Eine literarische Reise nach Sachsen

Richtung Chemnitz

CHEMNITZ CAPITAL III: Illustration Jaroslav Rudiš / Anje Jager
Illustration: Anje Jager

Der kürzeste Weg von Prag nach Chemnitz führt über die Berge. Doch man braucht Geduld. Auf der deutschen Seite mangelt es am Essenziellen, schreibt der Autor Jaroslav Rudiš 

Wir Tschechen sagen Saská Kamenice zu Chemnitz. Natürlich nicht alle, viele haben es längst vergessen. Teenager aus Tschechien fahren heute nach Chemnitz zum Shoppen. Die Generation, die im Sozialismus groß geworden ist, kennt Chemnitz auch noch als Karl-Marx-Stadt. Doch das sagt bei uns niemand mehr. Chemnitz als Saská Kamenice, als Sächsisch Kamnitz, wie man es aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzen könnte, gefällt mir. In Böhmen gibt es gleich mehrere Orte, die Kamenice, also Kamnitz, heißen. Das tschechische Wort kámen bedeutet Stein. Von Kamenice zu Kamnitz und Chemnitz ist es dann nicht mehr so weit. 

Dass es im Tschechischen für viele Städte in Sachsen eine Übersetzung gibt, zeigt, wie nah sich die Böhmen und Sachsen immer waren. In Chemnitz bin ich oft. Als Eisenbahnmensch komme ich fast immer mit der Bahn. Meistens reise ich im Speisewagen von Prag oder Berlin nach Dresden und dann weiter nach Chemnitz. Doch aus Tschechien kann man auch über die Berge mit dem Zug fahren, über das Erzgebirge, das Böhmen und Sachsen trennt, aber auch verbindet. Heute braucht man für so eine Bahnreise viel Geduld. Man sollte Zeit und auch Wanderschuhe einpacken.

Der Bahnhof kann viele Geschichten erzählen

Der kürzeste Weg von Prag nach Chemnitz führt direkt über die Berge. Von Chomutov geht es nach Vejprty und Cranzahl. Über das Erzgebirge fahren die Züge heute nur am Wochenende. Doch die langsame Fahrt lohnt sich sehr. In Kovářská, auf Deutsch Schmiedeberg, sieht man, was man mit einem verlassenen Bahnhof anstellen kann. Eine Gruppe von Bahnenthusiasten hat den Bahnhof gekauft, saniert und so auch gerettet. Heute kann man hier sogar übernachten. Das würde ich mir auch für vielleicht den magischsten Bahnhof im Erzgebirge wünschen. Für Moldava, auf Deutsch Moldau. Nicht zu verwechseln mit dem schicksalhaften Fluss, der auch Moldau heißt, mit der Vltava. Wenn man hier aus dem Zug aussteigt, ist es unfassbar still. 

Das Bahnhofsgebäude erscheint im Nebel wie ein riesiger Palast. Riesig, doch auch marode und verwittert. Der Bahnhof kann viele Geschichten erzählen. Mit dem Zug kann man hierher nur noch aus Tschechien kommen, auf der deutschen Seite fehlen schon lange die Gleise. So muss man nach Sachsen wandern. Die Bergstrecke war mal eine der wichtigsten Bahnverbindungen zwischen Böhmen und Sachsen. Bis heute kann man die monumentalen Brücken und Tunnel bewundern. In Moldava hat Adolf Branald als Fahrdienstleiter gearbeitet, ein bekannter tschechischer Schriftsteller, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. In Moldava kann man mit seinen Geschichten im Kopf lange über Böhmen und Sachsen nachdenken. Über das, was uns verbindet: die Geschichte, die Ortsnamen, das Bier, die deftige Küche. Und sogar über die Sprache. Das melodische Sächsisch klingt ein wenig wie Tschechisch. Als hätte man im Speisewagen die deutschen Worte wie kleine Knödel in die cremige böhmische Sauce getunkt. So hört es sich für einen Tschechen an, wenn er aus dem Zug in Chemnitz aussteigt. In Saská Kamenice.