Stell dir vor, du beziehst ein Ferienhaus im Grünen, und im Wohnzimmer hängt ein Edward Hopper! Die von Tilda Swinton und Julianne Moore gespielten Freundinnen in Pedro Almodóvars "The Room Next Door" staunen, als sie das Ölgemälde "People in the Sun" an einer Wand entdecken: Irgendwie mumienhaft wirkende Menschen in Liegestühlen, die vor einer Berglandschaft den Sonnenuntergang erwarten.
Wahrscheinlich ist es nur eine hervorragend ausgeführte Hopper-Kopie, bemerkt Ingrid (Moore), die in der modernen zweistöckigen Villa, zwei Autostunden von Manhattan entfernt, alles andere als ein Urlaubsvergnügen vor sich hat: Ihre Freundin Martha (Swinton) hat Krebs im Endstadium – und hat sich im Darknet eine Todespille besorgt.
Ingrid, die gerade einen autofiktionalen Roman über ihre persönliche Todesangst veröffentlicht hat, soll Martha während ihrer finalen Tage Beistand leisten, aber keine Sterbehilfe. Wenn es passiert ist, wird Marthas Zimmertür offenstehen, nichts soll nach ihrem Freitod darauf hinweisen, dass Ingrid in Marthas Plan eingeweiht war. Den falschen Alarm mit der offenen Tür kann sich Almodóvar natürlich nicht verkneifen: Ingrid stockt einmal das Herz deswegen, sie findet nach vorschnell vergossenen Tränen aber eine Martha im Liegestuhl auf der Terrasse. Diesmal schlummert die Freundin nur.
Oder soll man es lassen?
Thema des Films ist aber der große Schlaf, und die Frage, ob man unerträgliches Leiden abkürzen darf. Man darf. Martha tötet sich ja am Ende selbst, an ihrer Entscheidung ist nichts auszusetzen. Das Problem liegt woanders. Während des Filmfestivals in Venedig hat Almodóvar sich für Sterbehilfe starkgemacht. Und sein Film, der dort den Goldenen Löwen gewann, votiert ebenfalls dafür, indem er Martha die Figur der Ingrid zur Seite stellt, die Marthas Freitod verhindern könnte.
Eine ähnliche Konstellation findet sich in Matthias Glasners "Sterben", der im Frühjahr in den Kinos lief. Dort schneidet sich der depressive Komponist Bernard (Robert Gwisdek) in der Badewanne die Pulsadern auf, während der mit ihm befreundete und in den Selbstmordplan eingeweihte Dirigent Tom (Lars Eidinger) im Nebenzimmer mit sich selbst ringt: Soll er Bernard sterben lassen oder den Freitod verhindern?
Tom entscheidet sich fürs Nichtstun. Und wir können beide, Tom wie Ingrid, auch verstehen. Es ist ein Gewissenskonflikt, der in "Sterben" wie in "The Room Next Door" fürs Melodram ausgeschlachtet wird. Bei Almodóvar kommt noch die verhaltene, in goldenes Herbstlicht getauchte Ästhetik dazu. Und eine Tilda Swinton, die bis zum Ende recht gefasst und ziemlich gesund wirkt.
Die klaren Farben Edward Hoppers
Man sieht die Notlage nicht, die Marthas Schlussstrich nachvollziehbar machte. Diese Not verkörpert die grandiose Emma Thompson in Mike Nichols’ TV-Drama "Wit" (in Deutschland nur auf der Berlinale 2001 zu sehen). Thompson spielt eine an Krebs erkrankte Literaturprofessorin, die vor unseren Augen körperlich abbaut und wirklich leidet – am Rande des für das Publikum Erträglichen und für die Akteurin Spielbaren. Selbsttötung ist für die Figur und den Regisseur (als 1931 in Berlin geborener Jude war Nichols vom Holocaust betroffen) keine Option.
Ihr letzter Satz ist eine Gedichtzeile, John Donnes "Death, be not proud" – Tod, sei nicht stolz. Anders als "Wit" verhandelt Michael Haneke in "Liebe" (2012) auch das Thema Sterbehilfe – ohne die Ambivalenz des Tötungsaktes zu verschleiern. Georges (Jean-Louis Trintignant) liebt seine Frau Anne (Emmanuelle Riva), mit der er zusammen alt geworden ist. Aber nach ihrem Schlaganfall wird alles anders, Anne will nicht mehr leben, Georges hat sich nicht mehr im Griff, ohrfeigt die Kranke, schließlich erstickt er sie mit einem Kissen.
Es gibt einige Gründe, Almodóvars Film zu empfehlen: Tilda Swinton verkörpert grandios die todkranke Ex-Kriegsreporterin zwischen Überlebenswillen und Verzweiflung, Julianne Moore gefällt als verständnisvolle Freundin, die mit ihrem "Auftrag" hadert. Hinzu kommen intelligente, bisweilen witzige Dialoge und eine Fotografie (Eduard Grau), die an die klaren Farben in der Malerei Edward Hoppers anknüpft.
Die Welt ist in Agonie, soll sie zum Teufel gehen
Doch "The Room Next Door" ist ein feiger Film, der den letzten Dingen, die er zu verhandeln vorgibt, weiträumig ausweicht. Die einzige Figur, die sich gegen aktive Sterbehilfe ausspricht (um die es im Plot ja eigentlich gar nicht geht), ist ein tumber Polizist, der Ingrid am Schluss drankriegen will. Nirgendwo im Film gibt es einen klitzekleinen Hinweis auf moderne Palliativmedizin, die in sehr vielen Fällen das Leid Sterbender deutlich mildert.
Den individuellen Sterbewunsch Marthas verknüpft Almodóvar mit einem Diskurs über die sterbende Erde (Klimakrise und so), den eine schlecht in die Handlung integrierte, von John Turturro gespielte Nebenfigur hineinbringt. Fazit: Die Welt ist in Agonie, soll sie zum Teufel gehen.
Sehr ärgerlich war zudem der in Filmkritiken zur Venedig-Mostra gezogene Vergleich zwischen Almodóvar und Douglas Sirk, dem 1987 verstorbenen Meister des Filmmelodrams. Dieser Vergleich hinkt, er stimmt nur hinsichtlich einer schönheitsseligen Ästhetik und Farbdramaturgie, hinter der bei Sirk in geradezu Brecht'sche Ironie Schmerz und unbedingter Lebenswille stecken. Bei Almodóvar geht es letztlich nur um Eskapismus, um Mut- und Perspektivlosigkeit, übertüncht mit Rosa, Himmelblau und Blassgrün. "The Room Next Door" ist ein filmischer Jammerlappen in attraktiven Pastellfarben.