"Sie hat auf einer Hochzeit was Schlimmes gemacht, also vielleicht den Kuchen gestohlen, und jetzt ist sie traurig." – "Oder sie ist auf einer Beerdigung." – "Oder sie hat einen Geist gesehen. Oder nein, sie ist selbst ein Geist!" Rineke Dijkstras Video "I See a Woman Crying" beobachtet junge Schulkinder dabei, wie sie ein Gemälde betrachten. Und zwar Picassos "Weeping Woman" aus dem Jahr 1937 – wobei das Gemälde selbst nicht gezeigt wird, ein anderes Werk hätte es ebenso getan.
Die Dreikanal-Installation wirkt eher wie eine Studie menschlichen Verhaltens: Der Homo sapiens ist ein Wesen, das sich Bilder macht, von sich und der Welt. Vielleicht ist es nicht die Sprache, die uns von den übrigen Lebewesen auf diesem Planeten unterscheidet, aber relativ gesichert scheint, dass andere Spezies weder vor Kameras ihre Persönlichkeit performen noch Empathie für eine Malerei entwickeln, sich mit Kunst beschäftigen. Das allein ist in diesen barbarischen Zeiten kein schlechter Trost.
"I See a Woman Crying" ist etwa in der Mitte von Rineke Dijkstras Retrospektive in der Berlinischen Galerie platziert und gibt eine Art Metakommentar zu ihrem übrigen Schaffen. Bekannt wurde die Niederländerin vor über 20 Jahren mit Fotografien junger Menschen. Seither fokussiert sie in immer neuen Variationen auf die Adoleszenz als Lebensphase, in der sich die Identität in besonderem Maße formt. Den Auftakt der Schau bilden zwei Porträts eines Mädchens aus den späten 1990er-Jahren, aufgenommen im Abstand von fünf Jahren an gleicher Stelle im Berliner Tiergarten. Links noch Kind, rechts schon Teenagerin, hier noch babyspeckige Unbedarftheit, dort schon halbwüchsige Skepsis, die Hände in die Hüften gestützt, Bein und Fuß nach Halt tastend.
Die Unergründlichkeit des Menschseins
Dijkstra arbeitet mit einer Vier-mal-fünf-Zoll-Großformatkamera; der aufwendige Prozess korrespondiert mit dem langsamen Aufbau von Vertrauen. Durch ihn gelingen der Künstlerin konzentrierte Aufnahmen, in deren Details ganze Welten liegen. Wie die Kinder vor Picassos weinender Frau gerät man in den Bann dieser meditativen Bilder, fühlt mit und leidet und freut sich zugleich über die Unergründlichkeit des Menschseins.
Dijkstra fotografiert jugendliche Clubgänger in Liverpool, schüchtern und cool, bemüht um Individualität und doch so uniform. Ihre Serie von Müttern wenige Stunden nach der Geburt mit ihren Neugeborenen im Arm durchziehen Fragilität und existenzielle Wucht: Stolz, Angst, Schock, Beschützerinstinkt. Die Aufnahmen eines Jugendlichen vor und nach Eintritt in die französische Fremdenlegion zeigen, wie die Gesellschaft das Leben, wie eine Uniform die Persönlichkeit formt.
In einer Gegenwart, die Authentizität zum Fetisch erkoren hat, erinnern uns Dijkstras Bilder daran, dass Identität eine fortlaufende Großbaustelle ist und nichts, was einem aus einer H&M-Kampagne entgegenschreit. Eine Suche, keine Antwort, mit fließenden Übergängen zwischen Individualität und Inszenierung, Pose und Persönlichkeit, Selbst und Umwelt. Oder anders gesagt: Ein Selfie kann man allein machen. Für ein gutes Porträt braucht es mindestens zwei.