Tim Lienhards Tagebücher

Ungebremstes Interesse am Leben

Der Blick des Reporters Tim Lienhards auf die Welt ist wach und einfallsreich. Ein großartiger Beobachter, der viel über Kunst und Mode weiß. Jetzt veröffentlicht er Auszüge aus seinen Tagebüchern

100 Texte aus seinen 500 Tagebüchern kündigt Tim Lienhard unter dem Titel "Paradiesfrüchte" an. Doch dann fallen zuerst einmal die geglückten S/W-Fotomontagen aus Fundstücken des täglichen Zeitungs- und Zeitschriftenkonsums ins Auge. Da treffen Alpenpanoramen auf Autoreifen, und chinesisches Porzellan harmoniert mit einer rätselhaften Stoffbespannung. Im farbigen Mittelteil des sorgfältig und liebevoll gestalteten, in schönes rosa Leinen gebundenen Bandes folgt auf die nackten antiken Heroen ein zweifacher, erotischer Blick auf einen rasierten Nacken.

Tim Lienhard ist kein bildender Künstler, doch die Collagen, die wie die Texte aus den 500 Tagebüchern stammen, sind gelungen. Sie sind kein Beiwerk, sondern wesentlicher Teil seiner Notizen und verraten, worin die Stärke des Filmregisseurs, Fernsehautors und Arte-Reporters liegt: Tim Lienhards Blick auf die Welt ist wach und einfallsreich. Ein großartiger Beobachter, verfügt er über die nötige Bildung, ob in Sachen Kultur oder Mode und Lifestyle. Dazu kommt eine Portion kultivierter Snobismus, vor allem aber ein absolut ehrliches, ungebremstes Interesse am Leben und an den Menschen, insbesondere den schönen Knaben. Und er hat er die Mittel, seine Beobachtungen auch sprachlich überzeugend zu vermitteln. 

"Sehr französisch, sehr Paris. Ein junges Paar nahm Platz, mit Einkaufstüten. Er höchsten 25 Jahre alt, mit vollen Locken, sehr viel Haar, … Sie in schicker Unordnung … Ein Purple-Girl, Olivier Zahm, der Herausgeber dieser hippen Mode-Zeitschrift, hätte sie gemocht. … Das eigentlich Köstliche an diesem Paar aber war ihre Beschäftigung. Sie konsumierten. Und zwar das, was sie auf ihrem samstäglichen Streifzug durch die Boutiquen und schicken Kaufhäuser von Paris gefunden hatten. … Als es den beiden zu frisch wurde im Schatten, der langsam über die Bank in den Garten des Palais Royal zog, wechselten sie auf die Brüstung des Springbrunnens. Dort wirkten sie genauso zierlich, verspielt, süß und kostbar wie all die Waren, die ihnen eine vergnügliche Zeit bereitet hatten", so lesen sich ein paar Sätze aus dem Eintrag Nummer 19.

Gedankenspiele und philosophischen Überlegungen

Eine vergnügliche Zeit bereiten solche Paradiesfrüchte ganz gewiss der Leserschaft, die über ähnliche Gaben verfügen wie der Autor. Ganz sicher aber auch jenen, die einfach Lust auf Promis und Klatsch haben und nun erfahren, dass man dieser Lust auch in Form von kleinen, feinen Geschichten frönen kann, die etwas anders gestrickt sind als üblich. Nicht Lienhard fotografiert also Patti Smith im Chelsea Hotel, sondern umgekehrt sie ihn; Gore Vidal lebte 30 Jahre lang in der Villa in Ravello, die er aufgeben musste, weil ihm das Treppensteigen im Ort zu beschwerlich wurde, jetzt ist Lienhard dort, bevor das Haus zum Hotel umgebaut wird; und Hedi Slimane verlässt die Zürcher Galerie in dem Moment, als Lienhard sie betritt. Vergeblich versucht er den Modeschöpfer aufzuhalten, für das Interview zur Vernissage seiner Fotoausstellung. Er bekommt es noch, aber: "Immer kippt seine Antwort weg, löst sich auf – ins Nichts."

Als Kulturjournalist und Reporter ist Lienhard eben viel unterwegs, mit Günter Grass im Jemen, in Rumänien isst er mit Victor zu Abend, dessen Gemälde alle extrem dunkel sind. "Schwarz und grau. Ein Schwarz und Grau, das er aus allen Farben zusammenmischt." Fünf Galeristen vertreten ihn und "alles, was er malt, wird verkauft." Womit endgültig klar ist, dass er vom Malerstar Victor Man spricht. "Inez und Vinooh" wiederum sind natürlich das Künstlerpaar Inez van Lamsweerde und Vinoodh Matadin, die einst mit ihren digital manipulierten Modefotos die Szene aufmischten. 

Aber es geht in Lienhards Tagebuchnotizen nicht nur um mehr oder weniger bekannte Personen, ebenso reizvoll sind da die notierten Gedankenspiele und philosophischen Überlegungen, gerne über Identität und vor allem über Sprache; wobei letztere Reflexionen vielleicht weniger geglückt sind, als es Lienhard Sprachgebrauch selbst ist. Seine Skizze zu Roland Barthes ist dann auch ein Stück Selbstbeschreibung: "Roland Barthes bezeichnete sich als Mythenjäger, womit er gegenüber seinen intellektuellen Kollegen ein Essen mit dem Klassenfeind Giscard d’Estaing rechtfertigte. Mythenjäger – das legitimiert jede Neugier, jeden Schritt, überall hin."