Nie wusste man ihn recht einzusortieren in das 20. Jahrhundert: Ist seine Kunst nun Pop-, Minimal oder gar Concept-Art? Richard Artschwager hat seine Skulpturen mit gemaserten Schichtstoffplatten verkleidet, und überhaupt ist das Verkleiden seine künstlerische Strategie. "Was ist Identität und wie funktioniert ihre bildnerische Repräsentation?" fragte er mit seinen Arbeiten. Auch sonst ist der 2013 gestorbene Bildhauer, Zeichner, Maler, der während seines langen Lebens auch als Soldat, Spion, Tischler, Wissenschaftler, Elektriker und Babyfotograf gearbeitet hat, strengen Festlegungen aus dem Weg gegangen. So gut es eben ging.
Am 26. Dezember wäre der Künstler 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass zeigt Sprüth Magers in Berlin im Obergeschoss der Galerie eine kleine Ausstellung, die dem großen Spektrum des Werks halbwegs gerecht wird: "Cornered: Celebrating the Artist’s Centennial" zeigt auf wenig Raum ein zentrales Thema des US-Amerikaners, nämlich das Verhältnis von Bild und Bildträger, von Vorstellung und dem materiellen Auslöser der Vorstellung, von Zwei- und Dreidimensionalität. Kunst zwischen Malerei und Skulptur: Malerei auf dem haptischen "Celotex", Möbel, mit Maserung bemalt, Malerei, die mit "Formica" beklebt ist.
"Formica" ist ein Markenname; in Deutschland gibt es einen ähnlichen Stoff unter der Bezeichnung "Resopal". Mit den bildnerischen Möglichkeiten dieses Werkstoffs experimentierte Artschwager seit 1963: Er beklebte Bilderrahmen, Skulpturen, Gemälde damit – und hat so aus Skulpturen Bilder gemacht und aus Bildern Skulpturen. Hier bei Sprüth Magers hat das unscheinbare Material, das heute total aus der Zeit gefallen scheint, seinen Auftritt in zwei Eckskulpturen (oder sind es Bilder?): "Splatter Office" aus dem Jahr 2000 und "Splatter Chair B" von 2008.
Den Dingen ihren Platz in der Welt rauben
Man könnte dieses Camouflage den "Artschwager-Zweifel" nennen, der den Dingen ihren festgelegten Platz in der Welt raubt. Er durchdringt auch die Skulptur "RA-19" von 1995: eine Holzkiste, die wie die Verpackung eines Klaviers aussieht. Sie hat Ähnlichkeit mit den ersten Skulpturen des Künstlers in den 1960er-Jahren: Kisten, auf die farbiger Kunststoff geklebt war, der eine Tischdecke, Tischbeine und den leeren Raum unter der imaginierten Tischplatte darstellte. Eine Provokation zu einer Zeit, als allenthalben die Strenge der Minimal Art gefeiert wurde.
Der Künstler wurde 1923 als Sohn deutsch-russischer Einwanderer in Washington geboren, mit acht Jahren ging er ein Jahr lang in München zur Schule. Mit guten Deutschkenntnissen meldete er sich 1942 freiwillig zum Einsatz in Europa, betätigte sich erst als Artillerist, dann arbeitete er für den Militärnachrichtendienst. Nach dem Krieg lebte er in Wien, später in New York, wo er nebenher als Künstler arbeitete, während er sein Geld seit 1953 als Tischler im eigenen Betrieb verdiente.
Anfang der 1960er-Jahre zeichnete Artschwager aus dem Immobilienteil der Zeitung Häuser ab. Diese Zeichnungen übertrug er mit Acryl auf "Celotex", das ist der Markenname für eine Spanplatte aus Zuckerrohrfasern. Die raue Struktur des "Celotex" entsprach in einem anderen Maßstab derjenigen des Papiers. Das Resultat verblüfft: Der Verfremdungseffekt gibt den Häusern etwas Unheimliches, etwas Surreales.
Wo endet ein Bild?
"Celotex" wurde neben "Formica" der wichtigste Rohstoff für Richard Artschwager. Er malte darauf Mörder, Terroristen, Präsidenten, es ist, als hätte Artschwager ihre Persönlichkeiten noch einmal in ein anderes, völlig unbekanntes Medium gebracht, in dem sie ihr "wahres" Wesen endgültig dem Betrachter verschließen. In der "Cornered"-Ausstellung hängt auch dafür ein Beispiel: Interieur-Malerei von einem harmlos wirkenden Wohnzimmer. Harmlos - solange man nicht über Wahrnehmung nachdenkt. Denn wo endet ein Bild? Wie kann ein Gegenstand gleichzeitig ein Bild sein? Wie geht das: Ich betrachte ein Bild und bewege mich im Bildraum – und doch ist das Bild als Objekt mit mir im realen Raum? Warum kommen sich diese beiden Qualitäten nicht in die Quere? Richard Artschwager hatte Freude an solchen paradoxen Schleifen.
Der Witz der Artschwager-Arbeiten besteht darin, dass er theoretische Fragen an Gegenständen abhandelt, die stets herhalten mussten für philosophische Probleme. Seit der irische Empirist George Berkeley im 18. Jahrhundert skeptisch gefragt hatte, ob der Arbeitstisch des Philosophen verschwände, wenn er die Augen schließe, dient der Tisch als elementarstes Erkenntnismodell in jedem Proseminar. Weil er eben immer gerade in Sichtweite ist.
Hier hört die Verwirrung dann aber nicht auf. Mit dem "Exclamation Point" von 2008 steht in Berlin nun auch ein borstiges Kunststoff-Ausrufezeichen in der Ausstellung, ein Beispiel für den Versuch Richard Artschwagers, Schrift in den Raum zu holen. Man muss an diese Dinger denken, die als schwarze, längliche Verdichtungen von Informationen, als eine Art Pixel, in vielen Shows des Künstlers in Ecken, an Wänden, auf Scheiben klebten. Vergrößert auf die Wand gemalt oder als Holzstück aufgehängt, in die Länge gezogen und in den Raum geholt, verwandelte sich Schriftbild zum Bild. Artschwager nannte diese Objekte "Blps" – nach den Punkten auf einem Radarschirm, die "blips" heißen. Seine erste Ausstellung in Europa, 1968 bei Konrad Fischer in Düsseldorf, bestand nur aus "Blps".
Eine Art Signatur auch. Dieser Künstler hat hinter sich und seinem Leben ein Ausrufezeichen gesetzt. "Widersprüche sind kein Problem“, sagte Richard Artschwager einmal im Monopol-Interview, "denn wir haben es mit bildender Kunst zu tun und nicht mit Sprache." Das sei das Schöne an Kunst: Anstatt sich gegenseitig auszulöschen, füttern sich die Widersprüche. Es ist an uns, das auszuhalten.