Mit ihrem per Definition flüchtigen Charakter haben sich nächtliche Sphären einem einordnenden Blick immer wieder entzogen. So viel weiß man dann doch nicht über das Partygeschehen der jüngeren Vergangenheit, und wenn, dann immer bloß aus der Retrospektive. Nur wenig besser dokumentiert sind da noch die ehemaligen Epizentren des Clubbings, und die liegen, kaum überraschend, primär in der nordwestlichen Hemisphäre.
"Ten Cities – Clubbing in Nairobi, Cairo, Kyiv, Johannesburg, Naples, Berlin, Luanda, Lagos, Bristol, Lisbon. 1960 – March 2020" ist insofern fast eine kleine Sensation: 60 Jahre Weggehen, exemplarisch aufbereitet an dieser geografischen Auswahl, das gab es so noch nicht. Unter dem gleichnamigen Titel hat das Goethe-Institut in den vergangenen Jahren musikalische Begegnungen von Berlin und Nairobi ausgehend initiiert, jetzt erscheint das umfangreiche Nachschlagewerk zu den beteiligten Metropolen. Jeder Stadt sind zwei ausführliche Essays gewidmet, jeweils mit dem Fokus "Music/Spaces" und "Spaces/Politics", ergänzt um Fotografien (die Bilder aus der ukrainischen Hauptstadt beispielsweise steuerte Tobias Zielony bei).
Politische Rahmenbedingungen des Nachtlebens
Eingeladen wird aber auch zum Querlesen: Man kann soziale und physische Räume an verschiedenen Standorten vergleichen oder die politischen Rahmenbedingungen des Nachtlebens in ost- und westeuropäischen, nord- und südafrikanischen Metropolen gegenüberstellen. Gleich zu Beginn liefert "Ten Cities" so auch eine mögliche Erklärung, warum es Techno als endgültig globale Musiksprache in afrikanischen Städten oftmals schwerer hatte als anderswo – viele regionale Rhythmustraditionen sind vergleichsweise komplex, oft zum Beispiel von Synkopen durchsetzt, so dass die Gewöhnung an die über-simple Musik nur gemächlich und vielleicht auch weniger durchschlagend geschehen konnte. So kassieren die Autoren nebenbei das auch in Deutschland immer wieder formulierte Vorurteil, der stumpfe, stampfende Beat des Techno erinnere an vermeintlich "afrikanische Rhythmen" – au contraire!
Und auch dann befindet man sich noch bestenfalls an der Oberfläche einer musikalischen Kartografierung, denn allein innerhalb des afrikanischen Kontinents sind die regionalen Finessen und Unterschiede enorm, wie das Buch auf Hunderten Seiten belegt. "Clubkulturen sind lokal", schreiben Johannes Hossfeld Etyang, Joyce Nyairo und Florian Sievers in der Einleitung. Ob in Nairobi oder New York: Selektoren hielten immer weltweit Ausschau nach den neuesten Trends und Wiederentdeckungen, aber letztlich müsse alles vor einem lokalen Publikum bestehen.
Im ersten Essay zeichnen Joyce Nyairo, Bill Odidi, Mukami Kuria und Sellange Ochieng‘ so zum Beispiel die kenianische Popkultur im Schnelldurchlauf nach, von ihren Anfängen seit der Unabhängigkeit des postkolonialen Landes im Jahr 1963 mit den damals beliebten Rumba-Beats über die zahlreichen Einflüsse der Benga- und Taarab-Musiker auf Nairobis Sound bis hin zu kenianischem HipHop. Die Eckmarker von Kenias populärer Tanzmusik seien in all den chaotischen Jahres der jungen Landesgeschichte stets geblieben, schreiben die Autoren: "Imitation, Innovation und sozio-politische Kommentierung, angeführt von wechselnden Generationen."
Potenzial als Freiräume nicht unterschätzen
"Ten Cities" zeigt, wie sich immer schon Wege und Möglichkeiten auftaten, außerhalb etablierter respektive kommerzieller Strukturen zu feiern (was nicht überraschen, aber eben doch erwähnt werden sollte, wo Subkultur und Off-Spaces zum Beispiel in Berlin längst Stadt- und folgerichtig auch BVG-Marketing befeuern): So werden Stokvel, private "Spar-Clubs", als subversive Möglichkeit informeller Begegnung unter Schwarzen Homosexuellen im Johannesburg der Apartheid herausgearbeitet oder Tuk-Tuks als mobile Musik- und Partystationen in Luanda vorgestellt (und äquivalent dazu die Matatu-Minibusse in Nairobi). Gerade weil Clubräume ihrer Natur nach erst einmal unpolitisch oder zumindest nicht ideologisch sind, sollte man ihr gesellschaftliches Potential als Freiräume jenseits der bekannten Feiermetropolen nicht unterschätzen (man erinnere sich an die hämischen Beschimpfungen der Demonstrierenden im Iran, denen immer wieder unterstellt wurde, sie wollten ja bloß westlich-dekadent Party machen).
Neben afrikanischen Metropolen beleuchtet „Ten Cities“ Epizentren des Nachtlebens, die auch innerhalb Europas seltener im Fokus stehen – wie Lissabon, Neapel oder Kiev. Bei Vitalii Bard Bardetski erfährt man, dass omnipräsente Technobeats tatsächlich nur das letzte, sehr schmale Kapitel in einer reichen, oft chaotischen, den Umständen trotzenden ukrainischen Feiergeschichte darstellen, die man wie im Fieberrausch Seite um Seite durchblättert: Von Musikcombos, die polyphones Singen und karpatische Rhythmen zur funky Liaison verschmolzen, über illegalen Plattenhandel auf Röntgenmaterial bis zu den Tanzpalästen, die um elf Uhr Feierabend machten, der sowjetische Arbeiter musste schließlich ausgeruht sein.
Wie deutsche Popformationen als Surrogat für die Verheißungen der geliebten, aber verbotenen US-Musik herhalten mussten und wie später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, Clubbing als Zwei-Klassen-Nachtleben hedonistische Auferstehung feierte – mit teils nur wenigen Dutzend, die sich den Eintritt in Höhe eines halben Monatsgehalts leisten konnten. Zum Glück gibt es Bardetski, der davon berichten kann: "Die Atmosphäre war überraschend bezaubernd, spaßig, aber manchmal erinnerte sie an ein psychedelisches Festmahl in den Zeiten der Plage; Dekadenz im Angesicht der Aufruhr."
Punk hätte niemals in Italien erfunden worden sein können
Es stimmt, dass dieser Anti-Hochglanz-Wälzer die allzu treffende Lektüre für die anhaltende Pandemie ist, in der etliche der vorgestellten Freiräume wenn auch aus guten Gründen vorerst verschlossen bleiben. Trotzdem widersteht das Buch der naheliegenden Versuchung einer nostalgischen Verklärung. "Ten Cities" ist kein unreflektiertes Abfeiern des Feierns (Vitalii Bard Bardetski lehnt in seinem Essay den Begriff 'Clubkultur' generell ab). Bei aller Empathie für ihr Sujet arbeiten die Autorinnen und Autoren immer wieder inhärente Widersprüche und Parallelentwicklungen heraus. So entfalten die Geschichten eine zugleich zauberhafte wie ent-exotisierende Wirkung.
Denn welche Musik wo verfängt und was wie gefeiert wird, ist selbstredend untrennbar mit ganz handfesten, soziopolitischen und historischen Parametern vor Ort verknüpft. "Punk hätte niemals in Italien erfunden worden sein können“, steht in einem Essay über die süditalienische Stadt Neapel geschrieben, wo dereinst "selbst sehr weit links stehende Männer nach ihren politischen Diskussionsrunden noch erwarteten, dass abends die Pasta auf dem Tisch zu stehen habe." Oder in der alternative Partygänger auch einmal fröhlich den Arm zum Faschisten-Gruß reckten, bevor sie weiter zum New Wave-Sound abfeierten – "ästhetische Dekontextualisierung" nennen es die Autoren, und in dieser radikalen Dauerbereitschaft zur Aneignung und Einverleibung jeglicher Oberflächen, Codes und Styles (auch der absolut unmöglichen, respektlosen) steckt, na klar, zugleich die Anziehungskraft nächtlicher Gemengelagen.
In der Stadt unter dem Vesuv-Vulkan kann man so ungeahnten Synergien aus Techno und Punk nachspüren, die sich zwischen der örtlichen, politisch radikalen Hausbesetzerszene und völlig unpolitischen Partygängern entfachen – und dazwischen und davor war auch viel seichter Schlagerpop oder neapolitanische Folklore.
Exklusivitätsversprechen und Ausschlussmechanismen
Der Behauptung von der globalen Clubkultur jedenfalls fügt "Ten Cities" einige oft übersehene oder teils bis dato überhaupt noch nicht formulierte Kapitel hinzu. Bei allen regionalen Spezifika stößt man so auch immer wieder auf Geschichten, die globale Gültigkeit entfalten: wie in Luanda, der angolanischen Hauptstadt, wo der Antagonist nächtlicher wie überhaupt kultureller Begegnungsmöglichkeiten in der Stadt einen weltweit wohlbekannten Namen trägt – real estate. Häuserbau als Investment, vielleicht noch als Wohnstätte, in der jeglicher Stadtraum rundherum verödet.
Und noch etwas eint die Clubkultur, wenn man sie so nennen mag, allen Exklusivitätsversprechen und Ausschlussmechanismen, die Coolness-Grenzziehungen mit sich bringen, zum Trotz: Ausgehen als Bewegung hin zu anderen und weg von der eigenen Scholle, die sich Herkunft oder Familie, aber auch Religion, sozialer oder intellektueller Stand nennt.