Many Ameris Beruf besteht aus reden. Reden, zuhören, reden, zuhören. Dann entscheiden. Wer ihn trifft, versteht schnell, was einen guten Veranstaltungsmanager ausmacht und dass die Red Bull Music Academy vor allem auch eine Schule der Kommunikation ist. Man weiß nicht mehr genau, was der österreichische Getränkehersteller Red Bull in den 90er-Jahren konkret suchte, als er neben seinem Sport-Sponsoring auch in den damals zur Vorherrschaft gekommenen Bereich der elektronischen Tanzmusik vorstieß. Aber mit Many Ameri, Torsten Schmidt und deren Firma Yadastar hat er offenbar die richtigen Leute gefunden.
"Wir haben damals die größten Skeptiker eingeladen und sie gefragt: Was wäre, wenn Red Bull es ernst meint? Wie würde das aussehen?", erzählt Ameri im Konferenzraum seiner Firma in Berlin-Mitte. In den 90er-Jahren, in denen jährlich über eine Million Menschen auf der Loveparade tanzten, schmissen sich große Unternehmen auf jede Form von Club- und Feierkultur – meist ohne viel beizutragen zu deren Entwicklung außer der weiteren Kommerzialisierung von frei entstandener Energie.
Am Ende ihres Zuhören-Reden-Prozesses stand 1998 für Ameri und Schmidt, der als ehemaliger Chefredakteur des "Groove"-Magazins und "Spex"-Redakteur die inhaltliche Expertise mitbrachte, die Red Bull Music Academy (RBMA). Und aus dieser Workshop-Serie ist innerhalb von 20 Jahren ein mittlerweile kaum überschaubares Konglomerat geworden, zu dem neben jenen Workshops auch Bühnen auf Festivals in aller Welt, eigene 16 RBMA-Festivals, Ausstellungen, eigens entworfene Veranstaltungsorte, ein Radio-Sender und eine magazinartige Online-Plattform gehört. "Ich muss es erklären", sagt Ameri, fast ein bisschen entschuldigend.
"Die Idee war nicht, eine Institution ins Leben zu rufen, in der man einfach ein Instrument lernt, Musikgeschichte oder -business. Wir wollten stattdessen ein Umfeld schaffen, das sich der Förderung von Kreativität in der Musik widmet“, sagt der 45-Jährige. Menschen mit verschiedenen Hintergründen sollten zusammenkommen und Dozenten – Lecturer – treffen, die in den letzten Jahrzehnten die Welt musikalisch geprägt haben. In den 90er-Jahren waren die musikalischen Szenen noch stark segmentiert: als hätte jeder sich festlegen müssen, ob er oder sie House, Techno oder Hip-Hop hören oder machen wollte. "Wir haben daran geglaubt, dass Leute ihr musikalisches Vokabular erweitern, wenn sie auf Menschen aus anderen musikalischen Bereichen und kulturellen Hintergründen treffen, und somit ihre Ideen besser zum Ausdruck bringen können."
Deshalb schauen auch noch heute die mitunter recht bekannten Lecturer nicht in einen Raum voller Fans, sondern sprechen zu Musikern, "von denen ein Drittel sie für Gott hält, ein Drittel ihren Namen schon mal gehört hat und ein Drittel eben nicht. Und dann bist du Steve Reich, Philip Glass oder Björk und musst erstmal die Hosen runterlassen."
Zu den Akademien kommen zwei Gruppen von jeweils 30 Teilnehmern – ausgesucht aus 5000 Bewerbern –, die auf 40 Lecturer treffen, die jeweils zwei Tage vor Ort sind. In den acht sogenannten "Bed Room Studios" machen dann die schwedische Folksängerin, der japanische Technoproduzent und der Songwriter von Marvin Gaye gemeinsam Musik. So die schöne Grundidee.
Über die Jahre ist die Academy dann in verschiedene Länder gezogen. Spätestens seit der Ausgabe 2002 in São Paulo vertiefte sich die Auseinandersetzung mit der Gastgeber-Stadt, parallel zu den Akademien entstand eine Art Festival mit Konzerten und öffentlichen Panel-Diskussionen. "Wir haben versucht, einen Weg zu finden, wie man die Geschichte der jeweiligen Stadt erzählen kann, um einen Kontext zur Musik herzustellen und lokale Phänomene im Zusammenhang dessen zu sehen, was weltweit passiert."
Irgendwann war das Begleitprogramm zur Akademie so wichtig geworden, dass es jetzt in einigen Städten wie Paris, New York, São Paulo oder Tokyo Red Bull Music Festivals gibt, ohne dass eine eigentliche Akademie stattfindet. Und hier kommt dann auch bildende Kunst ins Spiel.
Der Ausstellungsraum Red Bull Arts im New Yorker Stadtteil Chelsea war ursprünglich auch einmal ein Austragungsort der Akademie. Jetzt wird hier Kunst gezeigt: Bis zum vergangenen Wochenende lief hier die Ausstellung "Rammellzee – Racing for Thunder", die materialreich von den Ideen und der Bedeutung des Graffiti-Künstler und Hip-Hop-Pioniers erzählt. Gemeinsam mit Jean-Michel Basquiat, Keith Haring, Kenny Scharf und Futura 2000 schlug der vor acht Jahren verstorbene Musiker und Künstler eine Brücke von der Straße zur Galerie. Die Schau bei Red Bull Arts – die erste Retrospektive Rammellzees überhaupt – zeigt die Wichtigkeit dieser Ausstellung für die Stadt: Bei der Eröffnung im Rahmen des Red Bull Music Festivals im Mai hörte man Besucher Geschichten erzählen: wie "Ramm" um 1980 in langen Fahrten im A-Train zwischen Manhattan und seinem Viertel Far Rockaway die Graffiti-Königsdisziplin "Wild Style" voranbrachte, wie er in der Spätphase mönchisch zurückgezogen Masken und Kostüme aus Müll und Spielzeug zusammenklebte. Und, schau, sein Rap-Auftritt im Rodeo!
Die Ausstellung ermutigt mit ihrem Fokus auf Oral History auch dazu, selbst ins Erzählen zu kommen: Über Telefone berichten Gefährten wie Jim Jarmusch ihre eigenen Rammellzee-Geschichten. "Dieser Ansatz ist typisch für die Academy", sagt Redemeister Ameri. Typisch auch die Brücke, die mit dieser zwischen Musik und anderen Disziplinen so mühelos hin- und herwechselnden Figur geschlagen wird.
Im Mai diskutierte auch Harry Belafonte im Rahmen des Red Bull Music Festivals in New York, und man muss erlebt haben, wie euphorisiert die überwiegend afroamerikanischen Zuhörer dem 91-jährigen Sänger und Aktivisten in der Highschool-Aula in der Bronx lauschten: Sie applaudierten seinen Trump-Beschimpfungen, warfen die Arme zustimmend in die Luft, und nach dem Gespräch, das von der Metropolitan-Museumskuratorin und Bloggerin Kimberly Drew moderiert wurde, standen 30 Leute Schlange vor dem Saalmikrofon.
Was für die Red Bull Music Festivals gilt, stimmt auch für die RBMA: Sie hat immer schon versucht, lokale Künstler zu zeigen, präsentiert von lokalen Kuratoren. Zu jeder Academy baut Yadastar als eigenständige Firma mit Büros in Berlin, Köln und New York zusammen mit dem jeweiligen Red-Bull-Büro vor Ort das Team jeweils neu auf: Von den 140 Leuten, die eine dieser Veranstaltungen organisieren, sind lediglich 30 bis 40 aus dem internationalen RBMA-Team. Oft sucht sich die RBMA ein Gebäude in der jeweiligen Stadt und lässt es von heimischen Architekten umbauen oder zumindest neu einrichten. In Tokio etwa hat der bekannte Architekt Kengo Kuma Europaletten als Soundpaneele eingesetzt und damit Studiodecken abgehangen.
Dabei wird das Fifa-WM-Phänomen – Stichwort: verrottende Stadien in Urwäldern – so gut es geht vermieden. Häufig arbeitet die RBMA deshalb mit der der Stadt zusammen: "Wir verwandelten in Madrid zum Beispiel einen ehemaligen städtischen Schlachthof in Räume für die Academy. Im Anschluss übergaben wir unsere Infrastruktur dann an die Stadt, die das sogenannte Matadero dann als Kulturzentrum betrieben, auch unser Red Bull Studio blieb weiter erhalten."
Nach diesem Modell gibt es inzwischen zwölf Häuser weltweit, fünf davon mit besonderem Fokus auf die bildende Kunst. Das Centre Phi in Montreal etwa war einst ein Museum, das für die Academy mit Studios, einer Lecture Hall und Lounge ausgestattet wurde, aus einem ehemaligen Kino wurde ein großes Studio. Heute beherbergt es ein multidisziplinäres Kulturzentrum.
Und das heutige Red Bull Arts in New York war einst ein leeres Loft; Architekt Jeffrey Inaba hat daraus Räume gemacht, die sich immer wieder verändern können und mehrere Funktionen übernehmen können. In Berlin zieht die RBMA in den Stadtteil Oberschöneweide, in das gigantische Funkhaus Nalepastraße, das einst den DDR-Rundfunk beherbergte und in dem seit Jahren internationale Bands wie Depeche Mode und Phoenix Alben aufnehmen.
Das Berliner Designbüro New Tendency hat für die Akademie eine eigene Einrichtung entwickelt, mit Bezug auf den Funkhaus-Architekten Franz Ehrlich. "Die Academy ist jedes Mal ein neuer Organismus", sagt Ameri (über die Höhe seines Budgets pro Ausgabe will er sich allerdings nicht äußern). "Das sind die 60 neuen Teilnehmer, 40 neue Lecturer und 100 neue lokale Mitarbeiter. Sie definieren unsere Rolle immer wieder neu. Immer wieder gilt es, neu zu verstehen, was uns umgibt und was wir zu der lokalen Situation beitragen können. Sind wir Teil einer Revolution, die gerade aufkommt, so wie 2002 in São Paulo kurz vor der Wahl von Lula da Silva, nach der Künstler wie Gilberto Gil, die für ihre Kunst einst ins Gefängnis kamen plötzlich zum Kultusminister ernannt wurden, oder ist es das São Paulo von heute, in dem die Bewohner ihre Straßen zurückerobern, wo Urban Planing und Hausbesetzungen die Musikszene so prägen wie ehemals die Clubs? Was geschieht gerade in der Stadt?"
1997 gab es innerhalb der Red Bull Organisation noch keine Kulturmarketing-Abteilung, stattdessen hatte man es hauptsächlich mit Snowboardern und Extremsportlern zu tun gehabt, erinnert sich Ameri. Heute säßen da viele Leute, die einmal in Institutionen oder als Künstler arbeiteten, die brächten eine ganz neue Perspektive mit.
Dieses Tasten nach der neuen Rolle von Stadt zu Stadt und Jahr zu Jahr findet nicht nur seinen Ausdruck in Architekturen und Interieurs, die bei der RBMA häufig etwas Provisorisches, ausgestellt Kreatives haben, sondern auch in großen Projekten von Künstlern, die zwischen Musik und bildender Kunst arbeitet.
Ryōji Ikeda etwa hat im vergangenen Jahr in der Autofahrerstadt Los Angeles ein Konzert aus Motorengeheul von Lowridern arrangiert: Der japanische Klang- und Videokünstler arbeitet lange schon mit dem Ton a, der Kammerton, auf die in der westlichen Welt vieles eingestimmt ist, von der Oper aus dem 15. Jahrhundert bis zum Klang der Glocken des Michels in Hamburg. Den Unterschied machen die Frequenzen. Ikeda arbeitet an Kompositionen, in denen er sich mit unterschiedliche Frequenzen desselben Tons auseinandersetzt. In LA parkten 100 petrol heads ihre Autos vor der Walt Disney Concert Hall, jeder Fahrer bekam vom Künstler eine Frequenz zugewiesen – und dann startete das Konzert: "A (For 100 Cars)". "Es war auch ein Risiko für den Künstler, sein Werk anderen Leuten in die Hand zu geben. Ich finde es toll, dass wir uns eine Position erarbeitet haben, wo Künstler wissen, dass sie so etwas mit uns machen können", meint Ameri.
Der Musiker und Komponist Brian Eno realisierte mit der RBMA in New York "77 Million Paintings", ein selbstgeneratives Visual-Ambient-Stück, das später in Sydney Opera House lief. Björk ließ gemeinsam mit dem New Yorker Museum of Modern Art, dem Londoner Somerset House und der RBMA ein VR-Video produzieren, in der Academy in Montreal war dann eine Ausstellung der isländischen Sängerin zu sehen. Gemeinsam mit der Guggenheim Foundation ermöglichte die RBMA im vergangenen Mai auch die vielbeachtete Performance "An Ode To" von Solange Knowles: Nachdem die R'n'B-Sängerin ihr Album "A Seat at the Table" veröffentlichte, in dem sie davon singt, wie es ist, als schwarze Frau einen "Platz am Tisch" zu bekommen, trat sie in einer der weißesten aller Kulturinstitutionen auf: dem New Yorker Guggenheim Museum. "Weiß" war dabei auch im Wortsinn zu verstehen: Das Publikum erschien weißgekleidet. Smartphones waren nicht erlaubt. Für Solange war diese Performance Auftakt einer Reihe von institutionellen Kollaborationen: mit dem Hammer Museum, der Chinati Foundation, der Tate.
Auch in Berlin will die RBMA-Akademie eine Brücke zwischen Musik, Stadt und Gegenwartskunst schlagen: Der Galerist Johann König wird eine Ausstellung in der Lecture Hall kuratieren, mit Karl Horst Hödicke und jüngeren Künstlern wie Lukasz Furs, Ronja Zschoche (die als Rapperin unter dem Namen Haiyti bekannt ist), Andy Kassier, Lindsay Lawson, Janes Haid-Schmallenberg oder Marion Fink, ein generationsübergreifender Austausch, was natürlich bestens in eine Akademie passt.
Aber warum gerade Johann König? "Klar, das ist fast so als würde man die Gelben Seiten aufschlagen und sein Name springt einem als erstes entgegen", gibt Many Ameri zu. Nach dieser naheliegenden Idee sei es – mal wieder – das lange Gespräch gewesen, das Aufschluss brachte: "Es hat mich überrascht, wie er an Themen herangeht. Johann König hat neue Wege in die Kunst gesucht und kann Leute von außerhalb für Sachen interessieren, und dazu sind ihm viele Mittel recht. Bei früheren RBMAs haben wir eher die versteckten Helden der Stadt an die Oberfläche gefördert. Aber König war hervorragend in der Lage, sich auf das Gespräch mit uns einzulassen und zu erklären, wie seine Ausstellung eben genau das tun würde."
Mit Hödicke legt König dann auch eine Fährte zur Subkultur West-Berlins, den Hansa Studios, wo David Bowie weltbewegende Alben aufnahm, von der Mauerstadt zu den 90er-Jahren, als der Fall eben jener Mauer Freiräume eröffnete und eine Energie erzeugte, die schließlich auch zur Gründung der RBMA führte.
Wenn die Akademie nun nach 20 Jahren wieder nach Berlin kommt, ist das auch Anlass, um zu schauen, was sich geändert hat. Kulturbestimmend ist natürlich die umfassende Digitalisierung, die sich seither ereignet hat. Bei der der ersten Academy haben gerade mal drei Teilnehmer eine Mailadresse besessen, "von VHS über Minidisc zur Cloud haben wir vieles mitgemacht, aber auch festgestellt, dass das persönliche Zusammenkommen immer der Kern der RBMA ist", so Ameri. Und Berlin ist internationaler geworden: 150 bis 200 ehemalige, nicht-deutsche RBMA-Teilnehmer leben inzwischen in Berlin. "Die RBMA kommt nach Hause, aber in ein Zuhause, dass inzwischen von der Welt mitgestaltet wurde."
Dieses Jahr werden Teilnehmer aus 37 Nationen die Akademie durchlaufen. Solch ein internationaler Geist steht im Kontrast zu den Bemerkungen über die "Nichtbewältigung der Flüchtlingswelle" von Konzern-Chef Dietrich Mateschitz in einem seiner sehr seltenen Interviews und den wirren rechtspopulistischen Statements der ehemaligen Red-Bull-Galionsfigur Felix Baumgartner, worauf man hierzulande nicht nur durch einen 17-minütigen Beitrag von Jan Böhmermann beim Neo Magazin Royale gestoßen wurde. "Als das Thema vor einem Jahr besprochen wurde, kamen natürlich einige KünstlerInnen auf uns zu", sagt Ameri. "Red Bull unterstützt mit der Music Academy seit 20 Jahren weltweit Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Herkunft, Religion und Kultur. Wir bieten eine globale Plattform, um Kreativität und Austausch zwischen Künstlerinnen und Künstlern zu fördern, die sich sonst womöglich nie getroffen hätten. Ich kann nicht im Namen des Gründers sprechen, aber das, was wir machen und die Werte, die wir damit seit 20 Jahren vertreten, stehen für sich."