Als Hilary Mantel sieben Jahre alt ist, zieht der Liebhaber ihrer Mutter in das beengte Elternhaus ein. Ihre Familie ist working class, irisch-katholisch. Ihr Vater wird noch über viele Jahre hinweg getrennt von der Familie dort wohnen, im Keller, bis er schließlich einfach weg ist, wie ein Geist. Das Haus ist ein Geisterhaus. Gegenstände verschwinden, Windstöße wehen durch die Räume, Türen schlagen zu, Hilarys Hunde heulen in der Nacht vor Angst. In ihren Erinnerungen "Giving Up the Ghost" beschreibt sie, wie ihr bleicher, schweißgebadeter Stiefvater den überwucherten Garten freihackt, den Blick auf die Felder und das Moor wieder freilegt.
Hier, inmitten des geschnittenem Grases, zwischen Unkraut und Gestrüpp, sieht sie einige Tage später etwas Unsichtbares, Beängstigendes, absolut Böses – eine Bewegung, eine Unruhe in der Luft, die spiralförmig aufsteigt, wie Fliegen, aber ohne Fliegen, "eine sich langsam bewegende, unheimliche Ansammlung von Zellen, wie ein Krebs, der nach einem Wirt sucht." Ihr wird übel, sie friert ein, erstarrt. Das Ding ist so groß wie ein Kleinkind, dringt wie eine "kranke Resonanz" in die Knochen, Öffnungen, jeden Winkel ihres Körpers. Als sie schreiend zum Haus läuft, rinnt es von ihr herab, "wie Leichenwasser." Dekaden später, in einem ihrer letzten Interviews, wird die heute weltberühmte britische Schriftstellerin zu ihrer schwierigen Kindheit befragt. Als der Interviewer raunt, sie müsse doch ganz schön gezeichnet sein von diesen Traumata, antwortet Mantel, ohne eine Miene zu verziehen: "Well, eine fröhliche Kindheit produziert keine guten Geschichten."
Sieht man Stefanie Heinzes atemberaubende Gemälde bei Capitain Petzel an, könnte man denken, das gälte auch für die Malerei. Da sind ähnliche, ungreifbare, unheimliche, faszinierende Gefühle, übereinandergeschichtet, zusammenmontiert, operiert in aufgerissenen, verschachtelten, leeren malerischen Räumen, die sich öffnen, signalfarben, zum Verrücktwerden, überbunt, möbeldomänig. Da sind Formen, die sich wie Brotschneidemaschinen ins Bild fräsen, scharf wie die Kanten von Schildern oder Verkehrszeichen. Die Bilder sind theatralisch, kindlich, und dann wieder super-erwachsen, voller weichteiliger, flabbeliger oder federiger, blühender Sachen, die rottig, saftig herumdüsen, irgendwo reinstechen, kriechen, knien, Stiefmütterchen-Cyborgs, Strumpfpuppen, Zungen, Organe.
Bei Heinzes Bildern versagt die Sprache
Zugleich werden da ganz andere Sachen vor meinem inneren Auge hochgespült: die sterbenden Blumenseelen von Joan Mitchell und Mondrian, als er theosophisch war und noch nicht gegenstandslos malte, die fleischigen Blumen und Schlachthausbilder von Lovis Corinth, die spitzmausigen Karikaturen des Liedermachers Franz Josef Degenhardt, die ich als kleiner Junge fürchtete. Wimmelbilder aus Kinderbüchern, die Höllen von Hieronymus Bosch. Tarotkarten, der "Ritter der Schwerter", der auf einem Pferd vor einem Wolkenhimmel galoppiert, die Klinge erhoben, um analytisch und patriarchalisch zu trennen, "Sort + Separate", wie eines von Heinzes Gemälden heißt.
Mir kommen Container voller Plüschtiere und Diddlmäuse in den Sinn, all das hoffnungslos grinsende Zeug, das es zum Dranhängen und Liebhaben für 2,98 Euro in Drogeriemärkten gibt, ein Glas voll von mit Glitterlack und Augen bemalter Haferflocken, das ich meine, vor ein paar Jahren in Heinzes Kreuzberger Studio gesehen zu haben, aber vielleicht habe ich das nur geträumt. Das war 2019, als sie ihre erste Einzelausstellung "Odd Glove" bei Capitain Petzel hatte, einer Berliner Galerie, die eine Art Heilige Dreifaltigkeit vertritt, Charlene von Heyl, Laura Owens und Amy Sillman, drei supertolle Malerinnen, die die Diskurse in der US-Malerei in den letzten Jahren ganz entscheidend geprägt haben.
Und so stand ich vor der Heinze, die damals schon über 30 war, aber superjung, wie 20 und irgendwie auch wie Jenny from the Block rüberkam, und wollte schlau und hip über Malerei reden. Aber bei Heinzes Bildern versagt die Sprache, zumindest die eindeutige, und dann versucht man natürlich erst mal Anker auszuwerfen, sagt das sieht aber aus wie dies und das, Vergleiche ziehen, rumfischen in der Kunstgeschichte, aber alles Fehlanzeige, funktioniert nicht.
"Jeder darf sehen, was er oder sie will"
Wir kamen dann einen Punkt, wo es ehrlicher wurde und ich über das Traumatische in ihrer Malerei sprach, das ich auf der Stelle gesehen hatte, aber vorschob, das hätte sicher nicht nur mit ihrer Biografie zu tun, sondern würde eher kollektive Themen wie die Gender-Debatten, die allgegenwärtige Pornografie, sexuelle Gewalt berühren. Ich wolle ja auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, Stefanie sei selbst traumatisiert und ihre Malerei Therapie. Das war natürlich glatt gelogen, der ganze Kunstbetrieb besteht aus traumatisierten Menschen. Da sagte sie etwas, das mein Schreiben bis heute verändert hat: "Die Stefanie hat aber ein Trauma." Und dann, dass dieses Trauma ihre Strategie, ihre malerische Praxis geprägt hat. Das war mal ein Anfang, wirklich. Seit diesem Treffen schreibe ich anders über Kunst oder Künstler*innen, ohne Ziel und lasse Sachen passieren, hochkommen, auch die, die mir zunächst peinlich sind, bringe mich selbst mit ins Spiel. Ich schreibe nicht mehr aus der Perspektive einer Fliege an der Wand, die als unsichtbare Beobachterin die Lage checkt, als wäre sie gar nicht Teil der Angelegenheit.
Nun also Heinzes Ausstellung "Dimensions of the Fool". Schon die Texte in der Pressemappe wollen nichts wirklich festlegen, sind aber darin programmatisch: "Nicht-Wissen ist entscheidend für die Kunst. Es erlaubt der Kunst sich zu entfalten. Alle Richtungen, alle Farben, alle Bewegungen und Meditationen des Geistes bereiten den Boden für fabelhafte Erfindungen." Oder: "Wir beginnen als Idioten. Kaum Teil davon, nehmen wir in dieser brandneuen Welt für nichts für selbstverständlich." Der Kurator und Autor Mason Leaver-Yap macht gemeinsam mit Künstler*innen wie Sharon Hayes oder Andrea Büttner Texte, sozusagen als Co-Produktion, und auch mit seiner Freundin Stefanie Heinze – und die sind no bullshit visionär, in der schwärmerischen Tradition von William Blake oder Walt Whitman, wenn man sich darauf einlässt: "Die Welt summt und vibriert, singt, spricht in Sprachen, die noch nicht die unsrigen sind. Sie ist groß und unbekannt. Und hier sind wir, ohne jede gefühlte Macht treten wir in dieses Summen ein, kommen dabei aus einem Zustand reiner Gleichheit, der noch vor der Moral kommt, vor der Anhäufung, noch bevor unsere Einfältigkeit abgewertet und degradiert wird."
Man sieht ihn geradezu vor sich, den Narren, in all seinen Dimensionen, der auf dem Tarot-Deck von Rider Waite unter der bösen, strahlenden Sonne, von einem umherspringenden Hündchen begleitet, völlig unbekümmert, voller Aufbruchsgeist auf den Abgrund zusteuert. Als sie die Bilder in dem Studio einer Mäzenin in Südfrankreich gemalt habe, einfach, weil ihr Berliner Studio zu klein war, seien auch Gäste gekommen, erzählt Heinze. "Manche Besucher fragten: 'Are you the fool?' Da muss so eine Angst sein, sich zum Narren zu machen. Mich fragen auch immer Leute: 'Darf ich das auf deinem Bild jetzt so sehen?' Jeder darf sehen, was er oder sie will, ich sehe natürlich auch nicht alles. Ich male Riesenbilder und stehe davor und erfasse gar nicht das ganze Bild. Da ist immer diese Ironie, dass es gar nicht so funktionieren kann, wie man möchte. Ölfarbe hat ja auch ein ganz eigenes Leben. Es gibt da dieses Vertrauen, dass immer mehr passiert, als ich eigentlich kann.“
Stefanie Heinze macht die Tür auf
In Heinzes Malerei heißt das, dass sie den Prozess, die Formen und Figuren, das Bild geschehen lässt, ohne fixe Ideen, ohne zu wissen, was da kommt, alles reinlässt auch das, was man eigentlich nicht auf Bude hocken haben möchte. Ihre Bilder werden quasi ausgelöst, angetippt: "Ich stelle mir nichts vor, was auf der Leinwand passieren soll. Ich zeichne etwas und dann kommt der Impuls zum Malen. Oft mache ich etwas und sehe erst hinterher, ah, das erinnert mich daran oder daran. Das gibt es nie, dass ich denke, ich muss das jetzt malen." "F (Rush In)", heißt eines ihrer Gemälde, in Anspielung auf den Song "Fools Rush in", den von Frank Sinatra und Dean Martin bis zu Bow Wow Wow unzählige Leute gesungen haben. Da wo sich Engel und weise Männer nicht hintrauen, zum Beispiel in die Abgründe des Gefühls und der Seele, schleichen sich die Narren rein. Und wie wir aus Märchen und Horrorfilmen wissen, in denen die Clowns, die lustigen Spielzeuge die Spaßmacher vorbeikommen, ist das nicht immer schön. Wir alle haben wie Hilary Mantel, den Teufel im Hintergarten getroffen. Die meisten von uns versuchen alles, um ihn den Rest des Lebens draußen zu halten, zu vergessen, das Rollo runterzumachen, nicht mehr darüber zu sprechen, nichts zu tun, was ihn anziehen könnte. Sie halten sich an die Regeln, um jede Möglichkeit zu vermeiden, dass er wieder auftaucht.
Stefanie Heinze tut das Gegenteil. Sie macht die Tür auf. Wenn er vorbeikommt, lässt sie ihn rein, um ihn aus einer neuen Perspektive genauer anzugucken, ihn kennenzulernen, mit ihm umzugehen. Das ist aber schwere Arbeit. Erst kann man die Tür nur einen Millimeter aufmachen, dann immer ein Stückchen weiter. "Meine Malerei ist wie ein Wahrnehmungstraining", sagt sie. "Sie hat auch mit den Therapieformen zu tun, die ich gemacht habe, Focussing und EMDR - man lernt dabei anders zu fühlen, weil man Bilder zulässt, sich erlaubt, völlig andere Perspektiven zuzulassen. Ich glaube, dass das in der Malerei ähnlich funktionieren kann, diese Vorgänge des Passierenlassens, des Zulassens, des Sehens, einfach zu sehen, was da kommt, auch wenn man es nicht versteht. Wenn ich in meiner Malerei etwas nicht verstehe, fühle ich mich absolut wohl in diesem Nicht-Verstehen."
Auch wenn sich da immer mehr Leute treffen im Unbestimmten, Bodenlosen, die Orientierung und die Nerven verlieren, und man ahnt, dass da weit und breit kein rettendes Ufer in Sicht ist, keine Gewissheit, zu der wir zurückkehren könnten, wirkt die Kunstwelt immer noch stabil und kontrolliert. Betrachtet man allerdings dann die Kunst, die Malerei auf Biennalen und großen Ausstellungen, wirkt diese fast streberhaft bemüht, auf der richtigen Seite zu stehen, im Moment auf der indigenen, mythischen, futuristischen. Die Werke sehen dabei häufig aus wie die Illustrationen zu den Diskursen. Um sicher zu gehen, muss man allerdings dafür sorgen, dass man nicht missverstanden wird, dass die Sachen signalhaft und deutlich genug sind. Wer auf der diesjährigen Biennale die Themen der Veranstaltung noch nicht so richtig geschnallt hatte, wurde etwa mit riesigen archaischen Pottery-Werken, archaisch-utopischen Kosmologien und afrofuturistischen Gottheiten schnell auf die Spur gebracht.
Was sehe ich eigentlich?
Das ist auch völlig ok. Aber alles, folgt immer mehr der Aufmerksamkeitsökonomie und muss immer schneller begriffen werden, irgendeine Botschaft, irgendeine Haltung vermitteln. Bei Heinze ist es genau Andersherum. "Meine Malerei ist erstmal so eine Art 'Catch me if you can'. Meine Aufgabe sehe ich darin, diese rigiden Denkmuster in der Malerei aufzuweichen, wie Malerei zu funktionieren hat, wie man sie ausstellt oder über sie spricht. Dieses Denken, in dem irgendwelche Diskurse, seien sie nun post-kolonial, post-human oder identitätspolitisch, instrumentalisiert werden, um alle zufriedenzustellen."
Da in der Opposition zu sein, sieht Heinze nicht als einschränkend, anti-diskursiv, oder anti-intellektuell an, im Gegenteil: "Mich interessiert, welche Sprache ich mit der Malerei entwickeln kann. Was ich hier mache, ist eine Sprache. Mich interessiert, wie man das wieder zurückführt, in einen Gefühlsraum, von 1D zu 2D zu 3D zu 4D zu 5D. Dabei geht es auch um diese Überforderung, die immer da ist: Was sehe ich eigentlich? Das Bild ist flach, du kommst nicht ran und das katapultiert dich gleich in die fünfte Dimension!" Sie muss lachen, wird dann gleich wieder bestimmt: "Es geht um eine Raum- aber auch eine Spracherweiterung."
Dass Heinze im Zusammenhang mit semi-figurativer Malerei Sprache ins Spiel bringt, ist interessant. Die Definitionen von "Figur", "figurativ" und "figural" im Duden machen auf die Konflikte aufmerksam, die diese Begriffe in Diskussionen aufwerfen. Etwas Figuratives ist eine Repräsentation, eine Nachahmung und sogar eine Vortäuschung. Etwas Figurales ist ein Emblem und ein Ideal, das heißt, etwas, das ein abstraktes Konzept verkörpert. Eine Figur kann beides sein. Heinzes Malerei, ihre Figuren legen sich aber nicht fest, rücken nicht sofort raus mit der Sprache. Sie springen hin und her, benehmen sich wie Trickster, Narren, bimelim, die immer wieder neue Tricks finden, um die Regeln zu brechen und abzuhauen.
Eine Aufforderung an uns alle
"Es gibt da diesen Zwang in der Kunstwelt", sagt Heinze. "So, wird dir gesagt, musst du denken, fühlen, machen, lesen - ein bisschen wie bei Daddy. Du bekommst Angst, weil du es richtig machen musst. Und natürlich habe ich auch die ganzen Daddies im Hinterkopf, wenn ich male. Über diese Regeln, was nun "richtig" oder "falsch" ist, könnte man ein Handbuch herausgeben, aber das wäre dann stinklangweilig. Denn es geht mir ja genau darum, das zu zerpflücken, auseinanderzunehmen, zu sagen, so einfach ist es nicht, man kann es auch anders sehen, oder zu fragen: Was siehst du da? Was fühlst du? Zugleich spiele ich mit Wiederholungen, Form, auch Sachen, die ich nicht beeinflussen kann. Und natürlich bin ich mir dabei auch bewusst, was ich tue. Das sind keine Traumbilder, das ist kein surrealer Traum."
Oft schon wurde das Bizarre, Fantastische, Sexuelle in Heinzes Malerei hervorgehoben, oder so getan, als wäre sie eine privilegierte weiße Frau, die da therapeutisch ihre privaten, etwas perversen Fantasien auslebt. Sicher wird die Verlockung groß sein, sie irgendwie in den aktuellen Boom von weiblichem Surrealismus reinzuquetschen. Doch als ich ein paar Tage später durch die weiß gefrorene Uckermark stapfe, über Heinzes Bilder nachdenke, habe ich eine Vision. Man kann sich auch den Kunstbetrieb auch als Elternhaus vorstellen, vielleicht als gebildet, nicht so prollig wie bei Hilary Mantel, doch wenn man genau hinsieht, ist das alles genauso traumatisch und gewaltsam wie Hilary Mantels Working-Class Familie.
Und weil der Teufel, das Unbekannte draußen wartet, weil man denkt, sofort sterben und verrotten zu müssen, wenn man die Wahrheit sieht und sagt, wird weiter gelogen, gemaßregelt, Gewissheit verbreitet, versucht man das "Richtige" zu tun, damit alles gut aussieht. Heinzes Malerei ist in diesem Sinne nicht lediglich biografisch oder psychologisch, sondern auch die Kritik an einem dysfunktionalen, traumatisierenden System, eine Aufforderung an uns alle, aufzuhören so zu tun, als würden wir Bescheid wissen und loszuziehen, wie die Narren, auf den Abgrund, das große Unbekannte zu.