Das Verhältnis der Öffentlichkeit zu Kuratorinnen und Kuratoren ist ein sehr wechselhaftes. Nach der finanziell havarierten Documenta 14 von Adam Szymczyk in Kassel forderte 2017 fast das gesamte deutsche Feuilleton, die Figur des vermeintlich absolutistisch herrschenden Ausstellungsmachers zu demontieren und durch demokratischere Strukturen zu ersetzen. Dieser Wunsch wurde durch das indonesische Kollektiv Ruangrupa erfüllt, das die Documenta Fifteen verantwortete. Durch die Antisemitismus-Skandale der Schau wurde das Gruppenkuratieren jedoch schnell wieder mit Verantwortungslosigkeit und Kontrollverlust assoziiert, und es wurde der Ruf nach einer starken Managerpersönlichkeit laut. Der Debatten-Wellengang, der von einem überschaubaren öffentlichen Kurzzeitgedächtnis zeugt, war bei diesem Thema in den vergangenen Jahren besonders hoch.
Nun wurde in Münster die neue künstlerische Leitung für die Großausstellung Skulptur Projekte im Sommer 2027 vorgestellt: das Kuratorinnenkollektiv "What, How and for Whom/WHW" mit seinen Mitgliedern Ivet Ćurlin, Sabina Sabolovic und Natasha Ilic. Auf den ersten Blick wirkt diese Entscheidung wie eine Zäsur für das beliebte Kunst-Event, das seit 1977 alle zehn Jahre Plastiken, Installationen und Performances in der ganzen Stadt verteilt. Erst vor knapp zwei Wochen ist der Skulptur-Projekte-Gründer Kasper König gestorben – ein Ausstellungsmacher, der den Typus des meinungsstarken Star-Kurators und kulturpolitischen Strippenziehers maßgeblich mitgeprägt hat. Kunstkritiker Hans-Joachim Müller nannte ihn in seinem Nachruf den "Generalissimus".
WHW erscheinen nun wie das Gegenteil davon: Ivet Ćurlin, Sabolovic und Ilic verstehen Kunst als Ökosystem und wollen, wie der Name des Kollektivs bereits nahelegt, die Strukturen des Betriebs hinterfragen und eher auf Diskurs denn auf prominente Künstlernamen setzen. Doch so groß, wie die Veränderung zunächst scheint, ist sie bei näherem Hinsehen gar nicht. Auch Kasper König hat die letzte Ausgabe der Kultur Projekte bereits 2017 zusammen mit den Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner gestaltet. Ein Mini-Gelegenheits-Kollektiv, sozusagen. 2007 gehörten Brigitte Franzen und Carina Plath zum künstlerischen Leitungsteam. Und auch bei anderen Großausstellungen wie der Documenta ist längst deutlich geworden, dass die klingenden Einzelnamen wie Carolyn Christov-Bakargiev und Adam Szymczyk ihre Ausstellungen nur im Team stemmen konnten. Kollektives Kuratieren wird also nach der harschen Kritik an der Documenta Fifteen und Ruangrupa nicht wieder verschwinden, wie es sich manche Kritiker zu wünschen scheinen. Es ist längst eine Realität im internationalen Kunstbetrieb und wird es auch bleiben.
Wovon lebt der Mensch?
Dass das gemeinsame Leiten trotz aller Solidaritätsrhetorik jedoch nicht konfliktfrei ist, zeigt auch die Laufbahn von WHW. 1999 übernahm das Kollektiv (damals noch zu fünft) die Direktion der Galerija Nova in Zagreb und kuratierte 2009 die Istanbul-Biennale. 2019 übernahmen Ivet Ćurlin, Sabina Sabolović und Nataša Ilić dann zu dritt die Kunsthalle in Wien und setzten dort auf ein Programm mit Fokus auf Osteuropa sowie lokale Wiener Positionen und migrantische und indigene Künstlerinnen. Das diskurslastige Ausrichtung gefiel nicht allen, und auch die Besucherzahlen ließen offenbar zu wünschen übrig, was teilweise auch an den Lockdowns während der Corona-Zeit lag. Der Vertrag des Trios wurde nicht verlängert, was für einigen Aufruhr in der Wiener Kunstszene sorgte. Nun leitet mit Michelle Cotton wieder eine Einzelperson die Kunsthalle.
Am meisten Aufschluss über die Herangehensweise von WHW an eine Großausstellung dürfte wohl die 11. Istanbul-Biennale geben, die die Kuratorinnen 2009 unter das Motto "What Keeps Mankind Alive" stellten. Der Titel ist eine Übersetzung des Liedes "Denn wovon lebt der Mensch?" aus der "Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Und auch die Kunst beschäftigte sich mit ökonomischer Ungleichheit und sozialen Verwerfungen. Zu den bekanntesten Namen auf der Künstlerliste gehörten Trevor Paglen, Artur Żmijewski, Sanja Iveković, Nam June Paik, Eyal Weizman, Nevin Aladağ, Hans-Peter Feldman und Mounira Al Solh.
Es liegt also nahe, dass sich auch die kommenden Skulptur Projekte in Münster mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen einer solchen Megaschau auseinandersetzt. Kein internationales Kulturereignis kommt mehr ohne diese Art der Selbstbefragung aus – und so war die reflexive Arbeit von WHW sicherlich ein entscheidendes Kriterium bei der Wahl der Findungskommission. Was, wie und für wen machen wir das eigentlich? Und auch osteuropäische Kunst, die in Deutschland lange eher am Rande stattfand, hat durch den Ukraine-Krieg neue Relevanz bekommen. Hier wollte man sicherlich auf die Expertise der drei Frauen auf diesem Gebiet zurückgreifen.
Signal nach Kassel?
Die sechsten Skulptur Projekte, die ersten ohne ihren geistigen Vater Kasper König, finden nach jetzigem Stand 2027 parallel mit der Documenta 16 statt. Anders als die "große Schwester" in Kassel hat es die Münsteraner Schau jedoch durch ihre 50-jährige Laufbahn geschafft, ohne ein Spielfeld von internationalen Kulturkämpfen zu werden. WHW treten ihren Posten in einer äußerst aufgewühlten Stimmung in der Kunstwelt an. Vor dem Hintergrund der Documenta-Krise, des Kriegs in Nahost und der angedrohten Extremismusklauseln aus der Politik ist das Verhältnis zwischen Künstlern und öffentlichen deutschen Institutionen gerade vor allem durch gegenseitiges Misstrauen geprägt.
Und doch kann man die Personalie auch als Hoffnungszeichen begreifen, das bis ins rund 200 Kilometer entfernte Kassel strahlen könnte. Die Sorge, dass sich niemand fände, der oder die in diesen Zeiten eine deutsche Großausstellung leiten will, hat sich in diesem Fall (auch wenn man nicht alle Einzelheiten des Auswahlprozesses kennt) im Ergebnis als unzutreffend erwiesen.
Wenn es nun auch die Documenta-Findungskommission schafft, wie angekündigt noch in diesem Jahr eine Leitung für die D16 zu benennen, wäre das ein wichtiges Zeichen gegen das Gefühl der Lähmung, das einem gerade oft im Kunstbetrieb begegnet. Auch wäre noch genug Zeit, die beiden Highlights im Kultur-Kalender in ihrem traditionell parallelen Rhythmus zu belassen. "Kunst ist frei, provoziert und tut auch mal weh", sagte Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe am heutigen Mittwoch bei der Vorstellung von WHW. Nun gibt es eine neue Chance, zu beweisen, dass das mehr als eine Pressekonferenz-Floskel ist.