Kunstfestival Steirischer Herbst

Der lange Schlaf der Nation

Das Kunstfestival Steirischer Herbst in Graz beschwört klug eine Vergangenheit herauf, die keineswegs gebannt ist - und kommt zu einer Zeit, in der viele ein böses Erwachen bei den österreichischen Nationalratswahlen fürchten

Das Grazer Volksfest "Aufsteirern" fiel wenige Tage zuvor noch unwetterbedingt aus, doch pünktlich zur Eröffnung des Steirischen Herbsts, des alljährlichen Festivals für zeitgenössische Kunst, strahlt die Sonne so golden vom blauen Himmel, als hätte sie sich parteiisch auf die Seite der Kunst geschlagen. 

Kurz vor der Nationalratswahl in Österreich setzt das kuratorische Team um die Festivaldirektorin Ekaterina Degot mit dem Motto "Horror Patriae" einen Impuls, der die Spaltung der Republik zwischen Vergangenheitsverhaftung und Moderne in eine lebendige und anschauliche Diskussion bringt. Angefangen in der Grazer Altstadt, wo jedes zweite Geschäft den "Horror Patriae"-Aufkleber im Schaufenster präsentiert, dessen postsozialistisches Design von der Grupa Ee aus Lubljana stammt. Erschreckendes Vaterland bedeutet der Titel in etwa, aber lateinisiert und ästhetisiert scheint das Motto gebändigt, sodass es auch für die Trachtengeschäfte und Lingerieshops anschlussfähig ist.

Zum Auftakt des Festivals präsentierte der in Wien lebende japanische Künstler Yoshinori Niwa ein satirisches Wahlplakat mitten in der Stadt, das die blauen FPÖ-Plakate verballhornt, indem es einen Kandidaten mit Bratwurst präsentiert, dessen Slogan "Jedem das Unsere" auch noch die Nazi-Sprache bis zur Kenntlichkeit zitiert. 

Polit-Provokationen – gibt’s das noch?

Niwas bewusst grob gezimmerte Provokation, auf die Passanten eher mit müdem Lächeln reagieren, zeigt aber, dass die lokalen Kunst- und Ausländerfeinde immer noch gerne zu provozieren sind und auf derlei Vorlagen nur warten. Niwas Aktion bekam sofort eine Anzeige und wurde kurzzeitig von der Polizei verhüllt. Die FPÖ forderte in einer Pressemitteilung die Einstellung jeglicher Fördermittel für den Steirischen Herbst. Und sofort ist das Festival in aller Munde und Zeitungen. Well done. Leiser wird die Aktion indes weitergehen. Niwa wäscht das Plakat täglich, nimmt ihm alle Farbe und Kontraste, bis es am Abend der Nationalratswahl – am 29. September – unleserlich sein wird und nur noch die Graffiti strahlen.

Das Herzstück des Steirischen Herbsts ist währenddessen die Gruppenschau "Horror Patriae" in der Neuen Galerie Graz, die Ekaterina Degot mit ihrem Team verantwortet. Die grundsätzliche Idee besteht darin, krasse Fundstücke der Sammlung des Universalmuseums Joanneum – ob nun gußeiserne NS-Kerzenständer, eine Fotografie der drei Söhne Sigmund Freuds in Tracht oder die Blut-und-Boden-Malereien eines Alfred Schrötter von Kristelli – mit zeitgenössischen Positionen in ein dichtes und dicht gehängtes Gespräch zu bringen. 

Dass es die aktuellen Werke sind, die von diesem Clash profitieren, wird schnell klar. Die ollen Dinge dienen als Trigger, die der kuratorischen Auswahl eine Prägnanz und der Kunst eine Tiefe geben, die sie ohne jegliche Vermittlung oft nicht erlangen. Seien es die beiden Beiträge von Peter Friedl, eine Fahnencollage von "Failed States" (2011) und der Leuchtschriftzug "Kill and Go" (ohne Titel, 2000), die mit einer Völkertafel aus dem 18. Jahrhundert korrespondieren, die vor infamen Charakterzuschreibungen nur so strotzt. Oder sei es die ukrainische Künstlerin Alina Kleytman, die in "The Tongue" (von 2020) in einem Krankenhausbett liegend an ihrer immer größer werdenden Zunge erstickt. 

Ausstellung mit Trigger-Dramaturgie

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs, der die russischsprachigen Gebiete der Ukraine annektieren will, ist die Prägnanz dieser Arbeit bereits gegeben. Doch erinnert die andere Frauenfigur im Raum daran – eine "Slawin in Ur-Tracht" aus den 1930er-Jahren, die aus dem sogenannten "Trachtensaal" des Volkskundemuseum Graz entliehen wurde – wie selbstverständlich auch der rassistische Blick wissenschaftlicher Institutionen auf Osteuropa lange war.

Die Trigger-Dramaturgie zieht sich durch alle Räume und ist mal mehr, mal weniger pointiert, aber langweilig wird sie nie. Die Wandtexte nehmen das große Ganze der Zeitabläufe in den Blick und informieren auch zu den Verstrickungen einzelner Protagonisten der steierischen Geschichte, die trotz allem 1968 den Steirischen Herbst gründeten. Immer wieder wird auf die lange Geschichte der österreichischen Deutschtümelei verwiesen, wie es auch der vom Festival in Auftrag gegebene 45-minütige Film "Noreia" von Jan Peter Hammer macht.

Dieser erzählt, wie in der Steiermark die vorgefundene keltische Siedlung Noreia mit einer germanischen Schlacht aus vorchristlicher Zeit ideologisch verwoben und über Jahrzehnte hinweg von verschiedenen Interessengruppen mit unterschiedlichem Erfolg bearbeitet oder bekämpft wurde. Hammer lässt seinen Protagonistinnen und Protagonisten vom Heimatverein bis zur Landesarchäologie allen Raum, und so entwickelt der Film eine faszinierende Atmosphäre. Ein Höhepunkt, den man sich – auf der Festivalseite frei zugänglich – anschauen sollte.

Kindsmord und Einschlaflieder

Der Steirische Herbst gab auch mehrere Performances in Auftrag, wie "Nation of Sleep" von Ari Benjamin Meyers. Der US-amerikanische Komponist und Künstler füllte eine Tennishalle in einem Grazer Vorort mit 60 Grundschulkindern aus der lokalen Bevölkerung, stellte ebensoviele Betten und Bettlägrige dazu und taucht die Szenerie in ein dunkelblaues Nachtlicht. Über diese Schlafsaal-Szenerie wurde ein Text von Tom McCarthy gesprochen, der etwas einfältig Themen wie rituellen Kindsmord bei den Azteken mit Einschlafliedern kombinierte. Eher unangenehm berührte es, dass der Text auf Englisch gesprochen wurde, und so über die jungen Kinder hinwegging und sie zur Staffage machte.

Begeisterung löste dagegen die Aufführung "The Phantom of the Operetta" der transnationalen Performance-Gruppe La Fleur aus, die von dem österreichisch-jüdischen Komponisten Emmerich Kálmán erzählt. Dieser wurde mit der Operette "Die Csárdásfürstin" reich und berühmt, floh vor den Nazis in die USA und wurde noch in der Nachkriegszeit offen angefeindet. 

Die zwischen Performance-Lecture und Tanztheater changierende Inszenierung der Regisseurin Monika Gintersdorfer wurde immer da mitreißend, wo die Performer das Dozieren sein ließen und mit ihren Mashups aus Walzer, Charleston und afrikanischen Tänzen wie Amapiano und Legwork auf die Lektionen der Geschichte antworteten. Sie traten das Erbe der queeren jüdischen "Operetta" aus eigener dekolonialer Praxis heraus an und wurden dafür frenetisch bejubelt.

Dieser Steirische Herbst wird lange nachwirken

Darf man da eigentlich klatschen, fragte man sich indes in Augustin Maurs Liederabend "Out of Tune", in dem er die Lieblingssongs von Diktatoren und politischen Führern sang. Der in Berlin lebende französische Komponist bewältigte mit elegantem Understatement so einfältige Weisen wie "Blutrote Rosen" (Hitlers Lieblingslied) oder "Pfiat Gott, liebe Alm" (Favorit von Jörg Haider; die Älteren werden sich an den verstorbenen FPÖ-Politiker erinnern, dessen damaliger Mitarbeiter Herbert Kickl nun als FPÖ-Kanzlerkandidat antritt). 

Ganz toll dann plötzlich Modern Talkings "Brother Louie", was man dem Geschmack des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong-un zu verdanken hat. Maurs Präsentation sentimentaler Melodien, die auch Trump, Nethanjahu und Berlusconi verbinden, lässt aufscheinen, dass der Musikgeschmack von Diktatoren, Verbrechern und Rechtspopulisten vermutlich anschlussfähiger ist als eine gemeinsame Idee davon, was demokratischer Widerstand sein kann.

Dieser Steirische Herbst 2024 wird lange nachwirken, weil er es schafft, die globalisierte Kunstwelt an diesem Ort auf eine vielschichtige, sinnlich erfahrbare Auseinandersetzung mit Vergangenheit einzuschwören, die längst nicht mehr in alten Dingen und Sammlungen gebannt ist. Wenn auch die Zukunft dieses klugen, großzügigen, umkämpften wie auch wunderschön situierten Grazer Festivals angesichts der politischen Lage ungewiss bleibt: In diesem Jahr hat es bewiesen, dass der Preis, dies alles abzuschaffen, weitaus höher sein wird, als das, was es die Steuerzahlerinnen und -zahler kostet.