Bis zur Decke hat Ron Mueck seine überdimensionalen, bis 150 Zentimeter hohen Totenschädel in der großen, lichten Halle der Fondation Cartier angehäuft. "Mass" (2017) heißt die Installation und ist schon von draußen durch die Glasfassade zu erkennen. Obwohl von makellosem Weiß und ebensolch makelloser Oberfläche, ein Tick des berühmten Mueckschen Naturalismus'm sind auch bei den insgesamt hundert Schädeln Unterschiede zu entdecken. Denn die immer ganz leicht anders geformte Nasenhöhle zeigt: Jeder 'scheint Einzelstück zu sein.
Als universale Ikone, traditionsreiches Symbol und Emblem hat der Totenkopf sofort unsere Aufmerksamkeit. Begegnen wir ihm in der Kunst gerne in der Rolle des memento mori, kennen wir ihn in einer solchen Masse, wie ihn der australische Künstler nun in Jean Nouvelles Glashaus am Boulevard Raspail angehäuft hat, vor allem aus Nachrichtenbildern von Massengräbern.
Und obwohl die wilde Anhäufung der Schädel die Assoziation nicht unbedingt nahelegt, unwillkürlich denkt man heute doch an die unrühmlichen, eher selten gezeigten, dafür aber viel debattierten Schädelsammlungen, etwa die der Leipziger Anatomie, wo 1068 Schädel aus fünf Kontinenten lagern, oder die Blumenbachsche Schädelsammlung der Universität Göttingen mit 840 Exemplaren.
Trotz Schleim und Blut bewundernswerte Natur
In Muecks Installation hallen vor allem die Nachrichtenbilder nach und die Bilder populärer Totenkulte. "Mass" wurde von der National Gallery of Victoria in Melbourne in Auftrag gegebenen und ist nun erstmals außerhalb Australiens zu sehen. Neben dieser Installation trifft man im Erdgeschoß der Fondation noch auf "A Girl" (2006), eines von drei ikonischen Werken aus den 2000er Jahre in der Schau. Der Anblick der gigantischen Skulptur eines noch blutverschmierten und nicht abgenabelten Neugeborenen, verlangt den Betrachtern in seiner Eindringlichkeit einiges ab. Will man das so genau sehen?
Offensichtlich ja. Denn Muecks Kunst ist erfolgreich. Vielleicht, weil sie uns etwas gibt, was es nicht wirklich gibt: eine in all ihren Fehlern und Macken, in ihren ekligen Seiten, ihrem Schleim und Blut trotzdem bewundernswert schöne, makellose Natur. Ihr wahres Bild, das uns – ob der großartigen Kunstfertigkeit, die in ihm steckt – trotzdem gefällt. Was man jetzt aber in jedem Fall genau sieht, ist ein Wandel in Ron Muecks künstlerischer Auffassung. Der Hyperrealismus, der neben dem irritierenden Spiel mit dem Maßstab Muecks Nachbildungen bislang charakterisiert, die fantastische Genauigkeit der – recht besehen – ziemlich verdrossenen Miene des Babygirls und die Lebensechtheit seines gerade dem Mutterleib entschlüpften, feucht glänzenden Körpers, ist einer abstrahierenden Wahrnehmung gewichen.
Die weißen Schädel könnten in ihrer glatten Präzision dem 3D-Drucker entstammen und das jetzt für die Pariser Ausstellung geschaffene Hunderudel "Untitled (Three Dogs)" ist eine genaue, in Ton ausgeführte Studie hündischer Ausdrucksformen, sichtbar in der Körperspannung der eindrucksvoll überdimensionierten Tiere. Doch jenseits der sorgfältigen Nachbildung von Körperbau, Muskulatur und dem Spiel der Ohren ist sie bar aller naturalistischen Details.
Großer Aufwand, große Wirkung
Es scheint so, als träte in Ron Muecks dritter Ausstellung in der Stiftung Fondation Cartier, hinter dem Puppenspieler, der 2002 und 2013 noch die Bühne beherrschte, der Bildhauer hervor. Tatsächlich hat Mueck in den 1980-Jahren noch Spezialeffekte für den Film und Puppen für die "Muppet Show" gebaut, bevor er 1995 als immerhin schon 37-Jähriger zur Kunst kam. 1997 war er dann mit seinem "Dead Dad" Teil der legendären Gruppenausstellung "Sensation: Young British Artists from the Saatchi Collection" und damit schnell berühmt. Kurz danach präsentierte er schon seine Arbeiten im Haus am Boulevard Raspail, was zu der bis heute andauernden Zusammenarbeit führte, wie Chris Dercon hervorhob, als er sich anlässlich der Eröffnung von Muecks aktueller Schau als neuer geschäftsführender Direktor der Fondation Cartier vorstellte.
Der tote Vater ist wie auch die späteren Figuren Resultat eines komplexen Arbeitsprozesses, in dem Mueck seine Entwürfe zunächst anhand lebender Modelle skizziert. Die daraus entwickelten Tonmodelle werden dann in Fiberglas und Kunstharz und die Gesichter für die Feinzeichnung der Mimik noch einmal in Silikon gegossen. In einem langwierigen Feinschliff perfektioniert der Künstler schließlich die Oberfläche der Figuren, denen er anschließend ihre Haut aufmalt, samt Poren, Pickeln und Falten, am Ende versieht er sie mit ihrer Körperbehaarung, die von Tieren stammt.
Umstandslos setzt sich dieser enorme Arbeitsaufwand in schiere Wirkung um. Betrachtet man den verkleinerten nackten "Man in a Boat" (2002), wie er mit verschränkten Armen vorsichtig aus seinem wahrlich ausladenden Kahn herauslugt, kann man nicht anders, als diese atemberaubende Nachahmung der Natur zu bewundern. Und dieses Staunen hat Gültigkeit. 300 000 Besucher sahen 2013 seine zweite Pariser Schau. Sie ist die bis heute meistbesuchte Ausstellung der Fondation Cartier.