G20-Gipfel im Museum

Die Kunst des Verhandelns

Wenn sich gerade Staatschefs und andere Politikerinnen zum G20-Gipfel in Rio treffen, tagen sie im frisch renovierten Museu de Arte Moderna. Das ist kein Zufall, denn das ikonische Haus erzählt viel über das brasilianische Selbstverständnis 

Dieser Anblick ist selbst für Pablo Lafuente ungewöhnlich. "Kaum jemand hat das Museum so gesehen", sagt der künstlerische Leiter des Museu de Arte Moderna (MAM) in Rio de Janeiro, als er die Tür von einem der ersten modernistischen Gebäude Brasiliens öffnet. Mit "so" meint Lafuente: leer. Das ikonische Museum für Moderne Kunst, im Jahr 1948 gegründet und 1955 fertiggestellt, ist rund sechs Monate für den zweitägigen G20-Gipfel in Rio renoviert worden, der an diesem Montag und Dienstag stattfindet. Das Haus wurde geschlossen, Kunstwerke kamen ins Depot oder blieben gleich dort. Ende Oktober übergab die Stadt das überholte MAM an die Regierung, in Anwesenheit von Außenminister Mauro Vieira und der First Lady Janja Lula da Silva, die als Fürsprecherin des Museums als Veranstaltungsort des Gipfels gilt.

"Kommt, lasst uns hineingehen", sagt Pablo Lafuente. Über eine Sammlung von rund 16.000 Werken moderner und zeitgenössischer Kunst verfügt die Institution. Vor dem künstlerischen Leiter und seiner Besuchergruppe breitet sich an diesem Nachmittag die Eingangshalle aus, in der nichts außer dem Informations- und Ticketschalter zu finden ist. Eine geschwungene, freitragende Treppe verbindet die Halle mit dem ersten Stock. 

"Das Gebäude ist fantastisch", schwärmt Lafuente, der auch schon Kurator der Biennale von São Paulo war. "Es ist ein Skelettbau, die Säulen sind diese Beine außerhalb, was bedeutet, dass der erste Stock auf diesen Säulen steht." Dies in den 1950ern zu bauen, sei eine große Errungenschaft gewesen, ingenieurstechnisch anspruchsvoll. "Und die Treppe ist die zweitbeste nach der im Itamaraty." Die Spiral-Treppen-Skulptur im Außenministerium in Brasília, die der 2012 verstorbene deutschstämmige Architektur-Star Oscar Niemeyer entworfen hat, gilt als Inbegriff von Form und Eleganz, als "Königin der modernen Treppen". 

Keine triviale Wahl

Das Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro hat Niemeyers Zeitgenosse Affonso Reidy (1909-1965) konzipiert, der als Chefarchitekt von Rio an der Restrukturierung des Zentrums mitarbeitete. Reidys Frau Carmen Portinho war eine der ersten Ingenieurinnen Brasiliens. Sie beendete das Museum an der Guanabara-Bucht, nachdem Reidy gestorben war. Das Gebäude besteht aus drei Blöcken: den Ausstellungsräumen, dem Schulbereich und einem Auditorium. "Die Idee ist, dass alle drei Blöcke das bilden, was ein modernes Kunstmuseum heute ausmacht", sagt Lafuente. Auch damals stand eine internationale Veranstaltung im MAM bevor: die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds. 

1999 fand in dem Museum unter deutscher EU-Präsidentschaft der erste EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel statt. Gewissermaßen schließt der G20-Gipfel, bei dem das renovierte Haus nun Staatschefs und andere politische Vertreter von 19 Industrie- und Schwellenländern sowie der EU und der Afrikanischen Union empfängt, an die Tradition des Ortes als Bühne für internationale Veranstaltungen an. Aber Lucas Padilha, Vorsitzender im G20-Ausschuss von Rio, sagte gegenüber Monopol: "Einen Gipfels von Staatschefs im MAM, das rund 60 Jahre alt ist, abzuhalten, ist keine triviale Wahl. Das einfachste wäre ein Resort oder ein riesiges Kongresszentrum gewesen. Meine Arbeit wäre dann vielleicht auch schon vorbei."

Die brasilianischen Gastgeber wollten es sich jedoch nicht leicht machen. Sie ließen unter anderem die Fassade des ikonischen Bauwerks erneuern und die Beleuchtungs- und Aufzugssysteme verbessern. Sie installierten Kameras und schufen einen neuen öffentlichen Weg. Zudem wurde der Garten renoviert, den der deutsch-jüdische Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx (1909-1994) geschaffen hat - ebenso, wie die berühmte Strandpromenade von Copacabana.

Die Staatschefs sollen Blumen sehen

Vater Wilhelm Marx stammte aus Trier, Roberto entdeckte die brasilianische Flora im Botanischen Garten in Berlin, wo er Ende der 1920er-Jahre Malerei studierte. Er begründete eine brasilianische Gartenarchitektur, indem er dort, wo man sich bis dahin an Europa orientiert hatte, heimische Arten verwendete. Indem er quasi mit Pflanzen malte, setzte er sich für den Schutz der Umwelt ein. Ihn und sein Werk ehrte das MAM dieses Jahr mit der Ausstellung "Lugar de Estar - O Legado de Burle Marx". 

Die Erneuerungsarbeiten von Museum und Garten kosteten nach Angaben der Stadt Rio de Janeiro insgesamt 32 Millionen Reais, umgerechnet etwa 5,2 Millionen Euro. Dennoch setzte sich diese Option wegen der strategischen Lage nahe dem Zentrum von Rio im Parque do Flamengo, der die Süd- und Nordzone der Stadt verbindet, und der kulturhistorischen Bedeutung gegen andere Veranstaltungsorte durch. 

"Das Museu de Arte Moderna ist bescheiden und nüchtern und repräsentiert mit seiner brutalistischen Architektur sehr gut den brasilianischen Modernismus", sagt Padilha, der die Regierung bei der Organisation des G20-Gipfels unterstützt. "Beim Garten von Burle Marx mit Pflanzen aus all den Biomen Brasiliens ist es, als ob die Staatschefs auf der anderen Seite des Fensters ein bisschen vom Land sehen könnten. Und im Hintergrund erhebt sich der Zuckerhut als ein großes Symbol Brasiliens." 

"Das MAM funktioniert anders"

Der berühmte Hausberg ist etwa durch das Fenster im bloco escola zu sehen. Während des Gipfels wird dieser als Stützpunkt der Delegationen dienen, von dem aus die Politikerinnen und Politiker über die Außenrampe in den Teil des Museums gelangen, in dem die Plenarsitzungen stattfinden. Die Landschaft nicht zu versperren, war eines der Prinzipien von Affonso Reidy. 

So wie dieser als Sohn einer Brasilianerin und eines Briten in Paris geboren wurde und später zu einer Generation von Architekten gehörte, die als "Escola Carioca" bekannt wurde, beruht die brasilianische Moderne auf dem europäischen Pendant. Sie ist von Le Corbusier beeinflusst, der in den 1920er- und 1930er-Jahren nach Rio kam. Doch nach der "Semana de Arte Moderna" in São Paulo 1922 entwickelte die brasilianische Kunst auch eine gewisse Unabhängigkeit von der europäischen. Sie interpretierte internationale Einflüsse in einem eigenen Kontext und passte sich der lokalen Kultur und dem Klima an. So wie auch im Fall des MAM in Rio, mit festmontierten Sonnenschutz-Elementen, die aus der Fassade hervorstehen, sowie offenen Mauersteinen zur besseren Belüftung.

Über die geschwungene, freitragende Treppe geht es hinauf in den ersten Stock, wo der ausladende Sitzungssaal Ausrufe des Erstaunens hervorruft - und der künstlerische Direktor Pablo Lafuente ausführt, dass die Ausstellungsmacherinnen und -macher bis heute (mit einigen Veränderungen) das ursprüngliche modulare System benutzen. "Man könnte auch riesige Installationen machen, aber wir wollen nicht das Limit testen oder extrem große Kunstspektakel veranstalten", sagt er und lacht. "Das MAM funktioniert anders." Das Museum, wie es Lafuente und seine damalige Co-Direktorin Keyna Eleison dachten, geht über das Gebäude hinaus, steht in Beziehung mit der Stadt und allen offen. 

Zeit der Krisen und der verkaufte Pollock

Die 1940er-Jahre, in denen sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro Museen für moderne Kunst gegründet wurden, waren in Brasilien eine Zeit der zunehmenden Industrialisierung, des wachsenden Wohlstands und der privaten Initiativen von Intellektuellen und Unternehmern zur Schaffung von (elitären) Kultureinrichtungen. Dokumente deuten darauf hin, dass das Museum of Modern Art (MoMA) in New York als Vorbild diente - und Nelson Rockefeller als eine Art Berater fungierte, der auch zum Aufbau der Sammlung beitrug.

Ein Brand Ende der 1970er-Jahre zerstörte 90 Prozent der Sammlung des MAM mit Werken europäischer, brasilianischer und lateinamerikanischer Künstlerinnen und Künstler. Nach und nach wieder aufgebaut - allen voran von Mega-Sammler Gilberto Chateaubriand, der mehr als 6000 Werke auslieh -, erlebte das Museum 2018 einen weiteren Tiefpunkt. In einer finanziellen Krise versteigerte es für geschätzte 13 Millionen Dollar das von Rockefeller gespendete Werk "Number 16" von Jackson Pollock, was zu einer langen Polemik und der Entfremdung von der Kunstszene führte. 

Der bloco escola, in dem große Namen wie Hélio Oiticica und Lygia Clark unterrichtet wurden und selbst lehrten, wurde seitdem nicht mehr für Bildungszwecke genutzt. Seine Wiederbelebung gilt als entscheidend für das neue Konzept.

"Rio als Ort stärken, an dem man sich gern aufhält"

Der G20-Gipfel bietet so nicht nur Rio, sondern auch dem Museu de Arte Moderna die Möglichkeit zur Imagepflege. Momentan liegt es bei den Publikumszahlen hinter dem Centro Cultural Banco do Brasil sowie den in jüngerer Vergangenheit eröffneten Häusern Museu de Arte do Rio (MAR) und Museu do Amanhã. "Es trägt dazu bei, das Bild Rios als Ort zu stärken, an dem man sich gern aufhält, und als eine Stadt, die Staatsoberhäupter bei ihren Entscheidungen inspiriert", sagt Bürgermeister Eduardo Paes.

Den G20-Staatschefs wird etwa die Ausstellung “Uma História da Arte Brasileira” mit einer Auswahl von Höhepunkten aus der Sammlung des MAM geboten, die nach der Wiedereröffnung im Dezember auch für weniger offizielle Besucherinnen und Besucher zugänglich sein wird. "Wir möchten etwas davon zeigen, worauf Brasilien stolz ist, ein modernes Brasilien", sagt der G20-Ausschuss-Vorsitzende Lucas Padilha. "Die Geschichte des brasilianischen Modernismus, die im Museum und in Rio de Janeiro präsent ist, bestätigt, dass Brasilien nicht das 'Land der Zukunft' ist, sondern sich schon in verschiedenen Formen - mit all seinen Widersprüchen - realisiert hat."

Der hohe politische Besuch wird 60 Werke von brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern wie Tarsila do Amaral, Anita Malfatti und Iberê Camargo sehen, außerdem moderne brasilianische Musik hören und zeitgenössisches brasilianisches Essen kosten. "Länder des Globalen Südens neigen bisweilen dazu, der Welt das darzustellen, wovon sie denken, dass es besonders an ihnen ist - und übertreiben", sagt Padilha. Man wolle nicht selbstexotisierend sein, sondern so erscheinen, wie man ist: brasilianisch. "Die Kunst, die Ästhetik, die Architektur, die Botanik, die Musik - alles steht im Dienste des G20-Gipfels."

Mit dem Zuckerhut im Hintergrund über Lösungen nachdenken

Die brasilianischen Gastgeber und Gastgeberinnen, die dem Multilateralismus verpflichtet sind, haben in nächster Zeit viel zu tun. Sie veranstalten im kommenden Jahr auch den Brics-Gipfel in Rio de Janeiro und die Cop030 in Belém, werden also fast mit allen sprechen. 

So hofft die Regierung des auf dem internationalen Parkett erfahrenen Präsidenten Luiz Inácio "Lula" da Silva, dass sie im Museu de Arte Moderna Vertreter von Staaten an einen Tisch bekommt, die sich sonst nicht allzu viel zu sagen haben oder nicht oft miteinander sprechen. Und dass der Gipfel sie dazu bringt, mit dem Zuckerhut im Hintergrund über Lösungen für die Weltpolitik nachzudenken.