Wenn ich aus dem Fenster gucke, ist meine Welt leer. Ich blicke auf Hügel, Felder und Wald. Kein Haus, kein Mensch. Ein bisschen wie in "Die Truman Show". Manchmal fürchte ich, dass plötzlich ein Scheinwerfer aus dem gemalten Himmel fallen könnte. Ich mag diese leere Welt. Ich spüre diese Leere, wenn ich morgens auf meinem Smartphone durch die Nachrichten scrolle, brennende Weizenfelder in der Ukraine, Inflation, die Antisemitismus-Debatten um die Documenta, Elon Musk will, dass wir mehr Kinder bekommen. Ich rauche noch eine, hole Luft und schaue in meine kleine leere Welt, die blüht, vergeht, friert, über die Wolken ziehen, die völlig unberührt von diesen Nachrichten scheint. Da ist dieses Gefühl von Isolation, Sinnlosigkeit, aber auch von Ruhe und totaler Offenheit. Da ist dieses Gefühl einer Welt, die unendlich klein ist, in der jedes Detail wichtig wird, jedes Blatt, jeder Baum, jede Beziehung, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, jeder Fleck auf der Haut, jeder ausgefallene Zug, jede Meinung, jedes Zeichen einer Krise oder einer Besserung. Zugleich ist dies eine leere Welt, in der wirklich alles, alles möglich ist, unendlich groß, boden- und grenzenlos. Man möchte sich am Geländer festhalten, irgendwo Halt finden, spürt aber, das nicht mehr lange durchhalten zu können. Und da ist dieser Gedanke: sich einfach fallen zu lassen und zu sehen, was passiert.
Vielleicht fühle nicht nur ich mich gerade so. "Die leere Welt", das könnte der Name einer Wave-Band aus dem Berlin der frühen 1980er sein, in dem ich aufgewachsen bin. Es könnte aber auch der Name für eine Kolumne sein, in der es um das Jetzt geht - um diesen riesigen Echoraum, in dem all die Ideen, Looks, Sounds und Bilder nachhallen, die mich mein Leben lang begleitet haben, die ich heute als Pop-Omi in einem Lagerfeuer verheizen kann, um mir in harten Zeiten eine Tasse halluzinogenen Tee zu kochen. "Die leere Welt" ist ein gutes Motto, um über spirituelle, feministische, schwule, transhumane, okkulte, verschrullte oder modische Sachen zu schreiben, auch wenn sie nicht mehr superheiß sind, sondern abgekühlt. "Die leere Welt" ist exzentrisch, eklektisch, recycelt, zu viel, zu spät dran.
Genau deshalb gibt es auch kein besseres Thema für den Auftakt zu dieser Kolumne als Kate Bush, die wegen ihres Hits "Running Up That Hill (A Deal with God)" in den letzten Wochen in den Medien omnipräsent war. Der Song spielt in der 4. Staffel der populären Mystery-Horror-Serie "Stranger Things" auf Netflix eine wichtige Rolle. 37 Jahre nach seiner Veröffentlichung landete er im Juni in Großbritannien und Australien auf Platz eins in den Billboard-Charts, in den USA in den "Top 5". Allein auf Spotify wurde der Song seit dem Start von "Stranger Things" über 140 Millionen Mal angehört. Bevor ich, wahrscheinlich als Nachzügler, den millionsten Beitrag über dieses Phänomen schreibe, möchte ich erzählen, wie es kam, dass Kate Bush heute meine Higher Power ist. Natürlich nicht die Person, sondern die Idee von Kate Bush, das, was ihre Musik, ihre Performances, ihr Tanz repräsentieren.
Kate Bush, die Göttliche
So oft sitze ich mit meinen Hunden zusammen auf dem Hügel hinter meinem Haus vor dem "Riesenstein", einem gigantischen Findling, umgeben von alten Eichen, einem heiligen Ort, den ich für mich den "Kate-Bush-Rock" nenne. Wir sitzen dann einfach nur da, wie bei einer Meditation, die wir alle drei zusammen machen. Und ich bete zu Kate Bush. Ich hatte jahrelang Schwierigkeiten mit der Idee einer höheren Macht, die man bei den Anonymen Alkoholikern finden soll, um seine Sucht zu überwinden, um weniger abhängig von Menschen, Orten und Dingen zu sein. Die Leute sagen zwar: Du kannst auch einen Türknauf oder einen Baum nehmen. Aber oft meinen sie doch einen weißen männlichen Gott, besonders die Männer in den Meetings reden von einer Vaterfigur, die ihnen und dem Rest der Welt zeigt, wo die Laterne hängt.
Mir ging das auf den Wecker. Ich war so bedient, dass ich eines Tages in einem englischen AA-Meeting aus einer spontanen Regung heraus das Wort "Gott" durch "Kate Bush" ersetzte: "Made a decision to turn our will and our lives over to the care of Kate Bush as we understood her." Was als Witz begann, wurde wahrhaftig. Denn wenn wir wirklich in Verbindung mit dem Göttlichen in uns oder einfach nur mit uns selbst treten wollen, müssen wir genau dahin gehen, wo es peinlich wird, an diesen zarten Ort, in unsere eigene Upside-Down-Welt, in der wir berührt werden, in der die Sachen blühen, die wir draußen nicht sagen, denken, zeigen oder fühlen dürfen – über die Kate Bush aber singt. Mir wurde klar, dass ich ja bereits eine Higher Power besaß, die ich nur vergessen hatte.
Ich hatte sie bereits 1978 gefunden, als ich an einem Wintertag den orangefarbenen Radiowecker im Esszimmer anstellte, damals, als wir nach dem Tod meines Vaters aufs Land gezogen waren. Die Familie war zerbrochen, draußen vor den Fenstern war es dunkel, wie eine schwarze Wand. Ich war 17 und zog den Parka und die Anglerstiefel an, mit denen mein Vater auf die Jagd gegangen war. Dazu trug ich Bastkörbe und endlose, verbeulte Schals, die ich im Unterricht gestrickt hatte. Ich las Virginia Woolf und wollte poetisch sein, mit den Geistern in den Feldern und Wäldern sprechen. Zugleich waren Punk und Wave auch auf dem Land schon angekommen, nicht nur die Sex Pistols oder Clash, sondern auch X-Ray Spex, die Buzzcocks, The Residents oder Throbbing Gristle. Ich fragte ausgerechnet meinen neunjährigen, völlig unbeholfenen Bruder, ob er mir die Apfelshampoo-Haare abrasieren würde. Danach wurde ich auf dem Schulhof angespuckt.
Und dann kam an diesem Tag die Stimme von Kate Bush aus dem Radio, die "Wuthering Hights" sang: "Out on the wily, windy moors / we'd roll and fall in green." Diese Stimme machte alles richtig, von dem ich geglaubt hatte, dass es falsch an mir war. Das Tolle an Kate Bush war das Theatralische, Performative, Campe, gepaart mit Magie, Spiritualität. Kate Bush, die sich Blumen ins Haar steckte, mit einer hochgepitchten Stimme über Emily-Bronté-Romane, Tod und Wahnsinn sang, die klassischen Ausdruckstanz und Modern Dance einsetzte, in Wäldern voller Kunstnebel tanzte, war 1978 alles andere als cool. Noch 1981 weigerte sich das frisch gegründete MTV, ihr ausdrucksstarkes Tanzvideo zu "Wuthering Hights" zu senden und griff lieber auf einen weniger extremen Liveauftritt zurück.
Zu schrullig für die Post-Punk-Ära
Wie es Christina Dongoswski 2018 in ihrem grandiosen Beitrag zur "FAZ"-Pop-Anthologie beschreibt, war "The Kick Inside", Kate Bushs erste LP, bei ihrer Erscheinung "Old Wave": "Angesagt waren der Minimalismus, die Lakonie und die konzeptuelle vokale Wurstigkeit und Aggression von Post-Punk und New Wave. Gegenüber Debbie Harry oder den Frauen des britischen Punk wie Poly Styrene und Viv Albertine wirkte Bushs künstlerische Persona antiquiert, fast schon reaktionär." Man rechnete sie am Anfang keiner Avantgarde zu, sondern dem Prog Rock, den man ja gerade überwinden wollte, wie das Zeug wie Pink Floyd, Genesis oder The Alan Parsons Project. Und gerade, weil sie etwas völlig Einzigartiges machte, das überhaupt nicht einzuordnen war, rechnete niemand ernsthaft damit, dass sie über Jahrzehnte hinweg die Geschichte der Musik und Popkultur umschreiben würde.
Wegen ihrer Schrulligkeit und ihrer Exzentrik und ihrer gleichzeitigen Sexiness war sie damals eine Art "exotische" Sensation, fast wie eine Outsider-Künstlerin. Wäre sie nicht so extrem schön, nur einen Funken weniger genial gewesen, hätte man sie wohl wie eine Drag-Performerin behandelt. Doch Bush stand mit "The Kick Inside", wie es Dongowski beschreibt, auch in einer sehr typischen britischen Tradition, in der in der Populär-Kultur und Folklore in die Hochkultur einfließen. Das reicht von der Wieder- und Neuentdeckung druidischer, vor-christlicher Kulte oder lokaler Traditionen durch gelehrte Pfarrer und Landedelleute im 18. und 19. Jahrhundert über die Visionen von William Blake bis zu den Präraphaeliten und der Arts and Craft Bewegung.
Bush verstieß gegen alle Regeln, während der Rest der Welt das Urbane, Industrielle, Moderne besang, brachte sie etwas Pastorales in die Pop-Musik, zog das Künstliche, Entfremdete, Abgründige des Post-Punk raus aus den Metropolen aufs Land, zurück ins viktorianische oder elisabethanische Zeitalter, auf die Wellen der Themse oder in die Kensington Gardens zu Peter Pan. Dieses Verspätet-Sein gegenüber den ästhetischen Trends der kulturellen Zentren, schreibt Dongowski, verbindet Kate Bush mit Emily Brontë, die mit "Wuthering Hights" 1847 eine Gothic Novel schrieb, als diese längst aus der Mode waren und damit die viktorianische Gesellschaft schockte.
Und dieses Verspätete verband sie auch mit verstörten schwulen Teenagern wie mir. Sie gab mir das Gefühl, zu einer großen kulturellen Tradition zu gehören, auch wenn ich weitgehend isoliert war. Man gehörte zu diesem Uralten dazu, wie bei einem Hexenzirkel, und konnte zugleich etwas völlig Neues und Queeres ausdrücken.
Was ich damals nicht wusste, war, dass sie bereits als Teenager, wahrscheinlich mit 16 oder 17, Mitte der 1970er, in Lindsay Kemps Tanz-Theater "Flowers" gegangen war, eine Pantomimen- und Musik-Show, die Jean Genets 1943 im Knast geschriebenen Roman "Unsere Liebe Frau der Blumen" adaptierte, in dem es um die Drag-Queen und Prostituierte Divine geht, die sich mit Dieben, Zuhältern, Mördern und anderen Kriminellen zusammenschließt und sexuelle Abenteuer erlebt. Gleich zu Anfang stirbt sie an Tuberkulose und wird heiliggesprochen. Kemp, der in den Sixties eine Affäre mit David Bowie hatte und entscheidend den Look und die Choreografie der Ziggy-Stardust-Tour 1972 prägte, war reiner Glam, und das, was man heute "non-binary" nennt. Und natürlich spielte und tanzte er die Divine. "He started it all, I had seen nothing like it, he was totally brilliant", sagte Bush später über Kemp, der ihr erster Lehrer wurde. Er half ihr, eine völlig eigenwillige Symbiose aus Musik, Tanz und Theatralik zu entwickeln, die eine sehr visionäre, dekadente und extrem künstlerische Ästhetik in den Mainstream brachte. Nicht nur wir verbrachten 1984 nächtelang mit nichts anderem als damit, Tee, Wein und Drogen zu konsumieren, "Hounds of Love" zu hören und Ausdruckstanz zu "Running Up That Hill" oder "Hello Earth" zu machen.
Absonderliche Musik für alle
Kate Bush erreichte und erreicht mit ihrer Kunst alle möglichen Leute. "Hounds of Love" lief in Berliner Szenebars wie dem "Risiko" morgens um fünf über den Köpfen von Nick Cave oder Blixa Bargeld genauso wie in den Bügelzimmern in Vororten. Bush war enigmatisch und inklusiv. Wie sehr, zeigt "The Most Wuthering Heights Day Ever", bei dem sich Menschen in roten Kleidern und schwarzen Perücken von Sidney bis nach Berlin und Oslo treffen, um den Song in Massenchoreografien nachzutanzen: LGBTQI-Leute, Hausfrauen, Hipster, Dicke und Dünne, Omis und Kinder.
Wer die Resonanz von Kate Bushs Kunst spürt, kann alles auf sie projizieren. Dabei überwand sie auch im Hinblick auf feministische Überzeugungen eine tiefe Kluft. Wer in den späten 1970ern mit dem Feminismus und der Öko-Bewegung in Kontakt kam, dem war auch die Idee der Muttergottheit nicht fremd – die Vorstellung der großen Mutter, der weißen Göttin mit vielen Namen.
In den frühen 1980ern erstarkten im Rahmen der Frauenbewegung heidnische Kulte, Schamanen, Hexen, esoterische Praktiken und holistische Medizin. Sehr kate-bushig. Doch im Gegenzug dazu prägen sich andere, von Punk-Poststrukturalismus und linkem Denken geprägte feministische und queere Strömungen heraus, die sich genau gegen diese biologische Festlegung und das Gebot der Fruchtbarkeit, gegen "Gesundheit", hierarchische göttliche Ordnungen, oder die Idee von Ursprünglichkeit wendeten. Auch dieses libertäre Denken verkörpert Kate Bush, die über Jahrzehnte wie eine Shape-Shifterin hybride und völlig künstliche Identitäten annimmt und glam-mäßig Geschlechterrollen sprengt.
Der Kampf zwischen Natur und Dekadenz tobt heute als Identitätspolitik im Mainstream weiter. Während Netflix eine Regenbogenpony-Show nach der anderen bringt (auch in "Stranger Things" bahnen sich queere Love-Storys an), beschneiden die US-Republikaner Abtreibungsrechte, versuchen den weiblichen Körper unter männliche Kontrolle zu bringen. Auf der ganzen Welt setzten sich immer stärker Fundamentalisten und religiöse Hardliner durch. Da wo Fortschritte gemacht wurden, laufen sie Gefahr, zurückgefahren zu werden. Fast der gesamte ehemalige Ostblock, allen voran Russland, ist von homophober Politik bestimmt, wobei die nationale Identität an traditionelle Familienbilder und Geschlechterrollen, sowie einen weißen männlichen Gott geknüpft wird und sich durch Rechte für LGBTQI- Menschen bedroht sieht. Im Rahmen des Ukraine-Kriegs werden auf beiden Seiten Werte wie das "Soldatische", das "Mütterliche" und die "Familie" beschworen. Oft wird dabei Pazifismus als ebenso weltfremd und dekadent erklärt wie das Gendern, nicht-binäre Identität oder der "elitäre" akademische Betrieb.
Kate Bush, die schon 1980 den wunderbaren, bitterbösen Anti-Kriegssong "Army Dreamers" herausbrachte, in dessen Video sie mit Kind, Soldatenhelm und Lippenstift in den Tod zieht, vereint diese vermeintlichen Gegensätze. Dabei fällt mir die amerikanische Kunst- und Kulturhistorikerin Camille Paglia ein, die heute zu den vehementen Gegnerinnen von Trans-Rechten gehört. Sie kritisierte in den 1980ern die amerikanischen Eso- und Ökofeministinnen für ihre einseitige Perspektive auf die Natur, die, verkörpert durch Demeter, als nur als lebenspendend, gebärend und voller Weisheit empfunden wurde. Paglia erinnerte an Gottheiten wie die mehrarmige, mit Schwertern bewaffnete Kali, die auf der einen Seite Geschenke gibt, aber auch Leben nimmt und abgeschlagene Köpfe in ihren Händen hält. Natur ist auch Tod, Gewalt, Zerstörung, Exzess. Very Kate Bush. In diesem Zusammenhang sagte Pagllia treffend: "Wir können nicht nach der nackten Klinge der Natur greifen, ohne unser eigenes Blut zu vergießen." Heute meint das bei ihr: Biologie determiniert das Geschlecht.
Das Leben verstehen
Trotz dieses Rückschlusses ist mir der Satz ein halbes Leben lang hängen geblieben. Ich glaube, er ist auf eine viel universellere Weise wahr. Er spricht von einer fundamentalen, schmerzhaften, spirituellen Erfahrung der Wirklichkeit. Doch Kate Bush hat mir gezeigt, dass ich diese Erfahrung machen kann, so wie ich bin, künstlich, hysterisch, expressiv, performativ. Ich kann sie als Mann, Frau, trans Mensch, als Cyborg oder Nerd oder Pop-Omi machen, ich muss dafür nicht "natürlich" sein, Kinder kriegen oder in den Krieg ziehen. Sie ist für uns alle gleich schmerzhaft und fundamental.
Immer wieder geht es bei Kate Bush, wie auch in "Running Up That Hill", darum, sich in die Lage des Anderen zu versetzen, die Rollen und Qualitäten zu tauschen, in diesem Fall die Rollen von Mann und Frau, um aus der eigenen beschränkten Wahrnehmung rauszukommen, visionär zu werden. Neulich sagte eine Bekannte tatsächlich bei einem Dinner, man müsse erst einmal Kinder bekommen, um das Leben wirklich zu verstehen. Ich wusste, dass das irgendwann kommt, bei der augenblicklichen Stimmung. Ich erzählte ihr, wie ich meinen Freund und andere Leute während der Aids-Epidemie begleitet habe, Mutter und Sterbe-Doula sein musste, weil die biologischen Mütter nicht fähig waren, mit dem Leben, Sexualität und dem Tod umzugehen. Wie oft habe ich damals Männer nach ihren Müttern rufen gehört, die nicht kamen. Und wie oft habe ich in dieser furchtbaren, diskriminierenden Zeit Kate Bushs "This Woman’s Work" (1989) gehört, in dem es eigentlich um lebensbedrohliche Kompilationen bei einer Geburt geht, und versucht, meine mütterlichen Qualitäten zu channeln, müde und verzweifelt von den herrschenden Verhältnissen.
Dass Kate Bush heute wieder in den Billboard-Charts ist, hat sicher viel mit der genialen Produktplatzierung in der 80’s-Retro-Welt von "Stranger Things" zu tun, das gerade auch andere Hits wie Metallicas "Master of Puppets" (1986) hochschwemmt und junge Generationen, eine völlig neue Klientel, erreicht. Dennoch ist der enorme Erfolg von "Running Up That Hill" alleine durch die Marketing-Maschinerie nicht erklärbar. Selbst ein Stratege der Musikindustrie nannte den Song im "Guardian" "ein bisschen wie ein Einhorn – die meisten meiner Kollegen müssen zugeben, dass dies nur einmal in einem Jahrzehnt vorkommt."
Vielleicht hat die Rückkehr von Kate Bush etwas mit dieser Müdigkeit zu tun, die ich einst empfand. Ich nahm sie persönlich, aber natürlich hatte das wohl auch mit der Marginalisierung und der Diskriminierung zu tun, die wir damals erfuhren – obwohl ich dachte, ich sei aktivistisch befreit und eingebettet in eine liberale Bubble. Doch diese Ermüdung ist eine systemische Erschöpfung, die immer mehr Menschen, auch Männer, befällt, die am Kapitalismus mit seinen rassistischen, frauenfeindlichen, patriarchalischen Ausprägungen leiden.
Absolute Ernsthaftigkeit
In der berühmten Szene, in der "Running Up That Hill" eingesetzt wird, ringt eine der Hauptfiguren, die Schülerin Max, mit Venca, einer Art Monster oder Dämon, der Teenager psychisch in Besitz nimmt, sie telekinetisch in die Luft hebt und buchstäblich zerbricht wie Barbie-Puppen. Venca, der einmal menschlich war, wurde durch die Upside-Down-Welt, eine Art gespiegelte Höllenversion der realen Welt, zu einer übernatürlichen Kreatur. Er verkörperte aber bereits als Teenager eine nihilistische, misanthrope, egoistische Denkweise. Er tötet seine Opfer, indem er ihnen den Sinn, die Hoffnung nimmt. Er schlüpft in ihren Kopf, während sie in der realen Welt in ein Koma verfallen. Was Max in ihrer inneren Welt mit Venca erlebt, ist traumatisch. "Stranger Things" lässt da keine Assoziation aus: väterlicher Missbrauch, Vergewaltigung, Krieg, im wahrsten Sinne toxische Männlichkeit. Max, die auf ihrem Walkman immer Kate Bush hörte, wird von ihren Freunden mit "Running Up That Hill" ins Leben und in die Gemeinschaft zurückgeholt. Sie kann sich befreien und zu den Klängen von Kate Bush losrennen.
Die eigentlich klischeehafte Szene bekommt erst durch den Song wahre Größe. Sie berührt wirklich, weil wir Kate Bushs absolute Ernsthaftigkeit spüren, die Sehnsucht, einen Deal mit Gott zu machen, ihren Glauben an Verbindung und Vision. "Running Up That Hill" schlägt wie eine spirituelle Bombe in eine immer nihilistischere Welt ein, in der immer mehr Menschen den Glauben verlieren – an sich selbst, an die Zukunft, die Möglichkeit, den Kreislauf von Ungleichheit, Gewalt und Ausbeutung zu durchbrechen. Nicht Netflix oder "Stranger Things" haben "Running Up That Hill" wiederbelebt. Tatsächlich ist es genau andersherum: Kate Bush hat dieser unterhaltsamen, aber inzwischen absehbaren, formelhaften Popcorn-Show Leben eingehaucht.
Ich bin natürlich froh, dass meine Higher Power auf Platz eins steht. Manchmal gehe ich hoch zum Riesenstein, fasse ihn an und bete für das Ende des Krieges, das Ende der Republikaner, der gelifteten Oligarchen, der FDP, der Superreichen, der verlogenen Kunstszene – auch wenn ich dann arbeitslos bin. Ich bete für eine andere Welt und stellte mir dann vor, dass alle Wesen, alle belebten und unbelebten, in einen Kreislauf von Werden und Vergehen eintreten. Und dass Kate Bush, die große, unberechenbare Performance-Glam-Mutter mir aus den raschelnden Ästen der Bäume zuflüstert, ich solle eintreten und mitgehen, mit den Hunden, Mücken, Blättern, den Flüchtlingen, den Schwänen, den Ameisen, den Alten, den Jungen, ich solle mich auf den Weg machen. Und da, ja, ich will mitgehen, ich gehe mit und summe: "I'm coming home to wuthering, wuthering Wuthering Heights."