Diese Kinderaugen kann man nicht vergessen. Der schurkische Sykes, der den kleinen Oliver Twist auf der Flucht als Geisel genommen hat, ist mit dem Hals unabsichtlich in einen Strick geraten. Er fällt, zappelt am Strang und erstickt über einer Londoner Straßenschlucht. Wie Roman Polański in seiner Dickens-Verfilmung "Oliver Twist" von 2005 die Reaktion des Titelhelden zeigt, ist tiefbewegend. Oliver, weniger erleichtert denn fassungslos über den Tod seines Peinigers, geht rückwärts einige Schritte zurück vom Abgrund. Die Kamera zeigt sein Gesicht in Nahaufnahme, mit weiten Augen, dann wird der Junge vom Schatten des Hausdachs verschluckt. Polański setzt hier einen nachtschwarzen Schlusspunkt – das angefügte Happy End (Oliver wird von guten Menschen adoptiert und gelangt an die Sonnenseite) kommt dagegen nicht an.
Ganz offensichtlich hat sich der Filmregisseur, der am 18. August 1933 in Paris geboren wurde, mit dem berühmtesten Waisenjungen der Literaturgeschichte identifiziert. Im finalen Cliffhanger zeigt Polański einen Blick, der schon viel Furchtbares gesehen hat. Die Schrecken der Kindheit wird der erwachsene Oliver kaum abschütteln können.
Dass Polańskis Kindheit schwer war, wirkt angesichts seiner Lebensgeschichte stark untertrieben. Er stammte aus einer jüdischen Familie, die Eltern waren aus Polen nach Paris gekommen und zogen Anfang 1937 mit Roman (eigentlich Raymond) und seiner Halbschwester nach Polen zurück. Ab 1941 lebte die Familie im Krakauer Ghetto, Polańskis Mutter wurde 1943 in Auschwitz ermordet, der Junge selbst konnte im selben Jahr aus dem Ghetto fliehen und entkam der Verfolgung in verschiedenen Verstecken.
Die Traumata der Kindheit scheinen durch
Anders als Steven Spielberg ("Meet the Fabelmans") hat Polański nie einen direkt autobiografischen Film gedreht. Und doch hat er seine Kindheit filmisch verarbeitet. Das Trauma scheint in vielen seiner über 30 Kurz- und Langfilme durch. In "Der Pianist" (2002) um den polnischen Klaviervirtuosen und Komponisten Władysław Szpilman, gespielt von Adrien Brody, kam der Filmemacher seiner eigenen Geschichte besonders nah. Polański hat den im Warschauer Ghetto spielenden Film immer für seinen wichtigsten gehalten.
Nach einigen Kurzfilmen und Auftritten als Schauspieler in Polen erlebt Polański 1962 seinen Durchbruch mit der Dreiecksgeschichte "Das Messer im Wasser", die auf den Filmfestspielen von Venedig den Kritikerpreis gewinnt und für einen Oscar nominiert wird. In Polen gerät der Filmemacher unter Druck, nachdem Parteichef Władysław Gomułka den Spielfilm-Erstling als "intellektuell flach" kritisiert hat. 1963 emigriert Polański aus Polen und dreht starke Frühwerke wie "Ekel" (1965, mit Cathérine Deneuve), "Wenn Katelbach kommt..." ("Cul-de-sac", 1966, mit Deneuves früh verstorbener Schwester Françoise Dorléac) und "Tanz der Vampire" (1967, mit Sharon Tate, die er nach dem Dreh heiratet).
Abgesehen von dem vom Gangsterfilm inspirierten "Cul-de-sac" sind die ersten englischen Filme am Horrorkino orientiert. Seine "Dracula"-Variation zeigt ihn als Meister der Parodie – in der Rolle des Vampirjägers Alfred wird Polański selbst von einem schwulen Blutsauger gejagt. Aus "Ekel" spricht vor allem das Gespür des Regisseurs für Paranoia und Klaustrophobie: Deneuve spielt eine introvertierte Maniküre, die in einem Londoner Apartment wahnsinnig und zur Mörderin wird. Gut zehn Jahre später verkörpert Polánski selbst in seiner Roland-Topor-Verfilmung "Der Mieter" die Hauptrolle eines zurückhaltenden Büroangestellten, der sich auf fatale Weise mit seiner Vormieterin identifiziert, die sich aus dem Fenster der Wohnung im dritten Stock stürzte.
Späte Rache durch Quentin Tarantino
Nach der Heirat mit Sharon Tate 1968 in London zieht das Paar in die USA. Polański dreht in New York "Rosemaries Baby", einen der raffiniertesten und erfolgreichsten Horrorfilme aller Zeiten. Im August 1969, Polański und Tate haben inzwischen eine Villa in Beverly Hills bezogen, wird die hochschwangere Schauspielerin von Anhängern des Sektenführers Charles Manson ermordet. 2019 wird das Ereignis, das den in der Mordnacht abwesenden Polánski in eine tiefe Depression wirft, von Quentin Tarantino verfilmt: In "Once Upon a Time in Hollywood" (mit Leonardo DiCaprio, Brad Pitt, sowie Margot Robbie als Sharon Tate) erhält die Geschichte allerdings einen entscheidenden finalen Twist. Und Polánski ist bei Tarantino nur eine kleine Nebenfigur.
Dass Polański nach der Schreckensnacht die Kraft findet weiterzuarbeiten, ist erstaunlich. 1971 bringt er eine faszinierende, ausnehmend realistische und blutige Verfilmung des Shakespeare-Dramas "Macbeth" ins Kino, 1974 entsteht sein letzter – großartiger – Hollywoodfilm "Chinatown", ein Film noir in der Tradition von Howard Hawks’ "The Big Sleep" (mit Bogart und Bacall), nur realistischer, vor allem was die politischen Intrigen im Los Angeles der 1930er angeht.
Dank der Rolle des Privatdetektivs Jake Gittes wurde Jack Nicholson weltberühmt. Faye Dunaway stirbt in der weiblichen Hauptrolle einen der gewaltsamen Filmtode in letzter Minute, die viele Polański-Filme der Zeit nach Tates Ermordung prägen. Am Schluss des Thrillers "Frantic" (1988) wird Emmanuelle Seigner (seit 1989 mit Polański verheiratet) unerwartet erschossen, in "Der Ghostwriter" (2010) muss Ewan McGregor im Finale sein Leben lassen.
Dünne zivilisatorische Kruste
Schwarzer Humor und eine Komik, die auf den Abgrund zusteuert, prägen seine Filme. Typisch für Polańskis Stil ist die Komödie "Der Gott des Gemetzels" (2011), die auf einem Bühnenstück von Yasmina Reza basiert. Die beiden Ehepaare, die in einem Apartment in Brooklyn eine Auseinandersetzung über ihre Kinder führen (einer der Jungen hatte dem anderen im Park einen Zahn ausgeschlagen), bewegen sich auf einer dünnen zivilisatorischen Kruste, und der Regisseur arbeitet dieses Beinahe-Bröckeln von Kultur und Konvention fantastisch heraus – nicht zuletzt dank der Stars Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly. Unvergesslich der Moment, in dem Winslet mit Karacho auf Fosters Kunstkataloge kotzt.
"Carnage", so der Originaltitel, wurde komplett im Pariser Studio gedreht. Seit den späten 1970ern hat Polański die USA nicht mehr betreten. 1977 wurde der Regisseur in Los Angeles wegen "Vergewaltigung unter Verwendung betäubender Mittel" der damals 13 Jahre alten Samantha Jane Gailey angeklagt. Polański bekannte sich schuldig, wurde für 90 Tage ins Gefängnis eingewiesen und nach 42 auf Bewährung freigelassen. Zum Schutz des Opfers hatte es im Strafverfahren eine Verständigung (plea bargain) gegeben, an die sich der zuständige Richter allerdings nicht halten wollte.
Nach seine Entlassung floh Polański nach London, zog schließlich nach Paris. Seither ist die öffentliche Diskussion um seine Taten (in den vergangenen zehn Jahren kamen weitere Verwaltigungsvorwürfe hinzu) nie abgerissen. Als der Filmemacher im September 2009 auf Betreiben der US-Strafverfolgungsbehörden auf dem Züricher Flughafen verhaftet wird (die Haft wird im Dezember durch einen elektronisch überwachten Hausarrest ersetzt), sind die Reaktionen geteilt. Regiekollegen wie Martin Scorsese, Pedro Almodóvar und Woody Allen unterzeichnen eine Petition für Polańskis Freilassung.
Ist eine Exkommunizierung angebracht?
Mit jeder seiner Premieren auf Filmfestivals wird darüber gestritten, ob Polański überhaupt nominiert werden sollte. Woraus sich die Frage ergibt, wie groß der Anteil von Schauspielerinnen, Autoren, Kameraleuten an einem Film einzuschätzen ist. Ist es richtig, ein ganzes Team aufgrund der problematischen Vergangenheit eines Regisseurs mit abzustrafen?
Weiter gefragt: Sollte man (ein zweifellos hervorragendes) Werk und Person des Urhebers säuberlich voneinander trennen? Welches Maß an Verfehlung schmälert das Schaffen einer großen Künstlerpersönlichkeit so weit, dass eine Exkommunizierung angebracht wäre?
Bei den Filmfestspielen von Venedig hält man Polański jedenfalls bis heute die Stange. Allerdings wird sein neuer Film "The Palace" (mit Mickey Rourke, John Cleese, Fanny Ardant, Oliver Masucci) auf der Mostra im September "nur" außer Konkurrenz gezeigt (ebenso wie "Coup de Chance" von Woody Allen – noch so eine persona non grata für Teile der Filmwelt). Der Vorgängerfilm, 2019 auf dem Lido uraufgeführt, durfte noch in den Wettbewerb und wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Erstaunlicherweise hatte die Jury-Präsidentin Lucrecia Martel die Nominierung des Historienfilms "J’accuse" ("Intrige") damals im Vorfeld noch harsch kritisiert.
Schatten auf dem Gesamtwerk
Einmal mehr hatte sich Polański in dem Film um die Affäre Dreyfus, die die französische Republik Ende des 19. Jahrhunderts erschütterte, mit dem Thema Antisemitismus auseinandergesetzt. Die Titelwahl ("Ich klage an", nach dem berühmten Brief von Emile Zola) ist aber auch als Abrechnung Polańskis aufgefasst worden, der mit seinem Prozess von 1977, den Folgen und nicht zuletzt: seiner eigenen Verantwortung, seinem Delikt, offenbar immer noch nicht zurechtkommt.
Seine eigenen Aussagen ergeben kein klares Bild. Einerseits bekennt der Regisseur sich schuldig, andererseits übt er heftige Kritik an der #Metoo-Bewegung und der angeblich "frigide" gewordenen Kultur. Polański – ein schwieriger Fall. Man fühlt sich ein wenig an den US-Regisseur Elia Kazan erinnert, der sich an McCarthys Hetzjagd gegen "kommunistische Umtriebe" beteiligte und danach immer wieder Märtyrerfiguren in den Mittelpunkt großartiger Filme wie "Die Faust im Nacken" oder "Jenseits von Eden" stellte, Filme, die immer wieder auch von Rechtfertigungsdrang, Schuldgefühlen und Verstrickungen erzählten.
Kazan starb mit 94. Polański wird jetzt 90. Er hat dem Weltkino unvergessliche Momente geschenkt, auf seinem Gesamtwerk liegt jedoch ein Schatten.