Seiichi Furuya, geboren 1950 im japanischen Izu, Studium am Tokyo College of Photography, besteigt 1973 in Yokohama ein Schiff und verlässt sein Heimatland, in dessen autoritären Strukturen er keine Zukunft für sich sieht. Mit der Transsibirischen Eisenbahn geht es nach Europa, Wien, dann Graz, wo er 1978 Christine Gössler kennenlernt. Drei Monate später heiraten sie, der Sohn Komyo Klaus kommt 1981 zur Welt. Im folgenden Jahr zeigen sich bei Christine Anzeichen von Schizophrenie.
Sie will Schauspielerin werden, muss jedoch die Ausbildung abbrechen, die Klinikaufenthalte häufen sich. Er ist Teil der künstlerischen Avantgarde Österreichs, wird Mitbegründer des Vereins Camera Austria und der gleichnamigen Zeitschrift. Als Seiichi Furuya 1984 das Angebot erhält, für eine japanische Baufirma als Dolmetscher in der DDR zu arbeiten, zieht die Familie nach Dresden, ein Jahr später nach Ost-Berlin. Am 7. Oktober 1985, dem 36. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, stürzt sich Christine Gössel aus dem Fenster ihrer Plattenbauwohnung in den Tod.
Mit diesem traumatischen Erlebnis versucht Furuya seither durch seine Bilder fertigzuwerden. 1989 veröffentlicht er das Fotobuch "Mémoires". Bis 2010 folgen vier weitere Bände und zahlreiche internationale Ausstellungen, in denen er die Tausenden Aufnahmen, die in den sieben Jahren mit seiner Frau und an ihren diversen Stationen entstanden, in stets neue Zusammenhänge stellt. Er sucht Antworten, hofft, in den Bildern zu sehen, was er im Leben nicht erkennen konnte. "Was ich 25 Jahre gemacht habe, war wie das Empfinden, einem Menschen nahezukommen. Zu verstehen, wie es zu diesem Endpunkt gekommen ist, innerlich. Auch weil ich ständig ein Schuldgefühl habe."
Zur psychischen Erkrankung Schizophrenie, von altgriechisch schizein, "abspalten", und phren, "Seele", gehören Wahrnehmungsstörungen
und Depressionen. Streng, in sich gekehrt wirkt die Frau auf fast allen Porträts, die der Mann von ihr gemacht hat. Als wäre da schon ein Riss zwischen ihr und der Welt.
In "Mémoires" steckt auch Marcel Prousts "Recherche", die melancholische Magie der Fotografie, die den Tod zu überwinden scheint, wie es Walter Benjamin und Roland Barthes beschrieben haben. Wer um Furuyas Geschichte nicht weiß, wird in seinen Stadtaufnahmen, die vor und nach dem Tod Christine Gössels entstanden, auch eine eigenwillige Dokumentation der Existenz in der DDR entdecken, den Blick eines Japaners auf Ost-Berlin, der sich frei bewegen konnte, aber nie Anschluss fand. Eigenartig frisch wirken viele dieser Bilder, da sie mit "West"-Material aufgenommen wurden. Und hart wie diejenigen von Michael Schmidt, der zur selben Zeit im anderen Teil Berlins fotografierte, schonungslos in der Art, wie sich die Tristesse der Stadt in Gesichtern und Gesten wiederfindet.
Der Autor und Theatermacher Einar Schleef hat in einem literarischen Epitaph, das er verfasste, nachdem ihm Furuya 1996 seine Arbeiten gezeigt hatte, im Tod der Frau ein Vorzeichen auf den Untergang der DDR gesehen. "7. Oktober. Geburtstag der Republik. Sie springt aus dem Fenster. Ein Meer von Blumen. Tausende jubeln. Erst zwei Stunden später trifft der Rettungswagen ein, er ist durch die Demonstration aufgehalten worden. Hätte wenn warum."
Seiichi Furuya sagt, es gebe keine Antwort und keine Wahrheit. "Sicher war da diese unumstößliche Tatsache, doch die Wahrheit dazu ist kein Unikat. Ich habe versucht, Bruchteile einer Wahrheit zu finden und zu sammeln, und habe diese immer wieder neu zusammengesetzt, damit es für mich etwas bedeutet. Das ist die maximale Möglichkeit, mehr kann man nicht erreichen."