Auf wie vielen Ausstellungseröffnungen nimmt man sich vor, nochmal wiederzukommen, um dann tatsächlich die Kunst anzuschauen? Ganz ohne das soziale Tamtam der Vernissage. Und wie oft schafft man es dann tatsächlich nochmal? Und nun das: An einem Freitagabend im späten Oktober eröffnete die Zürcher Shedhalle ihre neue Ausstellung "Contamination/Resilience" – und Sonntag war ich schon wieder dort. Dazwischen lief so viel, dass ich trotzdem den Großteil des Programms verpasst habe.
Dieser Effekt ist in das neue Ausstellungskonzept eingeschrieben: das Programm "Protozonen 2020-2025" fokussiert voll auf den Prozess. Diese erste Ausstellung ist der Startschuss, der die hellen Industriehallen am Ufer des Zürichsees als Ort für "prozessbasierte Kunst" etablieren soll. Inspiriert ist das Programm von künstlerischen Experimenten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die nicht mehr allein das fertige Werk, sondern auch seinen Entstehungsprozess berücksichtigten. Gezeigt werden zeitgenössische Positionen, die von diesem Ansatz ausgehen.
Am Pressetag, einige Tage vor der Eröffnung, hängen grüne, halbtransparente Netze von der Decke und teilen den großen Raum in kleinere Nischen, eine Videoarbeit läuft bereits, vor der die Künstlerin Dominique Koch mit ihrem Laptop konzentriert daran arbeitet. Ansonsten ist es noch ziemlich leer. Ein Gefühl, als sei die Ausstellung eine Woche zu früh eröffnet worden, kündigt die neue künstlerische Leitung um Thea Reifler und Philipp Bergmann für das Eröffnungswochenende an. "Konkret bedeutet das, dass zwar schon viel installiert ist, manche Dinge sich aber noch verändern oder in den Installationen erst stattfinden. Performances, Workshops, Talks und so weiter.", erklären die beiden gemeinsam mit Isabelle Vuong, Lucie Tuma und Michelangelo Miccolis. Mehr Festival als Ausstellung.
Ein nie enden wollender Prozess
Mit dieser Ausweitung des Ausstellungsgedankens ist die Shedhalle nicht allein. Nach über einem Jahr Programm endete vergangenen Sonntag die Berlin Biennale. Seit September 2019 lief die "kuratorische Narration in verschiedenen Kapiteln" des vierköpfigen Teams. Ähnlich handhabt es die Manifesta, die für Herbst 2020 in Marseille angesetzt war, aber schon im September 2019 mit ihrer Bespielung der Stadt anfing. Die Corona-Krise machte der Wanderausstellung bei ihrem partizipativen Ansatz allerdings letztlich einen Strich durch die Rechnung.
Was die Verlängerung für die Biennalen-Idee bedeutet, die sich ja explizit einem zweijährigen Rhythmus verschreibt, sei mal dahingestellt. Doch sogar zur Documenta, in deren DNA die 100-tägige Dauer angelegt ist, bildet seit diesem Sommer das "Ruruhaus" den sanften Auftakt. Stattfinden wird die "Documenta Fifteen" dann letztlich im Jahr 2022. Kein Anfang, kein Ende, sondern ein nie enden wollender Prozess. Ist das die Ausstellungsform unserer Zeit oder sorgt man sich schlicht darum, in Vergessenheit zu geraten, wenn man nur alle zwei Jahre – oder gar fünf im Fall der Documenta – etwas von sich hören lässt?
Bei der Berlin Biennale gab es über ein Jahr lang Workshops, Touren, Talks, Performances, fünf Publikationen, wechselnde Ausstellungen an verschiedenen Orten und einen ständigen Austausch mit der Besucher*innen. Die Mediathek bleibt zugänglich und dokumentiert den Koloss. Klingt in erster Linie super, weil mehr Angebot tendenziell auch mehr Publikum erreicht. Und wer kein Interesse an der vollen Biennale-Dröhnung hat, kann sich Rosinen herauspicken. Alles kann, nichts muss.
Doch in einer Zeit, in der sich erst "FOMO" (fear of missing out, die Angst etwas zu verpassen, weil so viel läuft), dann JOMO (joy of missing out als bewusste Abkehr von all dem Trubel) als bezeichnende Akronyme unseres allgemeinen Gemütszustands herausbilden, sind all die Prozesse vielleicht vor allem eines: zu viel. Einer der Gründe, warum ich eine Ausstellung besuche, ist schließlich der, dass sich dort jemand kuratorisch mit einem Thema auseinandergesetzt und es entsprechend aufbereitet hat. Der schwelende Prozess und aufgeweichte Rahmen der Ausstellungsformate wirkt wie ein Gegenmodell dazu.
Die Ausstellung im stetigen Wandel
In der Shedhallen widerspricht man klar. "Unsere Protozone ist über Monate hinweg gewachsen und wurde immer wieder inspiriert durch den Austausch mit Aktivist*innen, Künstler*innen und Besucher*innen, aber die Verantwortung liegt schlussendlich bei uns.", sagen Thea Reifler und Philipp Bergmann. Neben dem Austausch, den sich auch die wuchtigen Biennalen auf die Fahne schreiben, bedeutet der Prozess in der Zürcher Institution vor allem, dass sich die Ausstellung über die Zeit ihres Bestehens verändert. Wer zu Beginn der Ausstellung in die Shedhalle kommt, wird nicht die gleiche Ausstellung sehen, wie am Ende der Ausstellungszeit.
Während im Hintergrund die Geräusche des Ausstellungsaufbaus zu hören sind, erklärt das Team der Shedhalle wenige Tage vor der Eröffnung wie sie den Prozess institutionell eingewoben haben. Es gibt zwei verschiedene Modi, in denen die Ausstellung funktioniert: Eher klassisch werden die Exponate während der "Lo-Intensity-Phase" als konventionelle Ausstellung gezeigt – werden teilweise mit Veranstaltungen aktiviert oder sind bereits interaktiv angelegt. Beispielsweise die Installation "Black Notebook Extracts" von Shaun Motsi, in der das Publikum Sequenzen in das allzeit bereite Aufnahmegerät liest. Während der "Hi-Intensity-Phase" hingegen zog sich das Programm über das ganze Wochenende, und die große Halle blieb fast durchgehend geöffnet. Komprimiert in zwei Nächten und zwei Tagen ab dem Moment des Sonnenuntergangs am Freitag fanden Workshops, Performances, Lesungen und andere Aktivierungen der zwölf ausstellenden Künstler*innen und Kollaborator*innen statt.
Ein verführerisches Konzept, denn nicht immer lässt sich der künstlerische Prozess auf ein fertiges Werk reduzieren. Es ist der Fluch der hohen Komplexität der zeitgenössischen Kunst, zumindest in Ansätzen den Entstehungsprozess oder den erweiterten Kontext mit einzubeziehen. Reiflers und Bergmanns eigene künstlerische Praxis entstammt den darstellenden Künsten, wo Menschen zwangsläufig im Aufführungsmoment zusammenkommen und so jedes Mal Teil der Entstehung werden. Als sie das Konzept für die Shedhalle entwarfen, wurde ihnen bewusst, dass das in der bildenden Kunst viel seltener der Fall ist.
"Neben wenigen oberflächlichen Begegnungen an der Eröffnung haben weder die Künstler*innen untereinander noch die Besucher*innen mit den Künstler*innen einen intensiven Kontakt. Wir waren oft ziemlich gelangweilt von Ausstellung und Eröffnungen, die immer nach dem gleichen, fast zwanghaften Prinzip ablaufen. Warum nicht mal was probieren und unterschiedliche Möglichkeiten des Zusammentreffens schaffen. Und das über eine längere Dauer als nur einen Abend?", meinen Reifler und Bergmann.
Convenience Food – Convenience Kunst?
Von Seiten der Künstler*innen sei das Feedback durchgehend positiv gewesen. Allein der Austausch untereinander durch die Tatsache, dass viele am "Hi-Intensity"-Wochenende anwesend waren, habe sich von klassischen Ausstellungsmodellen unterschieden. Einige haben in Auseinandersetzung mit dem prozessbasierten Charakter in ihren Projekten einen entsprechenden Fokus gesetzt, andere haben die Möglichkeit genutzt, ihre fortlaufende künstlerische Praxis in unterschiedlichen Formaten zu teilen. Oder schlicht als Besuchende an den Formaten anderer Künstler*innen teilzunehmen.
Der Reiz für die eine Seite ist klar. Die Komplexität der Kunst wird anschaulich und nachvollziehbarer als ein Wandtext in einer Ausstellung sie zu vermitteln vermag. Doch geht da für Besucher*innen nicht etwas verloren? Wenn missing out dazugehört und nicht alle Besucher*innen dasselbe gesehen haben, geht so nicht die Kommunikationsgrundlage verloren, die eine Ausstellung sonst bietet?
Die Diskussion ist eine Gratwanderung. Wer möchte schließlich – angelehnt an convenience food – eine convenience Kunst, in der alles säuberlich und didaktisch wertvoll aufbereitet in bekömmlichen Häppchen verfügbar ist? Denn nur, weil alle Besuchenden das Gleiche sehen, heißt das ja nicht, dass sie dadurch vom Gleichen sprechen können – wieder so ein Nebeneffekt der zeitgenössischen Kunst.
Auf wie viele Prozesse man sich tatsächlich einlassen?
"Ich kann mich darüber austauschen, was war, was ist und was kommen wird. Dabei geht es nicht um ein genaues Wissen oder Verständnis, sondern eher um unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Zeitlichkeiten, den Prozess des Erzählens, des Verstehens, des Spekulierens, der niemals abgeschlossen ist. Um das Wahrnehmen von Veränderung als etwas Grundlegendes.", so Reifler und Bergmann.
Und doch drängt sich die Frage auf, auf wie viele Prozesse man sich tatsächlich einlassen kann. Ich hätte mein Wochenende auch komplett in der Shedhalle verbringen und die "Hi-Intensity" voll ausnutzen können. Nur was hätte ich dann wiederum alles im Rest der Stadt verpasst? Geschweige denn weltweit bei allen sanft an- und auslaufenden Biennalen? Eine abschließende Antwort ist schwierig und vermutlich Teil eines nie endenden Prozesses.
Allerdings hat mich die verheißungsvolle Ansage der Shedhalle im Gegensatz zu den meisten Eröffnungen der letzten Jahre tatsächlich mehrmals in die Ausstellung gelockt. Der Prozess erfordert Anwesenheit und Präsenz und übt seinen Reiz nicht unbedingt über das Angebot, sondern durch sein pures Wesen aus. Prozessbasierte Kunst ist ein Kontrast zu einer Konsumhaltung, die verlangt, dass alles genau dann vorhanden ist, wann man es haben will. Ein Kontrast zu einer klaren Bedürfnisbefriedigung, an die wir uns inzwischen auch in der Kultur mit allzeit verfügbaren Angeboten und bingewatching gewöhnt haben. "Kann ja scheitern", sagen Reifler und Bergmann zu dem großen Experiment, das die "Protozonen 2020-2025" letztendlich sind. "Das ist auch ok." Doch das Schöne an der Ungewissheit ist eben, dass man nicht weiß was auf der anderen Seite liegt. Trust the process.