Nach einer Neuhängung sind in der Londoner Tate Britain mehr Kunstwerke von Frauen als je zuvor zu sehen. Doch dem Museum ging es bei der Sichtung seines Bestands nicht allein um Diversität
Selbstbewusst und gar nicht unwitzig blickt die junge Frau in Weiss aus dem Bild von Joan Carlile (1606-79). Die Seide ihres Kleids glänzt wie Wasser, kokett rafft sie es ein bisschen zur Seite, so dass der Effekt des prachtvollen Stoffes besonders zur Geltung kommt. Ihren Namen kennen wir nicht, wissen aber, dass ihr grossformatiges Porträt um 1650 entstanden sein muss. Das Ungewöhnliche daran: Eine Frau malte sie.
Joan Carlile galt als eine der ersten professionellen Künstlerinnen, die sich in England der Ölmalerei widmeten. Carlile lebte in mit ihrem Mann in Covent Garden, im damaligen Zentrum der Kunstwelt; nur zehn ihrer Werke sind überliefert.
Mary Beale (1633-99) galt als erste britische Künstlerin, die erfolgreich als Porträtkünstlerin arbeitete und ein Studio in Pall Mall unterhielt. Eines ihrer Bilder zeigt Beales Mann Charles in entspannter Pose mit offenem Hemdkragen. Charles verwaltete die Karriere seiner Frau effizient und unterstützte sie – vom Farbenkauf bis zum Management ihrer Finanzen. Die Bilder von Carlile und Beale sind Teil eines kompletten Re-Arrangements der Bestandswerke der Tate Britain, die von den Besuchern weniger geliebte, ältere Schwester der populären Tate Modern.
Die Hälfte der Gegenwartskunst stammt von Frauen
Lange vernachlässigte weibliche Kunstschaffende in ihrer Besonderheit neu einzuordnen – oder überhaupt aus dem Depot oder anderen Verstecken zu holen –, gehört zu den Prioritäten dieser Neuhängung: So etwa wurden rund 440 Werke von Emily Sargent (1857-1936), der Schwester des bekannten Malers John Singer Sargent, erst 1998 von Familienangehörigen in einem vergessenen Koffer gefunden. Zu Lebzeiten hatte die Zurückhaltende nur einmal ausgestellt, 1908 im Rahmen einer Gruppenausstellung.
Nach der Neuhängung sind mehr Kunstwerke von Frauen als je zuvor in den Räumen der Tate Britain zu sehen, vom 17. Jahrhundert an bis heute. Die Hälfte der zeitgenössischen dort ausgestellten Arbeiten stammt von Frauen, darunter Bridget Riley, Anya Gallaccio und Tracey Emin.
Doch den Kuratoren ging es bei der Sichtung ihres Bestands nicht nur um Diversität. Sie stellen jedes Bild konsequent in einen sozio-kulturellen Kontext, und die Hängung folgt der zeitlichen Chronologie, und nicht etwa künstlerischen Strömungen und Gruppierungen. Vergessene, zu Lebzeiten gefeierte Maler wie Frederic Leighton sind auf einmal im Kontext ihrer Zeitgenossen zu sehen. So wird der Geschmack einer Ära deutlicher sichtbar als etwa in einer Schau von der aus heutiger Sicht Besten.
Gesellschaftliche Veränderungen stets mitgedacht
Kunsthistorische Zusammenhänge bleiben im Hintergrund, dafür werden Geschichte und gesellschaftliche Veränderungen jeweils mitgedacht: Ein Porträt erscheint nicht nur als individuelle Wiedergabe einer Person, sondern auch als Ausdruck und Symptom seiner Zeit. Wenn man sich die Mühe macht, die Bildlegenden zu lesen. So ist Sir Brooke Boothby auf einem Bild (1781) von Joseph Wright (1734-97) für unsere Augen ein blasierter Dandy im Grünen; Zeitgenossen aber sahen ihn, wie der sich selber sehen wollte - als melancholischen, tief empfindenden Denker und als Rousseau-Anhänger in Harmonie mit der Natur.
Höfische Porträts des 16. Jahrhunderts dienen als Beispiele für die Migration von Künstlern vom europäischen Festland. Und die Bilder reich gekleideter Herrschaften aus den Jahren des expandierenden britischen Empire zwischen 1760 bis 1830 inspirierten die Kuratoren durchgängig zur Frage: Woher kam das hier zur Schau gestellte Geld, woher die Macht? Nicht selten durch den Sklavenhandel, wie sich herausstellt. Der wachsende Wohlstand der Gesellschaft zwischen 1815 und 1905 resultierte in einer Kunstbegeisterung der Massen. Aber, so erklären die Kuratoren, Frauen und Minderheiten erschienen immer noch nur am Rande des damals virulenten künstlerischen Themenspektrums.
Auf diese Weise dekliniert sich die Tate Britain kritisch und kämpferisch durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Dabei werden nicht jeder Kommentar, nicht jede kuratorische Entscheidung zur Eröffnung am 23. Mai begrüsst werden. Schon im Vorfeld gab es Kritik. Besonders die Zusammenhänge von Kunst, Auftraggebern und Sklavenhandel wurden in der britischen Presse nicht von allen begrüßt, auch wenn die "Times", die "Sunday Times" und der "Guardian" schon vor Monaten ihr thumbs up gaben. Insgesamt werden mehr als 800 Werke von rund 350 Künstlern zu sehen sein: alte Favoriten, jüngere Zugänge und Wiederentdeckungen überzeugend gruppiert und kommentiert. Sogar die Wände sind neu gestrichen. Museales Weiss wurde von dunkleren Zwischentönen abgelöst.