Gegenüber dem Wasserturm gabelt sich die Straße. Der Mühlenweg verbindet einen See mit dem Ortskern der benachbarten Gemeinde Schwante. Das Ortswappen zeigt zwei durch eine rote Wellenlinie getrennte Frösche und sieht ein bisschen so aus, als wäre es mit "Paint" gemalt worden. Circa 2000 Menschen wohnen hier. Der Schlossweg zur anderen Seite der Gabelung führt über einen schmalen, gepflasterten Pfad mitten hinein ins Grüne – so zumindest der erste Eindruck. Je weiter man dem Weg folgt, desto näher rückt eine Baumfront heran, hinter der sich nur ein dichter Wald oder eine Gated-Hippie-Community vermuten lässt. Ende Gelände?
Wenige Schritte später wird klar: Hier ist nichts "gated", nichts versperrt; das Wahrnehmungsdurcheinander ist bereits Teil der Gesamterfahrung: Herzlich willkommen auf dem Schlossgut Schwante, circa 25 Kilometer nordwestlich von Berlin.
Der Empfang ist imposant. Die zweigeschossige Dreiflügelanlage des Schlosses breitet sich aus wie zur Umarmung aufgefaltete Arme. Obschon als Gutshaus im 18. Jahrhundert angelegt, wird der Bau mit seiner charakteristischen Kolossalpilastergliederung und den Walmdächern der Bezeichnung "Schloss" auf jeden Fall gerecht.
Seit 2019 sind Loretta Würtenberger und Daniel Tümpel die neuen Gutsbesitzer. Der Kauf war für alle Beteiligten eine Überraschung, wie sich die einstige jüngste Richterin Deutschlands und heutige Unternehmerin erinnert: "Zum damaligen Zeitpunkt hatten wir nicht geplant, eine riesige Gartenanlage zu kaufen. Wir kamen gerade von einer Weltreise mit unseren Kindern zurück und wussten nicht so recht, womit es als nächstes weitergehen soll." Ein befreundeter Makler meldete sich bezüglich einer Jahre zurückliegenden Anfrage der promovierten Juristin – damals stand der Verkauf der Immobilie außer Frage.
Auf dem Schlossgut angekommen, beginnt etwas, das man ganz ohne Zynismus als spirituelle Reise bezeichnen muss – so erstaunlich sind die Zusammenhänge und Koinzidenzen. "Der Ort war da und aus dem Ort heraus ist das Projekt entstanden", sagt Loretta Würtenberger. Und dieses Projekt hatte es von Beginn an in sich: Wiederherstellung des Parkes, Innenausbau des Schlosses, Sanierung, Renovierung und Umbau des Restaurants.
Heute will man hier Kunst, Natur und den Genuss von beidem in Beziehung zueinander setzen. Mittlerweile lebt die Familie selbst auf dem Gut und begleitet den Bauprozess und die letzten Vorbereitungen für das große Opening: einen Skulpturengarten unter dem Titel "Skulptur & Natur".
Doch "Begleitung des Bauprozesses" trifft es nicht ganz. Auch Daniel Tümpel, Investmentbanker und Mitbegründer des gemeinsamen Unternehmens Fine Art Partners, erscheint etwas später auf dem Gelände und verkündet, er müsse nochmal "an das Gras ran". Dass er in einer Künstlerfamilie aufgewachsen ist, verrät vielleicht sein Tatendrang: Keine zwei Minuten später sitzt der Enkel des Bauhauskünstlers Wolfgang Tümpel auf seinem mähenden Ungetüm und kürzt die Halme der 20 Hektar großen Parkanlage.
Kunst ganz ungekünstelt ausstellen
Viele der beteiligten Künstlerinnen und Künstler genießen internationales Renommee: von Hans Arp über Gregor Hildebrandt und Monika Sosnowska bis hin zu Ai Weiwei. Die meisten waren vor Ort, um sich selbst ein Bild zu machen. Alle waren auffällig lange am Einrichtungsprozess beteiligt und die meisten haben ihre Kunstwerke als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt. Deshalb konnte ohne die finanzaufwendige Beteiligung von Galerien oder Stiftungen kuratiert werden. Ihre kreative Unabhängigkeit war dem kunstversierten Duo für dieses Projekt besonders wichtig.
"Die Ausstellung setzt sich mit ihrer Umgebung auseinander und geht der Fragestellung nach, wie Kunst und Natur miteinander räsonieren", heißt es in der Pressemitteilung ... der Zauber dieses Ortes lässt sich eben nicht in pressetaugliche Worte packen.
Es beginnt mit der Parkanlage an sich: Umzingelt von 30 Meter hohen Pappeln und ähnlich monumentalen Vegetationen, schließt sich ein durchlässiger Ring um die Parkfläche, ähnlich einer Membran. Das Innere dieses Gartenringes – so bezeichnet es Loretta Würtenberger – ist "selbst wie eine organische Skulptur".
Und genau das bildet die Gartenschau ab. Da sind zum einen die drei Edelstahl-Quadrate des US-Künstlers George Rickey. Die massiven Körper muten schwerfällig an, die grobe Form und die bearbeitete Oberfläche bestärken den Eindruck von gewichtbedingter Trägheit. Nur wer verweilt und sich der aktuell vielbeschworenen Entschleunigung hingibt, kann beobachten, wie die Metall-Quadrate sanft mit dem Wind schwingen. In den Boden eingelassene Wassertanks verwandeln die Wuchtobjekte in ein schwereloses Mobile, das den Wartenden belohnt.
Inmitten eines dicht bewachsenen und sehr schattigen Waldteiches in einer etwas abgelegenen Ecke des Gartens steht Hans Arps Skulptur "Das Ruhende Blatt". Etwas heruntergekommen und ungewaschen wirkt die Skulptur im fahlen Licht, was daran liegt, dass es sich nicht wirklich um das Arp-Werk der Ausstellung handelt, sondern um eine künstlerische Appropriation der Künstlerin Maria Loboda. Zwischen vermeintlich heruntergefallenem Astwerk und im dunklen Dickicht der kühlen Umgebung inszeniert sie diesen ikonischen Körper als Reminiszenz – ein Spiel mit vorschnellen Urteilen.
Die Liste pointierter Interventionen in den natureingelassenen Raum setzt sich fort: Lee Ufans auf den Regen reagierendes "Relatum-Position", eine Eisenplatte, die sich mit jedem Niederschlag verändert; Toshihiko Mitsuyas Aluminium-Blumengarten oder Tony Craggs Skulptur "Elliptical Column", die trotz seiner sechs Meter Höhe wie ein Zwerg zwischen den Pappelhünen wirkt. Größten Respekt zollt Loretta Würtenberger den künstlerischen Beiträgen: "Ich finde es bemerkenswert, dass sich die Künstlerinnen und Künstler getraut haben, diese enorme Aufgabe anzugehen. In dieser Umgebung muss sich ein Werk wirklich behaupten."
Eine andere Werkgruppe – auch wenn damit keinesfalls räumliche Nähe impliziert ist – bedient sich Narrativen oder erfährt so wie die gesamte Schau einen völlig neuen Kontext durch die coronabedingten Maßnahmen, Sorgen und Zukunftsfragen. Martin Creeds über dem Wasser schwebende Neonarbeit "Everything is going to be alright" stellt diese selbsttherapeutische Formel zur Disposition – befeuert durch die aktuellen Umstände.
"Es ist interessant, was Corona mit unserem Projekt gemacht hat", bemerkt Loretta Würtenberger während der letzten Vorbereitungen vor der Eröffnung. Die Auswahl der Kunstwerke und die konzeptionelle Ausarbeitung liefen schon lange vor dem Virus an. "Einige der Kunstwerke aber auch der ganze Ort bekommen durch diese Pandemie eine ganz neue Relevanz."
Mit Rückgriff auf den bereits beschriebenen Ort offenbart die Kunstkennerin, zu welcher Erkenntnis sie und Daniel Tümpel gekommen sind: So wie der Garten in seiner natürlichen Ausprägung angelegt ist, ringsherum gesäumt von meterhohen Pappeln, erscheint er wie ein Vogelnest, wie ein spiritueller Ort der Einkehr. Oder genauer: wie ein "Hortus Conclusus", der vor allem in der christlichen Mariensymbolik eine wiederkehrende Rolle spielt. Konzepte von Konzentration, Kontemplation und Meditation rücken wieder verstärkt in den Vordergrund.
"Da ist ein Pony ausgebüxt"
Hingegen nimmt der Garten des kunstbegeisterten Ehepaares auch über seine geografischen Grenzen hinaus Bezug auf seine Umgebung. Referenzen auf die Schwantner Gemeinde mit ihre Geschichte und Kultur finden sich mehrfach wieder auf dem Gutsgelände. Zum einen bezieht sich die Künstlerin Alexandra Hopf mit ihrer Neonglasarbeit "Spell Around The Corner" auf eine hiesige Sage, die schlaflose Nächte, einen verärgerten Vorbesitzer des einstigen Rittersitzes und lärmende Frösche beinhaltet. Enigmatisch erinnert Hopf an den Zauberspruch, der einst Ruhe in diesen Garten gebracht haben soll. Zum anderen ist der Eintritt für Schwantner durchgehend frei und noch vor der Eröffnung fällt auf, wie viele Menschen aus der Umgebung den Garten zumindest passieren oder durchqueren.
Dann steht auch plötzlich mal eine leicht besorgt dreinblickende Nachbarin neben der Gutsbesitzerin und warnt: "Da ist ein Pony ausgebüxt." Mit Routine verschwindet Loretta Würtenberger dann um die Ecke, führt das Pony wieder an seinen zugewiesenen Platz und lässt wissen: "Wirklich weg will es auch nicht. Weiter als drei Meter vom Zaun hat es sich bisher nie wegbewegt." Und verdenken kann man es dem Pony auch nicht. Neben den (bisher) zwei Hühnern, einem weiteren Pony und einem Pfau ist die dauerkauende Haarpracht vom Schwantner Gutshof hier in bester Gesellschaft.
Zwischen den Kunstwerken läuft auch Majid auf Vorbereitungshochtouren. Der 34-Jährige musste vor einigen Jahren nach Deutschland fliehen und wartete seitdem auf dem Hof des Nachbarn auf die Möglichkeit, Arbeit nachzugehen. Die er nun im Skulpturengarten und dazugehörigen Restaurant im hofeigenen Backsteinhaus gefunden hat. Auch hier setzt sich der Regionalbezug fort: Fleisch kommt beispielsweise von den Wasserbüffeln des benachbarten Bauern, Zutaten für Cocktails aus dem eigenen Garten, Schnäpse und Weine werden von befreundeten Manufakturen bezogen.
Selbst bis in den "Hofladen" hinein ließen Tümpel und Würtenberger ihre kuratierenden Hände walten und wählten selbstständig und bedächtig, welche und wessen Bücher, hausgemachte Marmeladen oder Apfelkekse sie hier anbieten.
Wie im Film
Doch zum vollendeten Genusserlebnis fehlen noch die letzten Ingredienzen. Ohne zu viel vorwegzunehmen, kann man wohl einen anekdotischen Zufall zitieren, der zum Charme des Gartenvergnügens beiträgt: Bei einer öffentlichen Vorführung des Filmes "David" (Regie: Peter Lilienthal, 1979) im Willy-Brandt-Haus in Berlin kam die Idee auf, sich auch im Schwantner Garten der kinematografischen Kunst zu widmen und ein Open-Air-Kino ins Leben zu rufen, in dem Filme gezeigt werden, die eine Beziehung von Kunst und Gärten thematisieren.
Wenige Wochen nach dieser Eingebung kam Würtenbergers und Tümpels Nachbar im vorhergehenden Wohnort Sacrow auf beide zu, drückte ihnen eine DVD in die Hand und teilte mit: "Hier ist ein Film, bei dem ich damals mitgewirkt habe. Da geht’s auch um Gärten und Kunst und vielleicht ist das ja was für euch." Der Film war der kurz zuvor gesehene "David" und damit kam das Unternehmerpaar zu ihrem kuratierten Filmprogramm gemeinsam mit Joachim von Vietinghoff – dem ehemaligen Nachbarn aus Sacrow. Leider musste das ergänzende Rahmenprogramm um einige Punkte verkürzt werden, solange die Hygiene- und Abstandsregeln keine Anpassungen erfahren.
Neben allen genussfördernden Vorteilen, die die Gartenanlage mit sich bringt, sieht Loretta Würtenberger auch eine Notwendigkeit. Der Bedarf sei da, weil es in Deutschland einfach nicht so viele vergleichbare Orte im Außenbereich gebe. Orte, an denen Kunst auf eine der Kunst angemessenen Weise gezeigt werden kann und sich gegen die Wucht der umgebenden Natur behaupten muss. Doch Werke, die dieser Probe standhalten, kommen in dieser Gartenanlage zu einer unnachahmlichen Geltung.
Ein zweistündiger Spaziergang über das Gelände fühlt sich wie ein vorbeiziehender Augenblick an und erst am Ende der vorgeschlagenen Route erinnert ein Hungergefühl, dass so eine Einkehr in das Restaurant im Backsteinhaus eigentlich auch dazugehört.
Wie kleine Bibeln liegen die kompakten schwarzen Büchlein mit Zitaten von Künstlern auf einem Tisch im kapellenartigen Essbereich des Restaurants. Durch zwei ausgefräste Kreuze fällt natürliches Licht in den Raum und der Anbau wirkt, als hätte jemand eine Kirche der Kunst intendiert. Wer bereit ist, sich unvoreingenommen auf diesen Skulpturengarten einzulassen, dem sei versprochen: Mehr als drei Meter weit weg vom Zaun will man sich dann auch nicht mehr bewegen.