Die Volksbühne in Berlin ist ein fantastisches Haus im doppeldeutigen Sinn. Weil es Debatten auslöst, die wegen ihrer maximal konservativen, im Kulturbetrieb einzigartigen Verbohrtheit manchmal unheimlich sind. Und die manchmal dann doch wunderbar wirken, weil einige widerständige Geister und Gesten das Gespräch bevölkern.
Der letzte Innovationsschub der Volksbühne liegt zwar gut 20 Jahre zurück (der späte Live-Videoeinsatz bei Castorf konnte nur jene deutschen Kritiker von den Socken hauen, an denen die international tourende Wooster Group aus New York anderthalb Jahrzehnte vorbei gezogen war). Doch seit diesen fernen Tagen schafft es das Haus immer wieder, die Erzählung aufrecht zu erhalten, es throne auf ewig über allen Bühnendingen. Jede Veränderung an seinem unklaren Reinheitsgebot wird mit realen Bierduschen oder zumindest dem Wunsch nach dem Tod bestraft. Die Volksbühne ist das Walhalla des deutschen Theaterbetriebs, mitsamt Nibelungentreue und, wie bei jedem Mythos, leerem Sinnzentrum.
Und über allem schwebt seit Wochen die Frage, wer nun ganz sicher nicht die Volksbühne übernehmen werde, nach dem allzu frühen Tod von René Pollesch, dem prägenden Autor-Regisseur für mehrere Generationen. Kritiker der alten Schule, die sich mitten in der Abwertung der Feuilleton-Öffentlichkeit zumindest noch etwas Macht im Kultursandkasten erhoffen, lancieren Kandidaten nur deswegen, um sie unmöglich zu machen. Und auf wen Kultursenator Joe Chialo hört, weiß niemand so richtig. Alle knirschen mit den Zähnen.
Keine Schnappatmung, nirgends
Die Vorrede ist so lang, um die dialektische Position der Regisseurin Susanne Kennedy an der Volksbühne möglichst plastisch zu sehen. Denn sie steht für das absolute Gegenteil von alledem. Sie wirkt stets, als habe sie gerade zehn Minuten meditiert. Keine Schnappatmung, nirgends. Schreien auf den Proben: unvorstellbar. Und ihre Theaterkunst, wenn man das überhaupt so nennen kann, kündet keine Sekunde von den auch an der Volksbühne beliebten Kategorien wie Genie, Ekstase, Widerständigkeit oder bis in die Zehenspitzen trainierte Sprungbereitschaft für den nächsten Vatermord.
Kennedy lässt seit Jahren Texte aufnehmen, die auf der Bühne von Band kommen. Die Performerinnen und Performer tragen Gummimasken, bewegen allenfalls die Lippen, gar nicht immer zwingend synchron, und versuchen, den Rest an Ausdruck in generische Bewegungen zu legen. Die Texte wirken wie aus dem Internet zusammenkopiert, wollen Authentizität vermeiden und kompensieren diese kühle Distanz noch nicht einmal mit Ironie. Kennedy macht posthumanes Theater, das sind immer Szenen aus der Zukunft, die auf diese seltsame Menschheit blicken. Die gummierten, stereotypisierten Körper üben sich etwas in Imitation, bleiben dabei aber betont linkisch. Clumsy trifft es wohl besser, denn es wird eh fast nur Englisch gesprochen.
Das fand sowohl der verhasste Viermonats-Intendant Chris Dercon gut als auch René Pollesch. Kennedy ist eine Art Heilerin zwischen vielen Fraktionen und hat so noch jeden Sturm überstanden, ohne sich opportunistisch zu verhalten oder ihre Kunst zu verbiegen. Sie findet traditionelle Repräsentation im Theater ebenso überflüssig wie René Pollesch, aber würde nie auf die Idee kommen, dagegen wortreich zu rebellieren wie der Verstorbene. Sie macht halt etwas anderes.
Just like Pollesch
Allein: Was genau? Und was bedeutet es, dass ihr neuestes Stück immer wieder vom Sterben handelt? "The Work" heißen die 90 Minuten, wie das Meiste in den letzten Jahren mit ihrem Partner entwickelt, dem Künstler Markus Selg. Und nun zuckt man umso stärker zusammen, wenn der Abend anfängt wie ein alter Pollesch: mit einem Song. Nicht zu bekannt soll er sein, aber doch schmissig. Und so sehen wir kurz ein Video vom Schotten Edwyn Collins, der in den frühen Achtzigern mit der Band Orange Juice Kritiker begeisterte und danach eine mittelerfolgreiche Solokarriere startete. Der Beat von "A Girl Like You" klingt nach Motown Soul aus den Sechzigern, aber mit blauen britischen Augen. Es gibt etwas Vibraphon. Ein simpler, hochglamouröser Popsong. Just like Pollesch. Gespenstisch.
Direkt anschließend wird die sonst ironiefreie Susanne Kennedy sogar lustig und lässt zwei Performer oder Darstellerinnen-Avatare eine Podiumsdiskussion im Kunstmilieu persiflieren. Xenia heißt die Künstlerin, und der Moderator, mit der Stimme von Damian Rebgetz, sagt natürlich, die Retrospektive namens "The Work" sei bislang "her most personal work". Wurde das Gelächter aus der Dose schon da eingespielt?
Persönlich, das ewige Kulturklischee. Besonders, weil das Persönliche ja dann doch auch für den Kosmos stehen soll. "I feel like a transistor radio", sagt die Stimme von Xenia. Erst kürzlich sah man in Berlin noch so ein Gerät in Beton gegossen, nämlich in der Retrospektive von Isa Genzken in der Neuen Nationalgalerie im vergangenen Jahr.
Die Zeit ist ein Kreislauf
Bei Genzken steht die zur Skulptur gegossene Technologie für die kulturelle Leistung von Hip Hop in New York. Bei Kennedy ist der Transistor ein Bild für ihre Kernthese, dass die Zeit ein Kreislauf sei. Die Antenne spürt alles auf, was da ist und theoretisch auch, was da war (physikalisch gesehen sind Schallwellen noch lange da, aber halt nicht mehr wahrnehmbar). Wir leben in einem Archiv, in dem alles wiederkehrt, auch das Zukünftige. Unsere Umwelt ist eine Serverfarm, die alles enthält. Das ist ein bisschen wie Techno-Buddhismus, oder eben Post-Internet-Art, aber im Theater.
Nach dem Talk vor dem Theatervorhang wird der Technologiefetisch, der in den Bildern von Markus Selg in vieler Form auftaucht, auch visuell bestimmender. Eine gute Stunde lang wandelt das Publikum über die Bühne oder wird schon mal gebeten, sich auf die bedruckten Teppiche zu setzen. Denn wir weilen in der Retrospektive der Künstlerin Xenia. Alle Bühnenelemente und Teppiche stammen aus früheren Produktionen von Kennedy und Selg.
Der Nachhaltigkeitsgedanke korrespondiert perfekt mit der buddhistisch-technoiden Dramaturgie des Stücks, dass alles wiederkehre. Selgs Bilder und manchmal auch die Videos pflegen eine Digitalästhetik, die bereits retro wirkt, weil sie grobe Glitches einbaut – Fehler, Verzerrungen, Hinweise auf das Nicht-Perfekte, Gemachte. Wenn man will: Beweise des Menschlichen.
Wozu noch Namen?
Die wechselnde Figur Xenia ist aber noch immer eine Figur, und ihre Krankheit und auch ihr Tod sind weniger als Plot zu verstehen denn als Zeichen des Verschwindens solcher Bühnenfiguren überhaupt. Wozu noch Namen, selbst wenn sie Xenia heißen, die Fremde? Das ist oft anregend, wenn sich aus der kleinen Geschichte von der Künstlerin und ihrem Sterben auch kunstphilosophische Parallelen ziehen lassen. Aber man sieht vermehrt das eine oder andere Gähnen, bevor man selbst ein bisschen wegdriftet.
In den Volksbühnen-Komplex passt dieser Abend aber perfekt. Wenn die Heilerin Kennedy so viel über das Sterben ihrer Figur spricht, muss sie auch das Haus selbst meinen. Es wird eifrig geröchelt und nach der Mutter gerufen, aber in einer gleichmütig und tiefenentspannten Art, die nicht den Schmerz ignoriert, aber den Schrecken mildert.
Am Ende greifen die Performer in ihre Genitalbereiche und fördern Blut, Schleim und Eingeweide zu Tage. Das geschah schon genau so in Kennedys Arbeit "Women in Trouble", damals mit anderer Musik. Nun hören wir die Mollkadenzen von Händels "Sarabande" dazu, die sich fast hoffnungsvoll auflösen. Es kann nur heißen: Die Volksbühne muss sterben, es lebe die Volksbühne. And it’s okay, entspannt euch.