im anderen Teil der zentralen Ausstellung, in den Giardini, blickt einen dieses "Andere" der früheren weißen Mehrheitsgesellschaft von häufig fantastisch inszenierten Fotografien an.  

Der Auftakt zur Schau in den langgezogenen Hallen der ehemaligen Seilfabrik spricht von dystopischer Entfremdung, Verlorenheit, Verlust: Ed Atkins digital animierte, im toxischen Regen weinende Kinder, die aus einem "Game of Thrones"-Videospiel stammen könnten. Zu sinnlosen "Transformer"-Robotern zusammengeschweißte oder zersägte Motorradteile, Pflanzen, die durch Plastikplanen brechen, Kim-Kardashian-Kanye-West-Barbiepuppen, die an die Sklaven in "Westworld" erinnern.

Der dialektische Teppich wird weggezogen

Dazwischen fesselnde Erinnerungen an die Realität: Etwa Arthur Jafas mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnetes, beunruhigendes "White Album". Es geht nicht um eine Hommage an die Beatles, sondern um die Hautfarbe. In der 40-minütigen Found Footage-Montage aus YouTube- und Musikvideos, Überwachungs- und Drohnen-Aufnahmen, News- und Filmsegmenten reflektieren Männer und Frauen ihr "Weiß-Sein" in Monologen oder rassistischen Hassvideos und Gewalttaten.

Jafa verzichtet auf stakkatoartige Schnitte und zwingt die Zuschauer mit verführerisch choreografierten Sequenzen und extremen Nahaufnahmen, einen Blick auf die Repräsentationen des Weißen zu werfen. Dabei erinnert sein komplex gesampeltes Werk tatsächlich an ein Konzeptalbum, das einen auf eine emotionale Reise mitnimmt, aber gleichzeitig auch immer das Medium, die Komposition selbst, reflektiert, formale Distanz hält und unsere Vorstellungen von uns selbst und dem "Anderen" nicht bestätigt, sondern einem dialektisch den Teppich unter den Füßen wegzieht.

 

2. Der Friedhof der Kuscheltiere

Solche harten und zugleich befreienden Momente, solche neuen Erzählformen sind aber eher rar in der Biennale-Ausstellung. Viele vage angedeutete Endzeitstorys reihen sich in mit rohem Sperrholz-Paneelen verkleideten Kojen zu einer geschmackvoll kuratierten, assoziativen Meta-Erzählung. Zwischen Messeflair und modernistischem Baumarkt-Look wird signalisiert, der Untergang sei bald da, aber man solle sich doch schon mal mit schönem Schauer in den Verhältnissen einrichten.

Das deutet auch der von Lara Favaretto in Kunstnebel eingehüllte zentrale Pavillon in den Giardini an, der an das "House of Usher" in einen Roger-Corman-Film erinnert. Am Eingang empfängt einen ganz programmatisch die "It’s Over" betitelte Wandarbeit des New Yorker Künstlers Antoine Catala. Dann durchläuft man Ryoji Ikedas Installation "Insta spectra III",  einen weißen, von grellem Licht durchfluteten Flur, der mit seinem psychedelischen Effekt an Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" erinnert – es gibt keine Tageszeit, keine Jahreszeit mehr, nur noch das künstliche, transformierende Licht der neuen Ära der Technologie. Im Inneren des Pavillons dann regelrechte Gothic-Szenarien. In einem runden, abgedunkelten Raum, den Danh Vo mit riesigen, in Bronze- und Goldtönen bemalten Spiegeln ausgekleidet hat, flackert Cyprien Gaillards Hologramm "L'Ange du foyer (Vierte Fassung)", eine Neuinterpretation von Max Ernsts 1937 entstandener, gleichnamiger Gemäldeserie, die angesichts der Bombardierung von Guernica im Spanischen Bürgerkrieg entstand.

Das verlassene Museum der Zukunft

Jeder, der häufiger Science-Fiction schaut, wird dieses Motiv kennen: Das verlassene Museum der Zukunft, in dem nur noch wackelige Hologramme vom Schicksal der ausgelöschten Menschheit zeugen. Und dann ist da auch der Käfig für die Bestien, das Gefühl von Weltausstellungen Ende des 19. Jahrhunderts. Nur dass in diesem Glaskäfig ein gigantischer, einarmiger Roboter hockt, der vergeblich versucht, mit einer Art Fensterwischer eine riesige rötliche Lache zusammenzuschieben, die wie eine Mischung aus Blut und Bratensoße aussieht.  "Can't Help Myself" heißt die Arbeit der chinesischen Künstler Sun Yuan und Peng Yu, die im Arsenale noch einen anderen Sci-Fi-Publikumsmagneten hingezaubert haben: Den leeren Marmorstuhl des Lincoln-Memorials in Washington, aus dem ein mit Pressluft angetriebener Schlauch herauszischelt, der wie ein schlangenartiger Alien um sich schlägt und gegen Plexiglasscheiben donnert.

Die Demokratie ist kopflos, hirnlos, ersetzt durch eine fremde, aggressive Macht. Die Ängste vor künstlicher Intelligenz, vor Kontrollverlust, dem Wegfall von Arbeitsplätzen, der Auflösung von sozialen Strukturen werden hier in dekadenten, surrealen Bildern zusammengefasst, die in ihrer Mischung aus High-Tech und viktorianischer Nostalgie auch aus Filmen wie "Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind" stammen könnten.

Manche Kritiker meinten, dass die Ausstellung mit ihrem Verzicht auf einen expliziten roten Faden einer Kunstmesse gleiche. Dabei vermittelt sie ziemlich konsequent eine Botschaft: "Es ist zu spät, der Zug ist abgefahren, wir sind machtlos politischen, technologischen, ökonomischen Systemen ausgeliefert, die sich auf unheimliche Weise verselbstständigt haben – wie auch der Kunstbetrieb." Viele der bedrohlichen Bilder, die hier angesichts der "interessanten Zeiten" erschaffen wurden, kommen einem unheimlich vertraut vor – weil sie in der Unterhaltungsindustrie schon längst wie ein Untergangs-Mantra bedient werden. Auf Netflix ist jede zweite Neuproduktion entweder eine Komödie oder sie ist dystopisch, erzählt von der Machtübernahme von Außerirdischen, Konspirationen, dem Zerfall der Gesellschaft, totalitärer Medienüberwachung. Und immer ist es der Rückzug ins Private, die Familie, der dann das Überleben garantiert.

Man begräbt Hans Haacke und heraus kommt Natascha Süder-Happelmann

Mit diesem Déjà-Vu-Gefühl ist es ein bisschen so wie mit der recycelten Dekadenz der Kunstszene. Man kommt sich vor wie auf einem kapitalistischen Friedhof der Kuscheltiere. Man begräbt die Identitätspolitik der 1980er und 1990er, und heraus kommt diese irgendwie entmutigende Gothic-Schau. Man begräbt Hans Haacke, und heraus kommt Natascha Süder Happelmann. Man beerdigt die exzentrische Marchesa Casati, und heraus kommen schlecht gelaunte, geliftete Erbinnen und Oligarchenfrauen. Man buddelt die queere Bohème des anbrechenden 20. Jahrhunderts ein – und heraus kommen Hipster in "Vetements"-Klamotten mit den Manierismen schlecht gelaunter, gelifteter Erbinnen und Oligarchenfrauen. Irgendwie sieht das so ähnlich aus wie das, was man begraben hat. Aber es ist schrecklich verkehrt. Oder wie es in der Werbung für die aktuelle Verfilmung des Kuscheltierfriedhofs heißt: Sometimes dead is better.

Tatsächlich ist Stephen Kings Horror-Roman eine Geschichte über Verlust, die Unmöglichkeit loszulassen, den Versuch, Trauer durch einen äußerst fragwürdigen Ersatz zu stillen, ganz egal, wie zombiemäßig der nun ist. So wie bei King Menschen ihre Katzen und Kinder in unheiliger Erde begraben, um ihre innere Leere zu füllen, werden auf der Biennale Träume, Tabubrüche oder Utopien von einer alternativen Gesellschaft verscharrt und durch häufig fadenscheinige Surrogate ersetzt. Die gesamte Veranstaltung vermittelte an den Eröffnungstagen das Gefühl, es gebe trotz aller Krisen und Katastrophen einfach keine Alternative zu der bestehenden Gesellschaft, nichts Neues zu denken oder zu erfinden.

Knäckebrot im Meer von Alkohol

Dabei schneiden die Künstler alle nur erdenklichen heißen Themen an: Migration, Ökologie, die Kämpfe um Gender, Hautfarbe und Political Correctness, neue Technologien, post-humanes Denken. Warum also so unzufrieden und vermeckert, wo doch alles da ist? Liegt es vielleicht daran, dass ich nicht mehr trinke? Auch das fällt auf der Biennale auf, die Leute müssen Unmengen von Alkohol und Drogen konsumieren, um die Kunst und sich gegenseitig auszuhalten. Ich sitze in solchen Situationen immer etwas altbacken da, wie Liv Ullmann in Ingmar Bergmans "Herbstsonate", weil ich einfach nicht in den Groove komme, sondern die Situation knäckebrottrocken sehe. Ja, vielleicht bin ich einfach eine alte Grufti-Else und sehe das alles zu pessimistisch, dachte ich mir: Da gehe ich doch mal schnell rüber in Natascha Süder Happelmanns "Ankersentrum" im deutschen Pavillon, etwas Hoffnung tanken. Vielleicht findet sich ja hier eine neue Form von künstlerischem Aktivismus?

 

3. Keine Utopie, nirgends

In Süder Happelmanns Installation gibt es zwei durch eine Staumauer getrennte Welten. Da ist die vielstimmige Klanginstallation "Tribute to whistle" auf der einen Seite, die sich auf die Signale der Trillerpfeifen bezieht, mit denen sich Geflüchtete gegenseitig vor der Festnahme warnen. Man könnte aber natürlich auch an die Pfeifen an den Rettungswesten denken. Auf der anderen Seite des Staudamms ein rotziges, versiegendes Rinnsal, eine Spur aus Steinen. Der Staudamm spielt unter anderem auf das utopische Atlantropa-Projekt des Bauhaus-Architekten Herman Sörgel an. Der wollte in den 1920er-Jahren an der Straße von Gibraltar das Mittelmeer stauen, um Energie und Neuland zu gewinnen und die Kontinente Europa und Afrika zu vereinen. 

Doch die Frage ist hier in der Installation: Auf welcher Seite stehst du? Bist du drinnen? Bist du draußen? In oder Out? Die stellt Süder Happelmann auch in den Videos auf der Website des deutschen Pavillons: Mit unheilvoll dräuenden Jazzklängen unterlegt, läuft sie mit ihrem berühmten Steinkopf an den Zäunen bayerischer Ankerzentren, Tomatenanbaugebieten in Süditalien, wo Geflüchtete ausgebeutet werden, an Rettungsschiffen vorbei. Die Videos wirken entfremdet, verloren. Sie machen ratlos. Sie verdeutlichen das Dilemma dieser lebenswichtigen Frage, wer nun rein darf oder draußen bleiben muss, das von den Bewohnern der Festung Europa tagtäglich verdrängt wird. In der Logik dieser Festung sind Geflüchtete wie Menschenmaterial, das verteilt, ausgesperrt oder nützlich gemacht werden muss. Das ist merkwürdigerweise derselbe Mechanismus, mit dem wir Tieren das Beseelte, Gefühle, das Denken absprechen, um unsere Verbrechen an ihnen zu ertragen. Wenn wir uns Geflüchtete als Menschen vorstellen würden, so wie unsere Familien oder Freunde, würden wir sie nicht ertrinken lassen, sondern selbst ins Wasser springen, um sie zu retten.  

Verbissen im Steinkopf

Und dass die Künstlerin selbst nun als hartes, anonymes Material, ein Brocken aus der Festung Europa vielleicht, daran vorbei streift wie eine futuristische Walter Benjamin-Flaneurin, öffnet tatsächlich etwas, verunsichert. Es zeigt unsere eigene Härte und trifft einen zarten, ganz wichtigen Punkt. Doch dieser Effekt versiegt wie ein Rotze-Rinnsal angesichts der Verbissenheit, mit der die Kunstfigur Natascha Süder Happelmann und ihre Presssprecherin Helene Duldung sich bemühen, auf der "richtigen" Seite zu stehen – und dabei noch den PR-geilen Kunstbetrieb zu bedienen. Süder Happelmann, auch das ist in den Medien zu lesen, ironisiert mit ihrem Steinkopf die Identitätsdebatten der Gegenwart, "indem sie sich Zuschreibungen als So-und-so-Stämmige entzieht und Identität zu etwas Fluidem erklärt, das sich erst im Kontakt mit anderen bildet." Na ja. Zu dieser Strategie gehört auch, dass sie keine Interviews gibt, sondern stattdessen mit abstrakten, seismografischen Grafiken antwortet, die alles oder nichts bedeuten können. In der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und anderen wichtigen Publikationen wurde das als ziemlich funky abgefeiert, auch die Idee, dass Künstler keine Identität mehr haben und so auch nicht als Marke funktionieren.

 

Doch Süder Happelmann beweist genau das Gegenteil. In ein paar Jahren wird keiner mehr über diese Installation sprechen, aber wahrscheinlich einige noch über die "Künstlerin mit dem Steinkopf". Allein in der Printausgabe von Monopol war dieser Kopf auf einer einzigen Seite auf vier Fotos abgebildet, er ragte als Erkennungsmerkmal aus allen Feuilletonseiten heraus. Dabei richtet sich sämtliche Aufmerksamkeit auf die Person der Künstlerin selbst, so wie auf Lady Gaga, die jahrelang mit blonder Perücke und Sonnenbrille rumrannte, um anonym zu wirken und trotzdem im Gedächtnis zu bleiben.

Es ist die alte Popkultur-Strategie: Als ich in den frühen 1980ern noch klein war, hatte niemand natürliche Haarfarben oder wirkliche Namen. Alle trugen Sonnenbrillen und logen über ihre Identität. Meine Lieblingsband The Residents trug riesige Plastikaugäpfel auf dem Kopf, mit Zylindern oben drauf. Und dabei war unser Ego gewaltig, arrogant und selbstgerecht. Aber immerhin lustig.

Egomanes Theater, völlig humorfrei

Das Presse-Theater von Frau Süder Happelmann und Frau Duldung ist genauso egoman, allerdings völlig humorfrei. Die Duldung sieht im Lotte-Lenya-Wave-Kostüm mit rotem Lippenstiftmund aus wie eine burschikose Streberin. Sie verliest bei der Eröffnung des Pavillons mit theatralisch bebender Stimme einen Absatz aus Rosa Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals": "In seinem Drange nach Aneignung der Produktivkräfte zu Zwecken der Ausbeutung durchstöbert das Kapital die ganze Welt, verschafft sich Produktionsmittel aus allen Winkeln der Erde, errafft oder erwirbt sie von allen Kulturstufen und Gesellschaftsformen."

In solchen Momenten fragt man sich, aus welcher Warte dieser Steinkopf eigentlich agiert, wenn er mitten in diesem raffgierigen kapitalistischen Kunstspektakel die Kritik einer der bedeutendsten Marxistinnen und Antimilitaristinnen vorlesen lässt. Wo sieht sich die Künstlerin selbst? Natascha Sadr Haghighian, die Natascha Süder Happelmann erfunden hat, wird von der König Galerie, einer der mächtigsten und erfolgreichsten Galerien in der Festung Europa, vertreten.

Das ist noch lange kein Grund, keine Kritik an dem turbo-kapitalistischen System zu üben – zu dem auch ihre Galerie gehört. Doch man sollte vielleicht, wenn schon marxistisch argumentiert wird, auch die eigenen Produktionsbedingungen thematisieren. So wie alle globalen Mega-Galerien bedient auch diese Galerie vor allem Superreiche, von denen wohl kaum jemand ein wirkliches Interesse hat, etwas an den aktuellen Zuständen zu ändern, von denen sie profitieren. Auch die Galerien selbst dürften daran kein großes Interesse haben. Denn dieses System macht diese wenigen Galeristen, die weltweit verstreute Dependancen haben, sowie ihre Künstler zumindest sehr wohlhabend. Wahrscheinlich wird eine Biennale-Künstlerin wie Sadr Haghighian ihrer Galerie nicht soviel Umsatz bringen wie andere, marktaffinere Künstler, aber sie ist gut für das Image. Nicht nur, weil sie kritisch ist, sondern weil ihr Aktivismus im Kunstbetrieb, diesem Friedhof der Kuscheltiere, relativiert wird. Er wird immer symbolisch, stellvertretend, eine Ersatzhandlung für wirklichen Aktivismus bleiben – sonst wäre es ja keine Kunst mehr, oder?

Mangel an Fragen und Vorschlägen

Das schale Gefühl, das diese Biennale hinterlässt, liegt nicht an dem Mangel an "guter Kunst". Es liegt an dem Mangel an Fragen oder Vorschlägen, die in diesen "interessanten Zeiten" ermutigen oder helfen könnten, mehr Mitgefühl zu entwickeln, zu handeln. Würde das Kunstvolk das Krisenthema und die Endzeiterzählungen dieser Biennale ernst nehmen, würden sie, anstatt vergangenen Dekadenz-Träumen nachzuhängen, versuchen, aus dieser hermetischen Kunstwelt auszubrechen, um gemeinsam mit dem Rest der Welt den Planeten zu retten.

Doch das will oder kann hier keiner, obwohl sich auf der Biennale ein unglaubliches kreatives Potential und ökonomische Macht sammeln, die tatsächlich zu entscheidenden gesellschaftlichen Änderungen führen könnten. Gerade jetzt, wo wir uns der historischen Aufgabe stellen müssten, sagt der niederländische Historiker Rutger Bregman in seinem Buch "Utopien für Realisten", wo wir diese eigentlich reicher, sicherer und gesunder gewordene Welt mit Sinn erfüllen müssten, um die Armut abzuschaffen, den Klimawandel aufzuhalten, die Grenzen zu öffnen, beerdigen wir stattdessen die Utopie: "Wir haben keinen neuen Traum, durch den wir sie ersetzten können, weil wir uns keine bessere Welt vorstellen können, als die, in der wir heute leben. Der Horizont bleibt leer. Das Land des Überflusses ist in Nebel gehüllt." Was wieder an den Nebel erinnert, der den zentralen Pavillon der Biennale einhüllt oder aus Laure Prouvosts Installation im französischen Pavillon wabert. 

Der Betrieb feiert noch immer vor allem sich selbst

Dies seien nicht "interessante Zeiten, sondern die letzten Tage", postuliert Adrian Searle, der prominente Kritiker des "Guardian", als Fazit seiner Besprechung der Biennale. Wir seien mit unserem Lebensstil alle an dem drohenden Untergang der menschlichen Zivilisation beteiligt, besonders der herumjettende Kunstbetrieb, schreibt er über "Sun and Sea", der mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Strandoper im litauischen Pavillon. Hier schauen Besucher vom ersten Stock auf eine künstliche Strandszene im Erdgeschoss eines alten Marinegebäudes hinunter, wobei einfache Menschen sich auf dem Sand sonnen, spielen und singen: von Klimawandel, Artensterben und der eigenen Endlichkeit.

Doch wenn das Ende bereits gesungen und vertanzt wird, warum zelebriert der Kunstbetrieb immer noch vor allem sich selbst wie schon auf zig Biennalen zuvor? Warum hört das nicht auf, dieses Rum-Repräsentieren, das betont Exklusive, das narzisstische Benehmen? Woher kommt dieses Interesse an prekären Themen in der Kunst und dieses gleichzeitige Abgetrennt-Sein von der Realität, das ich selbst auch immer wieder empfinde? Wieso guckt man angerührt auf singende Performance-Touristen herunter, während man die dicken Paare in Freizeitkleidung, die mit ihren billigen Rollkoffern durch die Gassen von Venedig keuchen, abfällig, ohne jedes Mitgefühl betrachtet? Woher die Unfähigkeit, sich mit derselben Offenheit der Realität, der Show direkt vor der eigenen Haustür zu stellen?  

Venedig, echt jetzt

Diese Bewusstseinsspaltung betrifft nicht nur die Reichen, die das Raumschiff Kunst finanzieren, sondern auch die Zulieferer von Ideen und Diskursen. Die müssen beim Eintritt in diese Szene anscheinend eine Art Gelübde ablegen, dass sie die Realität aus einer abgehobenen, weltfremden Perspektive betrachten. Das wurde mir neulich beim Lesen des Facebook-Posts eines jungen Kurators klar, der sich selbst als Sozialist bezeichnet. Er habe richtig italienisches Street Food in Venedig gegessen, billig und "Working-Class-gut". Alle im Laden hätten venezianisch gesprochen. Aber er habe wirklich lange laufen müssen, um den zu finden. Jede Sekunde würde Venedig weiter gentrifiziert. Er habe mit Einheimischen gesprochen, die erzählten, es sei so schwierig zu überleben, ohne billigen Glasramsch zu verkaufen oder schlechte Restaurants zu eröffnen. Es sei echt traurig, solche Geschichten zu hören.

Dieser Mann glaubt tatsächlich, allein durch seine sozialistische Einstellung würde er sich mit den Venezianern solidarisieren und nicht wie eine Million anderer Touristen die Stadt kaputtgentrifizieren. Er glaubt tatsächlich, er wäre ein Verbündeter der Einheimischen, während er dasselbe tut wie die Manufactum-Mutti oder der Schraubenfabrikant – die mit ihren Montessori-Kindern im Schlepptau durch die Stadt jagen, um schön dekadent das letzte authentische Working-Class-Restaurant zu finden, bevor es schließt, oder eine Attraktion für reiche Amerikaner wird: "Unser Fahrer hat uns diesen tollen Tipp gegeben – und es waren nur Einheimische drin!"

Die Festung in der Festung

Merkwürdigerweise glauben wir alle, auf der richtigen Seite des Staudamms zu stehen. Auch im Hinblick auf die letzten Tage würden uns Sonderkonditionen eingeräumt, es würde uns schon nicht treffen, uns ein abgeschottetes Resort zustehen, sei dies nun materiell oder geistig. Die globale Kunstszene, die sich hier auf der Biennale trifft und präsentiert, kultiviert eine doppelbödige Abschottung gegenüber der Welt, sie ist eine Festung in der Festung. Während Frau Süder Happelmann in ihren Videos draußen vor den Festungen und Ruinen Europas rumläuft, ist sie auch auf der anderen Seite der Mauer, mittendrin wie wir alle, die mit diesem Betrieb zu tun haben. Kunst, wird immer so schön gesagt, verbindet unterschiedliche Menschen und Kulturen. "Ja, unsere Welt ist reich an unterschiedlichen Kulturen. Aber Kunstwerke sind auch in der Lage, diese Unterschiede zu überwinden", sagt Ralph Rugoff dann auch in der aktuellen Ausgabe des "Kunstforums". Doch Kunst, wie sie gerade produziert, gehandelt, vermittelt wird, das macht diese auch Biennale deutlich, ist eher ein Mittel der Abgrenzung, ein Ersatz für wirkliche Begegnungen, wirklichen Austausch, für dringend notwendigen Wandel.

In der etablierten Kunstwelt gelten dieselben Regeln für die Menschen wie für die Ware Kunst. Sie müssen auf irgendeine Weise eine exklusive Aura haben, sonst funktioniert das System nicht. Das machte auch jüngst Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr in einem Kommentar deutlich, in dem es darum ging, warum die meisten Kunstkritiker in Venedig eine Guerilla-Straßenaktion von Banksy übersehen haben. Sie schreibt: "Moderne Kunst ist eben das, was das Kunstsystem als Kunst ausstellt. Was kein Label hat, nicht in irgendeiner Galerie steht, nicht Teil einer Ausstellung ist, keine Signatur eines anerkannten Künstlers hat, gilt nicht als Kunst. Und anders kann dieses seltsame, gleichzeitig so freie und so streng reglementierte System der zeitgenössischen Kunst auch gar nicht funktionieren." Das bedeutet praktisch, die Welt, also alles, was nicht Kunst ist, kann zwar von der Kunstwelt hineingeholt werden in die Festung, aber nicht einfach ohne Branding hineinkommen, ganz wie im wirklichen Leben. 

Ein völlig unberechenbarer Gast

Das Fantastische an dieser (ersten wahrhaft globalen) Biennale aber ist ein völlig unberechenbarer Gast: Christoph Büchels "Barca Nostra", das Wrack des 2015 vor Lampedusa gesunkenen Flüchtlingsbootes, auf dem über 800 Menschen umkamen. Die Ausstellung dieses Wracks löste allgemeine Empörung aus, es wurde Büchel Zynismus vorgeworfen, weil er dieses Wrack quasi als Skulptur in den Kunstmarkt einschleusen würde. Doch bei diesem Wrack ist es völlig unklar, ob es nun Kunst ist oder nicht. Es spielt auch schlichtweg keine Rolle. Auch wenn Büchel oder irgendjemand anders so geschmacklos sein sollte, es zu vermarkten, wäre es trotzdem autonom. Es ist unmöglich für den Kunstbetrieb, diese Ruine für sich zu vereinnahmen. In Venedig schlug es faktisch einen Riss in den Staudamm, genau wie der wegen der Staatskrise geschlossene venezolanische Pavillon. Beides verdeutlichte viel mehr noch als der deutsche Pavillon, wie sehr der Kunstbetrieb den Kontakt zur Wirklichkeit, auch seiner eigenen, verloren hat.  

Man kann nur hoffen, dass die nächste Biennale hoffnungsvoller, zupackender, offener wird. Diese ist in ihrem vagen, surrealen Pessimismus, ihrem Recyceln von alten Dekadenzfantasien geradezu entmutigend. Warum, machte mir eine Rede klar, die die Aktivistin und demokratische US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez in den Staaten hielt – fast zeitgleich mit den Eröffnungstagen der Biennale. Es ging dabei um den von ihr vorgeschlagenen Green New Deal, der einen radikalen Energiewandel fordert und ihn mit sozialer Gerechtigkeit verknüpft. Sie sagte darin: "Unsere Geschichte ist geschrieben. Aber nicht unsere Zukunft. Wir haben alle Möglichkeiten der Welt, diese zu ändern. Dass wir zynisch über unsere Zukunft werden, ist genau das, was unsere Gegner wollen. Sie wollen, dass ihr denkt, es sei zu spät. Sie wollen, dass ihr denkt, dass die Zukunft schon geschrieben ist. Sie wollen, dass ihr denkt, die Macht sei schon zu sehr aus dem Gleichgewicht geraten, um noch etwas zu ändern. Ich bin hier, um euch zu sagen, dass all diese Behauptungen falsch sind."

Die Rezensionen der Monopol-Redaktion zur Venedig-Biennale finden Sie in unserer aktuellen Printausgabe