Doch, ein Mal kam es zur Begegnung. Der Kritiker stand etwas einsam herum. Polke im Pulk. Ein Schritt nur, ein tapferer Schritt, schon war man dabei. Der Mann mit der randlosen Brille erinnerte ein wenig an Heinz Erhardt. Zog die Mundwinkel wie eine Hebebrücke vor dem Burggraben hoch: "So, so." Dieter Roth hat ins Mikrofon gefurzt, Jenny Holzer beim Interview immerzu die Haare aus dem Mund gezogen, Sigmar Polke nur "So, so" gesagt.
Wann das war? Vergessen. Das kleine Bild "Reis" existierte bereits. Es stammt aus dem Jahr 1963 und heißt so, weil auf ihm "Reis" steht, zusammengelegt aus gezeichneten Reiskörnchen, über die ein Reismännlein hinwegstolziert, wie es das Reismännlein immer tat, als es noch Reismännlein auf Reistüten gab.
Das Bild gehörte mal der Künstlerin Katharina Sieverding. Als sie das Reismännlein nicht mehr sehen konnte, nahm es Josef Froehlich in seine Obhut, der neben Reiner Speck und Frieder Burda zu den Polke-Sammlern in Deutschland gehört, die ihren Beruf mit weltmeisterlichem Ehrgeiz betreiben. "Reis" verwahrt er wie eine Inkunabel. Vielleicht kann das ja nur verstehen, wer seine besten Jahre mit dem Reismännlein und Nierentischen auf messingbeschlagenen Spreizbeinen verbracht hat.
Freilich fragte man sich schon damals, ob nach "Reis" und "So, so" irgendetwas Wegweisendes zu erwarten stünde. Eine Zeit lang kam einem der Künstler als geborener Ironiker vor, der das hehre Geschäft der Malerei mit diesem und jenem und unermüdlich guter Laune hintertreiben würde. Diese obsessive Lust an der kümmerlichen Form, am verbrauchten Dekor, am miesen Design, am arglosen Reismännlein, was wäre sie anderes als Hohn?
Höhere Wesen befahlen
"Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen", das ziemlich alberne und ziemlich berühmte Bild, das 1969 auf eine schöne Entheiligerkarriere deutete, hätte auch Kippenberger malen können, wenn der nicht gerade ein kurzfristiges Beschäftigungsverhältnis als Schaufensterdekorateur beim Bekleidungshaus Boecker in Essen eingegangen wäre. Und wie der zwölf Jahre Jüngere schien bereits der zwölf Jahre Ältere alles daransetzen zu wollen, die populäre Rolle des Großkünstlers gegen die nicht weniger populäre des Bürgerschreckgespensts einzutauschen.
Götz Adriani, der langjährige Leiter der Tübinger Kunsthalle, erzählt mit mildem Lächeln vom Polke-Besuch im Schwäbischen im fernen Jahr 1976. Es war die erste große Übersichtsausstellung, die anschließend nach Düsseldorf und Eindhoven weitergereicht wurde, wo man den Künstler allerdings nicht mehr im christlichen Hospiz unterbrachte. Am Neckar soll er nächtens die Fenster aufgerissen und deutsche Soldatenlieder gesungen haben. "Ein Skandal", sagt Adriani und lächelt noch milder, "ein Skandälchen."
Es waren nicht viele, die sich mit Scherz, Satire, Ironie nicht rundum zufriedengegeben und sehnlichst die Dreingabe der tieferen Bedeutung erwartet hätten. In der Nach-Studentenbewegungs-Epoche, die sich mehr und mehr dafür schämte, vor Kurzem ein paar Trainingsstunden Kulturrevolution genommen zu haben, kam einem die freche Banalbildnerei, mit der Polke seinen Einstand feierte, wie wunderbarste Inanspruchnahme einer längst wieder verratenen Freiheit vor.
Sammler und Museumsdirektoren standen Schlange
Wenn einer pusselige Rasterbilder malt, auf denen nun wirklich nichts anderes zu sehen ist als ein bisschen Müll von der Riesenhalde der reproduzierten Welt, kann es ihm wohl schwerlich um Zurüstungen für die eigene Himmelfahrt zu tun sein. Bad Painting, das Wort war noch nicht erfunden, aber schlechter als die Kunstschmiererei auf dem Bild "Moderne Kunst" kann moderne Kunst gar nicht sein. Das hat immer für Sigmar Polke eingenommen. Und wenn seinerzeit ein anständiges Portefeuille zur Verfügung gestanden hätte – man hätte doch nie zugelassen, dass eine Dada-würdige Arbeit wie "Carl Andre in Delft" in die treffliche Sammlung Doktor Reiner Speck wandert.
Der Sammler musste seinerzeit lange vor der Haustür warten, bis der Hausherr ein schlechtes Gewissen bekam und den angemeldeten Herrn Doktor hereinließ. Das passt durchaus ins Bild. In Varianten begegnet man der Geschichte immer wieder. Martin Kunz, Museumsdirektor in Luzern, muss es nicht besser, eher schlechter ergangen sein. Polke erzählte später gern, wie er hinter den Gardinen gestanden und den Schweizer auf der Straße beim langsamen Verlust der Contenance beobachtet habe. Dann wollte Manfred Schneckenburger eigentlich nur eine schöne Einladung überbringen, wurde aber weder als Postbote noch als Chef der Documenta 8 vorgelassen.
Das wiederum hat man Karlheinz Schmid zugetragen, dem Kunstjournalisten mit dem sagenhaften Netzwerk, der mit seiner eigenen Kontakttechnik offenkundig die besseren Ergebnisse erzielte: "Wir trafen uns in Köln oder andernorts, immer zufällig, denn mit Sigmar konnte man sich nicht verabreden. Er war stets gut gelaunt, frisch frisiert und bereit, jeden Unsinn mitzumachen. Einmal, ich erinnere mich genau, versuchten wir, wohl zum 523. Mal, ein richtiges Gespräch miteinander zu führen, mit Anfang und Ende, mit Kontroverse und Übereinstimmung, mit gemeinsamer Erkenntnis, als der Künstlerkollege Charly Banana in Bedrängnis geriet. Der, schon etwas vom Alkohol geschwächt, war ins Visier übler Burschen gekommen, die in irgendeiner heruntergekommenen Disco am Kölner Ring das Sagen hatten. Prompt und beherzt“, Schmid staunt noch heute, "baute sich Polke, allenfalls von mittlerer Statur, vor dem extrabreiten Ober-Rowdy auf und sagte in tiefster Tonlage: 'Höhere Wesen befehlen, lasst Charly in Ruhe!'"
Die Vorstadtgang soll tatsächlich abgezogen sein. Da getraut man sich nicht zu Polke in den Pulk, und andere sagen Sigmar und gehen mit ihm saufen. Wer nicht so nahe dran war, hat bestimmt was verpasst, aber auch das größere Sehfeld. Und wenn man an die philologische Beflissenheit denkt, mit der 2009 in der Hamburger Kunsthalle dem frühen, "politischen" Polke gehuldigt wurde, seiner Rolle als Familienoberhaupt einer Künstlerkommune auf dem Gaspelshof im niederrheinischen Willich, dann verstärkt sich der Eindruck, mit einem aus Hosengummi Dada-würdig gewirkten "Dürer Hasen" könne nicht alles gesagt sein.
Eher wird in der Rückschau deutlich, dass es nicht eigentlich der Spott über die verfallene Welt war, sondern das Experiment mit ihr, das da wieder und wieder an- und vorangetrieben wurde. Ein Versuchsanordner, ein Ausprobierer von Gnaden. Und natürlich galten seine Experimente mit den Bauteilen des Bilds einer aufgeklärten Kultur des Sehens. Zusehen, wie das Bild wird, was aus dem Bild wird: Die libidinöse Struktur des Experiments bewahrte das Werk bis zuletzt davor, in Würde zu erstarren.
Wohl scheinen Welten zu liegen zwischen dem kindsköpfigen "Schneeflöckchen"-Bild des Sturm-und-Drang-Jahres 1967 und den geheimnisvollen Lichtspielen der Kirchenfenster, die nach dreijähriger Umsetzung 2009 im Züricher Grossmünster eingeweiht wurden. Wirklich Weihe. Und wer erlebte, wie der Künstler seine delikaten Achatschnitte erklärte und die Kirchengemeinde ergriffen vernahm, die Streifenmuster des Minerals sollten nach guter Überlieferung in den ersten Schöpfungsaugenblicken entstanden sein, dem ist der Schmäh des jugendlichen Helden tatsächlich etwas fremd geworden.
Dabei: Kein Clown
Sie habe ihn nie anders erlebt, erzählt Kuratorin Bice Curiger. Nie anders als geistreich, gebildet, anregend. Und nie dem Clownsbild entsprechend, das von ihm im Umlauf war. Die Kunstgeschichtsstudentin hatte ihn Anfang der 70er-Jahre kennengelernt. Polke, befreundet mit ihrer Kommilitonin Kathrin Steffen, "kreuzte plötzlich an ihrer Seite auf im hellgrauen Pelzmantel und in Schlangenlederhose". Wie ein Rockmusiker. Seine Art, immer mit der Kamera herumzulaufen und den öffentlichen Raum zu erkunden und in ihm zu forschen, sei ihr vorgekommen wie praktizierte Kulturkritik.
1977 schrieb Curiger ihren ersten langen Text über Polke: "Das Lachen von Sigmar Polke ist nicht zu töten". Für die "Kunstnachrichten" im Heftchenformat, das Forum der kritischen Schweizer Szene. Polke gab einen eigenen Text dazu: "Sie haben wohl ein Loch im Kopf, das Sie mit Kunst stopfen wollen?". Ein seltsames Stück noch heute, delirierend und gedankenklar zugleich. "Das wäre nun aber eine Behauptung, dass Kunst auch Löcher macht! Irgendwo muss das Loch ja herkommen, das stimmt. Ist denn die Kunst so, dass sie erst Löcher macht, die sie dann besetzen will? Das hätte ich mir fast gedacht! Gelocht! Der sogenannte Freiraum der Kunst? Was ist denn so um ein Loch drum rum? Da ist erst mal der Sog ins Loch hinein."
Sog ins Loch. Das ist es vielleicht. Bedenkt man’s lochgeneigt, befindet sich in den Bildern, unter den Bildern immer so etwas wie ein Loch. Wenn sie einem nichtig erscheinen, stellt das Loch nur ein anderes Wort für "Nichts" dar. Und wenn sie sich blähen – fragile Blase, also Versicherung gegen zu viel Etwas, zu viel Würde, zu viel Wichtigkeit. Und immer Sog. Sog ins Loch.
Ohne Überbau und ohne Unterbau
"Auch ich habe nicht alles gleich verstanden", sagt Bice Curiger, "aber wie Polke mit seiner ungemeinen Intelligenz und Neugier die vielen Wissensgebiete, für die er sich interessierte, verknüpfte und zwischen ihnen hin und her schaltete, das hat mich von Anfang an gefesselt." Die Freundschaft hielt bis zum Tod. Gut möglich, dass dem Künstler intellektuell niemand näher war als die Schweizer Ausstellungs- und Magazinmacherin.
Andere berichten von Enttäuschungen, Entfremdungen. Schwierig sei der Künstler geworden, unnahbar, unverständlich. Der Sammler Josef Froehlich hat zu Protokoll gegeben, er habe sich nur um Polkes Frühwerk gekümmert: "Ich kann mit seinen neueren Bildern wenig anfangen. Diese transparenten oder semitransparenten Bilder auf Synthetikstoffen erschließen sich mir so wenig wie die Schüttbilder. Mit den neuen Arbeiten ... wird er auch keine Bäume mehr ausreißen." Vielleicht, sagt Curiger, müsse man so manche Schroffheit auch als Schutz verstehen. Es habe Polke immer verletzt, wenn man den einen Werkteil gegen den anderen ausspielte.
Und überhaupt sollte man ein Œuvre, das mit so erstaunlicher Hartnäckigkeit die Führungslinie verweigert, nicht in "früher" und "später", "alt" und "neu", "vorher" und "nachher" spalten. Wer sich auf die Architektur dieser Bilder einlässt, muss ohne Überbau und ohne Unterbau auskommen und ohne tragfähige Brücken zwischen den schwebenden Räumen. Schon wahr, dass der Maler mit neuen Materialien, neuen Stoffen, neuen Horizonten von langen Reisen zurückkam. Doch ein Neustart war es nicht.
Lauter Echos, Zitate, Ausrisse
Was Polkes Bilder zeigen, zeigen sie mit leichter Hand, die nie schwerer wurde, beiläufig, als hätten sie kaum selbst Interesse an ihrem Gegenstand. "Kartoffelgesichter", "Großer Mann", "Kleiner Mann", "Schwimmbad", Nudisten bei der Feldarbeit, eine Straßengruppe beim "Hütchenspiel", Zirkusfiguren aus dem Ausschneidebogen, die eingeschlafenen Erfinder des Lachgases, eine Männerriege bei der Leibesertüchtigung.
Lauter Echos, Zitate, Ausrisse. Hängenbleiber im Strom der geschnetzelten Weltgegenständlichkeit. Tagesreste in leicht halluzinierender Verwendung, als blätterte einer in einem Heft und verlöre dabei den Blick fürs Einzelne, sähe gar nicht mehr zu und richtig hin. Immer kommt bei Polke alles aus zweiter Hand. Und die malerische Reaktion auf die medial erschlossene Welt hat sich beharrlich freigehalten von jeglicher Versuchung, die emphatische Geste gegen die Beliebigkeit aufzubieten, zu der im Kaleidoskop der Bilder alles Bildhafte zerfallen ist.
Dazu auch kein Widerspruch, wenn man feststellt, die Bilder sind seit den 80er-Jahren deutlich prächtiger, mächtiger, tropischer, exotischer geworden und die Liste der verwendeten Ingredienzien nimmt sich ungleich poetischer aus als in Zeiten des hosengummikonturierten "Dürer Hasen": "Öl, Realgar, Auripigment und Schweinfurter Grün", "Orkan, violettes Pigment, gehaucht, gepustet, gewischt und poliert auf Kunststoffsiegel". Tatsächlich gab es in den letzten Polke-Ausstellungen viel nachzulesen, nachzuschlagen, nachzufragen, zumal die Schulstunden vor Erlenmeierkolben und Reagenzgläsern bereits eine Weile zurückliegen. Und vermutlich lässt sich der komplizierte Bildaufbau mit chemischen Basiskenntnissen gar nicht mehr zureichend verstehen.
Giftige Substanzen: Malerei als Hochsicherheitsrisiko
Wer hätte geahnt und wer gewusst von den verbotenen Substanzen, die da im Atelier herumstanden? Hochgiftig. Manfred Schneckenburger kann noch heute dankbar sein, dass ihn der Künstler mit der Atemmaske nicht hereingelassen hat. Immer mehr war dem Maler malen zum Hochsicherheitsrisiko geworden. Mit schädlicher, tödlicher Konsequenz betrieb er sein Handwerk. Und wie da einer ohne alles Existenzpathos seine Bilder erneut aufs Ganze gehen ließ, sollte jüngere Künstler wie Martin Kippenberger, Georg Herold oder Albert Oehlen mehr beeinflussen als die Radikalität des ewigen Spötters.
Wohl ist hier, im selbstzerstörerischen Einsatz, auch der Unterschied zu Gerhard Richter zu suchen, mit dem Polke vieles verband, der seine Experimente jedoch nie anders als im abgesicherten Modus betrieb.
Es liegt ein gefährlicher Zauber über Polkes Bildern, etwas Dschungelblütenartiges, als entdeckte Malerei ihre sinnlichen Möglichkeiten auf ziellosen Fern- und Zeitreisen, als hätte erst das Atelier zum Labor umgerüstet werden müssen, um koloristische Roh- und Reizstoffe wie Bleimennige, Mangan, Kobalt und Silberbromid zu erschließen.
Zuletzt stand er mit Schutzanzug vor der Staffelei, bewachte die Oxidation dampfender Essenzen und hat nun, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin – und leider auch Theologie – durchaus studiert, die Schönheit aber nur in der Magie gefunden. Große Kehre? Polke vorkopernikanisch?
Ein großer Spekulant aufs Unabsehbare
Ein Abenteurer war er immer. Ein großer Spekulant aufs Unabsehbare. Weshalb auch jedes Bild wieder anders aussieht, sich ganz allein auf sich beruft. Mag sein, dass es so etwas wie ein Polke-Klima gibt, einen auratischen Umschluss des Werks. Aber mehr noch fällt auf, wie das Klima zerfällt, wie in ihm Mutanten entstehen, Seitenlinien, unbekannte Arten, wie kein Bild das andere bloß belehnt. Und was in diesem Werk dem medialen Verschleiß widersteht, das stammt nicht aus großmäuliger Kunstbehauptung, sondern aus der Intelligenz, mit der da einer seine Bilder unabsehbaren Prozessen überlässt.
Experiment, das meint in diesem Werk unauflösbar beides: Durchsichtigmachen der Teile und Überraschung durchs Ganze, Bestandsanalyse und synthetischer Überschuss, kontrollierter Prozess und unerwartetes Ergebnis. Sigmar Polke hat dafür eine verführerische Metapher gefunden: Alchemie.
Verführerisch, weil das nach Lektüre der neueren Polke-Literatur ein wenig goldmacherisch im Ohr klingt und man sich den Maler wie einen spätberufenen Anhänger der mittelalterlichen Ars magna vorzustellen hat, der mit dem Pinsel in der Hand und der randlosen Brille auf der Nase immerfort den Zauberspruch "Solve et coagula" ("Löse und verbinde") murmelt. An Anspielungen herrscht wahrlich kein Mangel. "Athanor", so hieß schon Polkes bläulich-rötlicher Beitrag zur Biennale in Venedig 1986. Und die Eingeweihten raunten: "Athanor", so habe der alchemistische Schmelzofen geheißen. Aber vielleicht sollte man den Meister der Phiolen und Schütttechniken nicht ernster nehmen, als er sich selbst nahm. Sonst kann es passieren, dass einem tief im Tiefsinn der eher flachsinnige Charme dieses Werks abhandenkommt.
Ausbeutung des Geheimnisses ohne Geheimnisverlust
Was bleibt denn vom "Dürer Hasen"- Polke, wenn man die arkanen Muster alle ordentlich identifiziert hat? Wohin mit der obsessiven Lust an der kümmerlichen Form, am verbrauchten Dekor, am miesen Design, am arglosen Reismännlein? Und wäre man nicht doch ein wenig blind spiritisiert, wenn man nicht sehen wollte, wie das "Tischerücken" vor einem Tapetenmuster geschieht, das auch dem Geisterseher die Tränen in die leeren Augen triebe?
Ein Kenner von Giften und Schriften und ein wunderbar alberner Andachtsschreck. Der eine Polke ist nicht ohne den anderen zu haben, der Magier nicht ohne den Spötter, der Aufbauer nicht ohne den Abrüster. Erst aus Aufbau und Abrüstung wird das künstlerische Experiment, von dem dies einzigartige Werk handelt. Sagt man zum einen Entzauberung und zum anderen Verzauberung, hat man gleichsam die Basen jener unspaltbaren Mischung, für die Alchemie nur ein altes, etwas langbärtiges Wort darstellt.
"Alchemistisch" sind diese Arbeiten, indem sie immer ein wenig verwunschen und gänzlich gemacht aussehen, transparent und opak zugleich, an den Bedingungen von Erkenntnis so sehr interessiert wie an ihren unabschätzbaren Folgen. "Alchemistisch" an ihnen ist dieser schwellenfreie Übergang von der Erhellung zur Verdunkelung und wieder zurück, die Ausbeutung des Geheimnisses ohne Geheimnisverlust, die fortschrittslose Verwandlung des einen Bilds ins andere.
Gewinnen kann immer nur der Schieber
Man kann das natürlich auch einfacher sagen. Erhard Klein, der ein vitales Galeristenleben lang Polke begleitet hat, erzählt nicht ohne Stolz, wie es gemeinsam gelungen sei, letzte ästhetische Rätsel im Handstreich zu lösen: "Als ich einmal sogenannte abstrakte Bilder für eine Ausstellung bei Polke abholte und meinen Besuchern gerne etwas Kluges dazu erzählen wollte, fragte ich ihn: 'Sigmar, wat is da drauf?' Worauf er erwiderte: 'Egal, der eine sieht seine Großmutter darin, der andere nur einen Klecks.'"
Warum aber setzt einer seine Gesundheit aufs Spiel, wenn großzügigste Wahlfreiheit besteht? Es muss mit dem Loch zu tun haben. Ein Bild, das sich partout nicht zwischen Klecks und Großmutter entscheiden kann, bleibt gänzlich offen. Also eines mit Loch. So wie unter dem Tisch der "Hütchenspieler" ein Abgrund gähnt. Die Konditionen sind klar. Gewinnen kann immer nur der Schieber. Und doch stehen die Leute wie gefangen um den kleinen Tisch herum. Und das eigentümliche Wabenmuster, das der Maler über die wachsfarbene Holztafel aus dem Jahr 1996 (Sammlung Speck) spannte, scheint ein Zeichen ihres Gefangenseins. Mag das Spiel entschieden sein, bevor es begann, so wie die alchemistische Metallurgie entschieden war, bevor man Athanor, den Ofen, richtig beheizt hatte – der Faszination tut das keinen Abbruch, diesem Sog ins Loch hinein.
Wie ein schüchterner Passant am Hütchenspielertisch, so stand der Kritiker vor Polke im Pulk. Bis er sich schließlich getraute, ein bisschen mitzumachen. Und dann zog der Mann mit der randlosen Brille, der ein wenig an Heinz Erhardt erinnerte, die Mundwinkel wie eine Hebebrücke vor dem Burggraben hoch und sagte "Sog, Sog", und der Kritiker hat nur "So, so" gehört.