"¿Hablas español?", fragt Rosalía, nachdem sie am Sonntagabend schon eine Stunde auf der Bühne steht und beeindruckend viele Sätze auf Deutsch gesprochen hat, obwohl jeder ihrer Songs vom Publikum im ausverkauften Berliner Velodrom euphorisch mitgesungen wird. Auch jetzt antwortet die Crowd mit einem langen "Síííííí" – also fährt die spanische Sängerin in ihrer Muttersprache fort: Sie wisse, wie es sich anfühlt, weit weg zu sein von zu Hause, "Motomami" sei innerhalb von zwei Jahren weit weg von ihrer Familie entstanden.
Dann singt sie das ältere Flamencostück "De Plata", auf den riesigen Bildschirmen ist ihr Gesicht in extremer Nahaufnahme zu sehen, ihre Augen füllen sich mit Tränen und die Kamera schwenkt schließlich weg.
Seit Juli ist Rosalía Vila Tobella mit ihrem dritten Album "Motomami" auf Welttour, es ist die 40. Station hier in Berlin, Mitte Dezember endet der Konzertreigen in Paris. "Motomami" und auch das Vorgängeralbum "El Mal Querer" sind absolut atemberaubende Genre-Mashups aus Reageton, Flamenco, Bolero und Trap, ein Crossover, der ihr neben all dem vielen Lob auch kritische Stimmen einbrachte. Als die 30-Jährige kürzlich bei den Latin Grammys in vier Kategorien gewann, war diese Kritik wieder zu hören: Wie könne eine Spanierin sich die Musik Lateinamerikas aneignen, warum benutzt sie dominikanische Slangausdrücke?
Die Bühne als Live-Studio
Die Bedenken ändern nichts daran, dass sie in ganz Iberoamerika ein riesiger Star ist, mit Reagetongrößen wie Bad Bunny, Daddy Yankee und J Balvin singt, aber auch mit Travis Scott und The Weeknd. Die im klassischen Flamenco ausgebildete Rosalía hat – neben C. Tangana – der andalusischen Musik ein zeitgenössisches Update gegeben. Und das, obwohl sie aus Katalonien kommt, noch so eine produktive Aneignung.
Absolut gegenwärtig ist dann auch die Umsetzung auf der Bühne, die hier wie ein Studio funktioniert, in dem Live-Videos entstehen: eine wie ein Greenscreen gebogene weiße Fläche, auf der Rosalía mit einer Tänzer-Gruppe performt, dabei gefilmt wird und sich selbst filmt. Die mit endlosen Effekten versehenen und in Echtzeit geschnittenen Videos sind dann auf zwei Screens links und rechts neben der Bühne zu sehen, natürlich im Hochformat, wie auf gigantischen Smartphones.
Besonders wenn die Tänzer oder Rosalía sich selbst filmen, wirkt das wie eine Instagram-Story oder ein TikTok-Video, was sofort eine unvermutete Nähe herstellt zu den 15.000 Menschen. Die Kamera scannt dieses offene Gesicht, einmal leckt Rosalía sogar die Linse ab, alles wirkt nahezu perfekt und doch improvisiert. Überhaupt ist das das große Wunder der Show, wie die durchgetaktete Inszenierung auch bei der 40. Aufführung immer noch so frisch aussehen kann, so leicht und auch, ja, authentisch.
Wie authentisch kann ein Popstar überhaupt sein?
Es ist müßig zu fragen, wie real die Bühnenfigur wirklich ist: Sind die Tränen echt, ist das Lachen aufgesetzt, hat sie die deutschen Sätze auswendig gelernt oder werden sie ihr durch einen Audio-Prompter souffliert? Rosalía liefert mühelos den maximalen Effekt allein mit musikalischen, filmischen und performativen Mitteln. Sie twerkt, sie schmachtet, sie rappt, sie ist lustig, sie ist traurig, sie führt eine weite Palette künstlerischen Ausdrucks vor: Seht, eine moderne Frau mit all den Widersprüchen, Tiefen und Dramen und Albernheiten unserer Zeit. Außer den ikonischen Motorradhelmen braucht sie deshalb auch keine Requisiten oder Kostümwechsel (wobei dann auch kaum auffällt, dass hier bis auf bei drei Songs mit Pianos und Gitarre auch keine Musikinstrumente zum Einsatz kommen).
Es ist ein ständiges Rein- und Rauszoomen zwischen Intimität aus fantastischer Stimme, Mimik, Gestik auf der einen Seite, minutiöser Choreografie und dem Overload aus Stilen auf der anderen. Zwischen globalem Pop und lokalen Elementen (fantastisch, wie das Publikum mit palmas fuertes, also rhythmischen Klatschen die Flamenco-Songs begleitet). Wie authentisch kann ein Popstar dabei sein – das ist das große Thema von Rosalía selbst, die allein im Stellen dieser Frage absolut authentisch wirkt. Die Überinszenierung mit minimalen Mitteln ist dabei ihre Antwort, die Multiperspektive der Kamera, sie sagt: Rosalía ist Legion.