Geben Sie es zu: Wenn Sie an die EM denken, kommt Ihnen nicht als erstes Erinnerungskultur in den Sinn. Doch genau hierum soll es bei diesem europäischen Turnier der Herren, das erstmals im wiedervereinigten Deutschland stattfindet, gehen. Neben dem Fußball natürlich.
Zumindest haben sich das die DFB-Kulturstiftung, der World Jewish Congress, die Organisation What matters. und zahlreiche teilnehmende Institutionen zum Ziel gesetzt und das Projekt "Fußball und Erinnerung" entwickelt. Die UEFA Euro 2024 solle, so DFB-Präsident Bernd Neuendorf in seinem Grußwort auf der Projekt-Homepage, nicht nur begeisternde Spiele bieten, sondern auch dafür genutzt werden, an dunkle Seiten der deutschen Geschichte und die vielen Opfer deutscher Verbrechen während des Nationalsozialismus zu erinnern: An den Holocaust und an die Schicksale der Kriegsgefangenen, der Zwangsarbeiter und der Gefangenen in den Konzentrationslagern.
Im ganzen Land und besonders in unmittelbarer Nähe zu den Spielorten finden zu diesem Zweck Veranstaltungen und Ausstellungen in Gedenkstätten, an Erinnerungsorten und in Museen statt, die deutlich machen: Fußball und dieses Kapitel der deutschen Geschichte sind eng miteinander verbunden, viel enger, als man vielleicht gedacht hat. So wird in der KZ-Gedenkstätte Dachau an die jüdischen Fußballer, Funktionäre und Journalisten erinnert, die der Disziplin in Deutschland zu ihrer Popularität verholfen haben. Der FC Schalke 04 begibt sich auf Spurensuche jüdischer Schicksale seiner Vereinsmitglieder im Nationalsozialismus, und die Gedenkstätten Gestapokeller und Augustusschacht in Hasbergen beleuchten die Geschichte von NS-Zwangsarbeitslagern auf Sportstätten – um nur einige Beispiele des vielfältigen Angebots zu nennen, das das Projekt an insgesamt 18 Orten bereithält.
Fester Bestandteil der NS-Ideologie
Im Sportmuseum Berlin, im Lichthof des Hauses des Deutschen Sports im Olympiapark, thematisiert die Ausstellung "Sport. Masse. Macht. Fußball im Nationalsozialismus" wie die Nationalsozialisten den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen für ihre Zwecke instrumentalisierten und ihn zum festen Bestandteil ihrer Ideologie machten: Auf Sportveranstaltungen wurden die Menschen mit den NS-Symbol- und Bildwelten vertraut gemacht, hier wurden Symbolpraktiken wie der "Deutsche Gruß", also der Hitlergruß, erlernt und hier wurde der Sportler- oder Sportlerinnenkörper zum Idealtypus des "Neuen Menschen" stilisiert, durch den die sogenannte Volksgemeinschaft realisiert werden sollte. Dem seit den 1920er-Jahren sehr populären Fußball kam hierbei eine besondere Rolle zu, denn in den vollbesetzten Stadien ließ sich Woche für Woche ein breites Publikum erreichen.
Fußball, das macht die Ausstellung sehr deutlich, war niemals neutral - und ist es auch heute nicht. Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus sind nicht nur Kapitel der Vergangenheit, sondern immer wieder ein Thema und erfordern daher entsprechendes Engagement von den Fans und den direkt Beteiligten. Die Sektions-Überschrift "Wandel aktiv gestalten" darf der Fußball-Liebhaber oder die Liebhaberin also unbedingt als Handlungsaufforderung verstehen.
Die Schau versammelt unterschiedlichste Medien: Fotografien, Nachbildungen von Pokalen, Audio-Stationen und übersichtlich gestaltete Info-Grafiken. Immer wieder begegnet man den Biografien von Sportlerinnen und Sportlern, die dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. So beispielsweise der Leichtathletin und zehnfachen Deutschen Meisterin Lilli Henoch, die 1942 von den Nazis ermordet wurde oder dem Deutschen Meister, Nationalspieler und Olympioniken Julius Hirsch, der seiner Familie auf dem Weg nach Auschwitz schrieb: "Meine Lieben! Bin gut gelandet, es geht gut! Komme nach Oberschlesien, noch in Deutschland. Herzliche Grüße und Küsse, Euer Juller!"
Fußball inmitten unsagbaren Elends
Elf, den zumeist nicht erhalten gebliebenen Originalen nachempfundene Trikots erzählen die Geschichte von Verbänden und Vereinen, die von den Nazis verboten wurden. Nachdem jüdische Sportlerinnen und Sportler in Folge der Machtübernahme der Nazis aus den arisierten Vereinen ausgeschlossen wurden, boten die bereits bestehenden und neu gegründeten jüdischen Vereine zunächst noch einen Platz, bis diese 1938 verboten wurden.
Ein Kapitel der Ausstellung widmet sich dem Fußball im Konzentrationslager. Eine großformatig gedruckte Fotografie von Mai/Juni 1945 zeigt ein Fußballtor auf dem Appellplatz im KZ Sachsenhausen. Aus Skizzen und Tagebucheinträgen von Häftlingen sowie durch das filmisch festgehaltene Interview mit Władysław Kożdoń, einem Überlebenden des KZ Buchenwald, erfahren wir von Fußballspielen, die inmitten des unsagbaren Elends kleine Lichtblicke boten. Und so wird deutlich, was ein richtiger Fußball-Fan natürlich ohnehin schon weiß: Fußball ist mehr als nur ein Sport.