Die Ideen-Kolumne

Ungelegte Eier (16)

Vor der nächsten Corona-Welle hatte Friedrich von Borries Besuch von zwei jungen Theatermachern: Tobias Frühauf und Philipp Wolpert erzählen dem Monopol-Kolumnisten über ihre Oper der produktiven Überforderung

Man muss die Feste so feiern, wie sie fallen. Die nächste Corona-Welle naht, ich habe mich aus der Stadt aufs Land geflüchtet. Die beiden Theatermacher Tobias Frühauf und Philipp Wolpert sind zu Besuch. Vielleicht haben Sie von den beiden noch nicht gehört; mit 23 und 26 Jahren sind die beiden auch noch sehr jung, leiten aber seit zwei Jahren das Theaterlabel "Tacheles und Tarantismus" mit Sitz in Heilbronn und haben dort eine eigene Off-Bühne, das Theaterlabor Stilbruch. Aber sie sind auch sonst unterwegs, ihre Trapoper "Ubu" war dieses Jahr im Schauspiel Dortmund zu sehen, und hätte es kein Covid-19 gegeben, wären sie in die Kantine am Berghain in Berlin weitergezogen.

An den beiden finde ich aber nicht nur interessant, dass sie Techno, Hip-Hop und klassische Repräsentationsformen zusammen- oder auch durcheinanderbringen, sondern dass sie das alles als radikale Autodidakten tun. Tobias Frühauf, der in dem Team für Text und Dramaturgie verantwortlich ist, hat nach seiner Lehre als Industriekaufmann die Abendschule besucht, um noch Abitur zu machen, sein Studium aber abgebrochen, um sich voll und ganz dem Schreiben zu widmen. "Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich selbst gefunden habe", meint er. Aufgewachsen in der fränkischen Provinz, lange gefangen zwischen ADHS-Diagnose und Ritalin-Verweigerung, hat er sich die Kulturwelt, die Literatur, das Theater selbst erschlossen. Was dabei herauskommt, kann man gut in seinem "Taz"-Blog nachvollziehen, wo er seit 2018 unter dem Titel "Gnu" literarische Grotesken veröffentlicht. Inzwischen haben die Eltern seinen Weg, so sagt er, "weitestgehend" akzeptiert.

Der etwas jüngere Philipp Wolpert sagt, dass er es einfacher hatte. Seine Eltern, ein Krankenpfleger und eine Sekretärin, "haben mich von Anfang an unterstützt". Er hat als Kind Gitarre und Schlagzeug gelernt, bekam Gesangsunterricht und "keinen Ärger, wenn ich mal eine schlechte Note nach Hause brachte". Aber auch er brauchte auf seinem Weg Unterstützung von außen. Dass er nicht die Haupt-, sondern die Realschule besuchte, verdankt er Lehrern, die in ihm ein Potential gesehen haben, von der Realschule machte er dann den Sprung in die gymnasiale Oberstufe und schließlich das Abitur. Mit zwölf Jahren komponierte er sein erstes Musical, mit 13 führte er zum ersten Mal Regie, dann bekam ein Musikstipendium des Landes Baden-Württemberg. Nach dem Abitur machte er Regieassistenzen, unter anderem am Schauspiel Stuttgart – und entschied sich dann gegen ein Regiestudium, weil er lieber zusammen mit Tobias Frühauf selber loslegen wollte. Wenn er von sich erzählt, hört man, dass er Stolz auf das ist, was er schon erreicht hat – und dankbar für die Menschen, die ihm dabei geholfen haben.

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Die beiden sind radikale Autodidakten, und als Hochschullehrer finde ich das total faszinierend. Sie sind aber nicht Autodidakten aus Überheblichkeit, sondern eher aus Not. Und so hässlich der Ausdruck "bildungsferner Hintergrund" auch ist, beschreibt er dennoch ganz gut ein Dilemma der Bildungsgesellschaft. Manche junge Menschen, die sich für Kunst interessieren, bekommen durch das Elternhaus einen Vorsprung, während andere sich den Weg in die Kunst selbst erarbeiten und erkämpfen müssen.

Das also der Hintergrund, eigentlich geht es in diesem Text ja um ungelegte Eier. Das Ei, an dem die beiden jungen Theatermacher brüten, heißt "Sperrstunde" und schlüpft Ende das Jahres im Stadtpalais in Stuttgart. In der Koproduktion mit dem Schauspielhaus Stuttgart geht es um soziale Gerechtigkeit und um die großen Zukunftsfragen. Tobias Frühauf und Philipp Wolpert wollen Modelle des menschlichen Zusammenlebens erforschen und veranstalten dazu über drei Tage im Foyer des Museums ein Techno-Theater, in dem interdisziplinär, interaktiv und partizipatorisch gelebt, gefeiert und verhandelt wird.

Dazu schaffen sie eine fiktiven Clubraum, in dem es eine riesige Blase gibt, die Zuschauer von Akteuren trennt, die Grenzen von Fiktion und Realität sollen post-faktisch aufgehoben und hinterfragt werden. Ist die Party, ist die Ekstase eine Form von Hedonismus oder eine Möglichkeit der Katharsis? Tobias Frühauf und Philipp Wolpert untersuchen, ob die Party eine positive Utopie ist, in der Anarchie möglich ist, und laden deshalb neben Zuschauern auch Experten ein, die mit den 20 Schauspielern und Musikern interagieren sollen. Das ganze Projekt, so ihr Gedanke, soll für alle Akteure eine produktive Überforderung sein – Schauspieler, Techniker, Kamerateams müssen 48 Stunden am Stück performen,weil, so ihre Hoffnung, Extremsituationen unbekannte Energien freisetzen.

Das und viel mehr erzählen sie, wir sitzen zwei Stunden zusammen und machen dann noch einen Spaziergang. Ich verstehe nicht alles, weil ich keine Ahnung habe, was ein Techno-Theater ist (kann ich mir noch vorstellen) und was eine Trap-Oper (irgendwas mit Hip-Hop), aber ich finde die Energie, die von den beiden ausgeht, absolut überzeugend. Ich habe zugesagt, dass ich nach Stuttgart komme – und bin gespannt, welche Form von Ekstase mir die Party in der Blase ermöglicht.

Zucchini