Silke Schönfeld versteht sich als Dokumentarfilmerin, sie sucht ihre Geschichten im Realen und findet sie im Netz, um die Ecke oder auch in der eigenen Familie. Die Geschichten, die das Leben schreibt, findet sie spannender als alles, was sie sich ausdenken könnte: "You Can’t Make This Up" (Das kannst du dir nicht ausdenken) ist auch der Titel ihrer Solo-Ausstellung, die jetzt im Hartware MedienKunstVerein in Dortmund) zu sehen ist
Schönfeld zeigt fünf ihrer teils preisgekrönten Arbeiten. Die Themen könnten unterschiedlicher nicht sein: Es geht um sexuellen Missbrauch, die Neue Rechte oder auch den Strukturwandel im Ruhrgebiet. Die Ausstellung ist sorgfältig inszeniert – Samtvorhänge strukturieren den Raum, schaffen für jeden Film eine eigene kleine Welt. Die Farben der Vorhänge, die Sitzmöglichkeiten – sie passen jeweils zum Filmsetting: wir sind im Garten, bei McDonald's oder auch im Kinosaal.
Eine Inszenierung des Zuschauerraums, die mit der Grenze zwischen Filmraum und realem Raum kokettiert, die aber auch von Schönfelds Liebe zum Detail erzählt. Die Regisseurin nähert sich ihren schwierigen Themen behutsam, läßt sich Zeit und gibt vor allem auch den Dingen Raum. Ihre frühen Filme arbeiten nur mit Texteinblendungen, später kommen ihre Protagonistinnen und Protagonisten auch selbst zu Wort, ihre stärksten Momente haben die Filme aber, wenn die Kamera scheinbar abschweift. Dann reicht ein Banner, der Schatten eines McDonald-Logos oder ein Kirschbaum, um der Geschichte eine weitere Ebene zu geben.
Ein Film, der gleichermaßen Aufklärung und Heilung ist
In "Ich darf sie immer alles fragen" wird der Kirschbaum zum Symbol für eine sehr persönliche Geschichte. Schönfeld thematisiert hier den sexuellen Missbrauch ihrer Mutter durch den Vater. 15 Jahre nach seinem Tod suchen Mutter und Tochter einen Weg, das Geschehen zur Sprache zu bringen. Die Mutter gestaltet den Garten neu und läßt den Kirschbaum fällen, den der Vater einst pflanzte. Die Tochter begleitet die Arbeit mit der Kamera.
Für ihre Mutter war dieser Film auch ein Stück Befreiung und Selbstbehauptung, berichtet Schönfeld: "Ich habe mich mit ihr zusammen an Grenzen herangetastet. Ich wollte nicht, dass sie nur mir zuliebe mitmacht." Am Ende steht ein Film, der "gleichermaßen Aufklärung und Heilung ist."
Schönfeld hat die Arbeit an "Ich darf sie immer alles fragen" von einer Psychotherapeutin begleiten lassen. Aber auch über die persönliche Betroffenheit hinaus ist ein besonderes Verantwortungsgefühl für die Menschen, die sie filmt, bezeichnend für die Regisseurin.
Was ist von wem machbar?
Im Film "No More Butter Scenes" macht sie dies auch grundsätzlich zum Thema. Der Filmtitel ist eine Anspielung auf die Erlebnisse der Schauspielerin Maria Schneider in der sogenannten "Butterszene" des Films "Der letzte Tango von Paris" (1972). Schneider, damals 19 Jahre alt, wußte nicht, was ihr in der Sexszene genau widerfahren würde und sprach erst Jahre später über den Dreh, den sie als Vergewaltigung erlebt hat. Im Zuge von #MeToo bekannten viele Schauspieler:innen ähnliche Erfahrungen – eine Bewegung, die bis heute immer neue Welle schlägt.
Für ihren Film arbeitete Schönfeld mit der Intimitätskoordinatorin Teresa Maria Hager und der Stuntperformerin Samia Hofmann zusammen. Zwei Schauspielerinnen – Lola Fuchs und Mervan Ürkmez – spielen ein Interview, das der Werbung für einen neuen Film dient. Es beginnt wie ein PR-Spaß, doch dann kippt die Stimmung, die Schauspielenden wechseln die Rollen. War alles wirklich so lustig? Wer ist Opfer, wer Täter? Die Situation eskaliert.
Stuntperformerin Samia Hofmann hat die Schauspieler:innen für die Gewaltszene vorbereitet. "Ich frage mich zunächst immer, was ist von wem machbar? Haben die überhaupt Bock körperlich zu werden?", erklärt Hofmann ihre Verantwortung. Sie kommt vom Tanz, macht Kampfsport, arbeitet als Double etwa für die Filmreihe "The Hunger Games" und weiß: "Gewalt und Kampf haben ein höheres Tempo und eine stärkere direktere Körperlichkeit". Für sie ist die "Intention der Berührung" entscheidend.
Was wollen wir sehen?
Intimität funktioniert dagegen anders. Silke Schönfeld holt vor die Kamera, was idealerweise vor den Dreharbeiten passiert. Beim "boundary check" verständigen sich die Schauspielenden mit den Händen darüber, welche Körperstellen berührt werden dürfen und welche nicht. "Erst mit den eigenen Händen, dann mit den Händen des anderen", erläutert Teresa Maria Hager. Immer gibt es Feedback und ein Stop-Wort, denn "man kennt oft die eigenen Grenzen nicht, ist darauf getrimmt alles zuzulassen", berichtet die Initimitätskoordinatiorin von ihren Erfahrungen.
Der Check ist in Schönfelds Film eine der spannendsten Szenen. Es braucht hier nicht viel, um die Zuschauenden zu Komplizen zu machen. Wie weit willst du gehen? Was wollen wir sehen? Wann und warum glauben wir Schauspielenden?
Für Schönfeld ist der Konflikt strukturell. "Das Perfide an der Butterszene ist doch auch, dass Brando und Bertolucci der jungen Maria Schneider offenbar nicht zugetraut haben, das Entsetzen gut zu spielen, den Ausdruck der Angst auch anders hinzubekommen", sagt Schönfeld. "Sie sprechen ihr die schauspielerischen Fähigkeiten ab."
Mensch und Rolle gleich zu setzen, ist nicht ihr Ansatz
Und sie hängen einem Mythos filmischer Authentizität an, den Schönfeld nicht teilt. Mensch und Rolle gleich zu setzen, das ist nicht ihr Ansatz. Auch ihr, der Dokumentarfilmerin, geht es um Glaubwürdigkeit, aber die Frage sei doch: "Wie können wir einen starken Ausdruck finden und gleichzeitig dafür sorgen, dass Schauspieler:innen emotional unversehrt aus der Szene hervorgehen?", so Schönfeld.
Das Verständnis für Grenzen ist dabei für sie zentral und keinesfalls mit einem Qualitätsverlust verbunden: "Im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung, kann ich mich ganz anders fallen lassen und auch entfalten. Das ist kein Minus, sondern ein Plus." Dafür ist sie bereit auch ihre Position als Regisseurin immer wieder zu hinterfragen. Die Ergebnisse sprechen für sich: "Ich darf sie immer alles fragen" hat sich aktuell in der Kategorie Kurzfilm für den Oscar 2025 qualifiziert.