Alex Marshall und Siddhartha Mitter in der "New York Times"
In Reaktion auf die jüngste Furore um die Documenta Fifteen rollt Alex Marshall in der "New York Times" die Ereignisse im Antisemitismus-Skandal um die Ausstellung neu auf. Ein großes Problem liege in dem Umgang deutscher Medien und der hiesigen Politik mit den in Kassel vertretenen Künstlerinnen und Künstlern, schreibt Marshall in der US-Zeitung. Indem das Kollektiv Taring Padi nur noch unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus besprochen werde, verweigere man den Werken jede weitere Auseinandersetzung. Alle teilnehmenden Kunstschaffenden und Kollektive nun einer Prüfung auf ihre Haltung zur BDS-Bewegung hin und antisemitische Tendenzen zu unterziehen, stelle sie unter Generalverdacht.
Es sei, so der Autor, verständlich, dass dieses Vorgehen als Diffamierung und Zensur wahrgenommen werde, auch wenn dieser Verdacht von der Documenta-Leitung bestritten wird. Marshall sprach zudem mit Michael Lazar, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel, der anmerkte, es handle sich bei einigen der Werke zwar um "Agitprop der schlimmsten Sorte" und dass sich zum Teil antisemitische Darstellungen darin fänden, diese jedoch nicht repräsentativ für das Gros der über 1 500 gezeigten Arbeiten seien.
Eine ähnliche Position hatte im Juni auch Siddhartha Mitter in einer ausführlichen Besprechung der Ausstellung eingenommen. Neben ihrer sehr positiv ausfallenden Kritik der an vielen Orten partizipativ angelegten Großausstellung geht sie darin auf die Probleme ein, mit denen sich die teilnehmenden Kollektive konfrontiert sehen und sahen – sowohl in Bezug auf die Antisemitismus-Diskussionen als auch bezogen auf die Arbeitsprozesse in Vorbereitung auf die Schau.
Leonid Bershidsky in der "Washington Post"
Leonid Bershidsky von der "Washington Post" kritisiert die antisemitischen Motive in dem Werk von Taring Pardi scharf und weist darauf hin, dass sich die Darstellungsweisen der Figuren an europäisch geprägten antisemitischen Darstellungen orientiere, die erstmals im Zuge der Kolonialisierung Indonesiens ihren Weg in die dortige Gesellschaft gefunden hätten. Genau hierin lägen auch das Problem und der Grund, wieso die Herkunft des Kollektivs und der Kontext der Genese des Werks nichts an der Problematik änderten: "Niederländische Kolonialbeamte führten ursprünglich europäische antisemitische Ideen und Bilder ein, um die chinesischen Minderheiten im Land so darzustellen, wie die Europäer die Juden dargestellt haben, und um eine Verbindung herzustellen. In dem Kunstwerk schließt sich auf schockierende und beschämende Weise der Kreis. Das Bild ist europäischen Ursprungs und wurde dann in unserem eigenen kulturellen Kontext auf inakzeptable Weise transformiert und angeeignet. Dies ist sicherlich etwas, das wir verarbeiten und über das wir nachdenken müssen." Die "eindeutig nicht-westliche Art des Judenhasses" sei daher kein Zufall, wie es die Documenta-Leitung um die mittlerweile aus ihrem Amt ausgeschiedene Generaldirektorin Sabine Schormann habe darstellen wollen, sondern logisches Ergebnis.
Insgesamt sei die Schau eine Anhäufung "links-extremer Rhetorik in sämtlichen nationalen Geschmacksrichtungen", wobei das "unangenehme Gefühl, angeschrien, angequatscht, angeflüstert und manchmal auch offen verspottet zu werden, wahrscheinlich das Ziel der Kuratoren" gewesen sei. Es sei daher für ihn unmöglich, sich überhaupt an die wenigen guten oder erwähnenswerten Werke zu erinnern.
Shany Littman in der hebräischen Ausgabe der "Haaretz"
Shany Littman liefert für Haaretz eine nüchterne Analyse der Ereignisse um das Taring-Padi-Werk "People's Justice", das antisemitische Motive zeigte. Sie erklärt das Lumbung-Prinzip der Ausstellung und entkräftet die Kritik, die vielerorts geäußert wurde, es seien keine künstlerischen Positionen aus Israel zu sehen, indem sie als Beispiel die Künstlerin Jumana Emil Abood nennt. Im Falle Israels sei der "Globale Süden", auf dem in der Schau der Fokus liegt, "offenbar keine rein geografische Definition – sondern eine Kategorie eines Machtverhältnisses".
Die Autorin bestreitet die antisemitischen Darstellung nicht, weist aber darauf hin, dass Israelkritik und Solidarität mit Palästina wichtige Themen in post-kolonialen Diskursen seien. Im Kontext von Deutschland seien sie jedoch anders zu behandeln. Mit Bezugnahme auf den Philosophen Omri Boehm, der auch als Teilnehmer der geplanten, dann jedoch abgesagten Talk-Reihe im Vorfeld der Documenta eingeladen war, kommt Littman zu dem Schluss, dass der Ansatz der diesjährigen Documenta als deutsche Ausstellung bereits zum Scheitern verurteilt gewesen sei, weil Deutschland bereits aus seiner Geschichte heraus nicht in der Lage sei, sich dem Globalen Süden zu öffnen.
Es sei außerdem zu fragen, so Littman, ob die Documenta – oder generell ein klassisches Ausstellungsformat – überhaupt der geeignete Rahmen zur Rezeption dieser Art von kollektiver Kunst sei, die dieses Jahr dort zu sehen ist. Durch die langen Texte und das vorausgesetzte Wissen sowie die Entkontextualisierung der zum Teil ortspezifischen Arbeiten widersetze sich die gezeigte Kunst der direkten Auseinandersetzung.
Der Artikel ist in der deutschen Übersetzung auf der Website der "Berliner Zeitung" abrufbar
Avraham Burg in der "Haaretz"
Ebenfalls in der "Haaretz" ist ein Gastbeitrag des ehemaligen Knesset-Sprechers und Vorsitzenden der Zionistischen Weltorganisation Avraham Burg zu lesen. Als Reaktion auf die Ereignisse in Kassel schildert er darin seine Wahrnehmung des Umgangs mit dem Nah-Ost-Konflikt in Deutschland. Burg hatte zuvor an einem Panel am Haus der Kulturen der Welt in Berlin teilgenommen, dem pro-israelischen Gruppen Antisemitismus vorgeworfen haben.
Auch jüdische Intellektuelle in Deutschland, die sich in der Vergangenheit Israel-kritisch geäußert haben, sähen sich, so Burg, mit diesem Vorwurf konfrontiert. Diese "Delegitimierungskampagne", wie Burg es nennt, sei jedoch kein Akt der Solidarität mit der gesamten israelischen Bevölkerung oder Jüdinnen und Juden im Allgemeinen, sondern vor allem im Sinne des rechts-konservativen Flügels der derzeitigen israelischen Regierung – nicht aber liberal-demokratischer Gruppen und Parteien im Land. Eine besondere Sensibilität mit dem Thema Antisemitismus sei in Deutschland geboten und "in vielerlei Hinsicht logisch und nachvollziehbar, um eine Wiederholung der schrecklichen Tragödie des Holocaust abzuwenden". Jedoch brauche es Allianzen im Kampf gegen Antisemitismus und Xenophobie: "Nur durch kooperative Solidarität mit anderen Opfern von Hass können wir die populistischen Hasser besiegen."
Der Artikel ist in der deutschen Übersetzung auf der Website der "Berliner Zeitung" abrufbar
Tonia Mastrobuoni in "La Repubblica"
In der italienischen Tageszeitung "La Repubblica" wurde der Antisemitismus-Skandal für Tonia Mastrobuoni Ausgangspunkt für ein Interview mit dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein. Dieser kritisierte die Handhabung der Vorwürfe und den Umgang mit den Werken scharf, neben Taring Padis "People's Justice" verurteilte Klein in dem Interview auch das Werk "Gaza Guernica" des Künstlers Mohammad Al Hawajri, "das die Aktivitäten der israelischen Armee mit denen der Wehrmacht" gleichsetze. Dadurch würden die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert.
Der Rücktritt Sabine Schormanns sei notwendig gewesen, die "fehlenden Kontrollen" der Arbeit des Kuratorenkollektivs Ruangrupa sieht er nicht als Verweigerung der Zensur oder als Vertrauensbeweis gegenüber der Gruppe, sondern, im Gegenteil, als herablassende Geste: "Ich glaube nicht, dass wir uns so verhalten hätten, wenn das Kollektiv italienisch oder deutsch gewesen wäre."
Eyal Weizman in der "London Review of Books"
In seinem Gastbeitrag für die "London Review of Books" diskutiert der israelische Schriftsteller und Forensic-Architecture-Gründer Eyal Weizman im Kontext der Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Documenta Fifteen den Umgang mit Israel-kritischen Positionen in Deutschland. Weizman selbst war neben anderen Akteurinnen und Akteuren wie der Künstlerin Hito Steyerl und Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen als Speaker zu den klärenden Talks eingeladen worden, die im Vorfeld der Großausstellung stattfinden sollten, dann aber abgesagt wurden.
Zu diesen Gesprächen kam es also nicht, und auch Weizman selbst geriet für seine Unterstützung der BDS-Bewegung in die Kritik. In seinem Artikel für das britische Magazin diskutiert er den Fall Taring Padi und schildert seine eigenen Erfahrungen mit dem deutschen Kulturbetrieb. Ein großes Problem sieht er darin, dass in Deutschland ausschließlich im Kontext der eigenen Geschichte gewertet werde: "Wie der Antisemitismus in antiimperialistischen Kreisen trennt auch die staatlich geförderte und offen islamfeindliche Verfolgung von Künstlern und Intellektuellen in Deutschland fälschlicherweise die miteinander verflochtene Geschichte von Rassismus und Antisemitismus und stellt sie in Gegensatz zueinander." Antisemitische Vorfälle hierzulande wie etwa das Attentat auf eine Synagoge in Halle würden vor diesem Hintergrund mit Vorfällen wie jenen in Kassel auf eine Stufe gesetzt.
Michael Wurmitzer in "Der Standard"
Dass der Antisemitismus-Skandal auch unter jüdischen Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum zu heftigen Diskussionen geführt hat, die bis zu der Frage nach der Selbstidentifikation als "jüdisch" reicht, thematisiert in seinem Beitrag Michael Wurmitzer. Im Speziellen geht es darin um die Reaktion des Schriftstellers Maxim Biller in der Süddeutschen Zeitung auf einen zuvor im Spiegel erschienenen Kommentar der österreichischen Autorin Eva Menasse.
Menasse hatte in ihrem Beitrag das Werk "People's Justice" nicht in Schutz genommen, aber darauf hingewiesen, dass von der Neuen Rechten ausgehender Antisemitismus ein weit größeres Problem darstelle als die Zeichnung auf dem Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi. Biller, der zuvor bereits den patrilinear jüdischen Berliner Autor Max Czollek angegriffen und dessen jüdische Identität in Frage gestellt hatte, nehme, so Wurmitzer, erneut die Erbfrage als Ausgang für seine Kritik.
Alexander Kissler und Alfred Bodenheimer in der "Neuen Zürcher Zeitung"
In der "Neuen Zürcher Zeitung" werden die Ereignisse um die Documenta in einer Übersicht, die fortlaufend aktualisiert wird, festgehalten. Den Rücktritt von Sabine Schormann als Generaldirektorin besprach Alexander Kissler in einem Kommentar. Er sei, so Kissler, notwendig gewesen. Allerdings stelle sich die Frage, ob Schormann selbst nur als Bauernopfer habe herhalten müssen. Das Grundproblem liege in der generellen Tendenz des zeitgenössischen Kunstbetriebs, Kunst "für eine kulturrelativistische Sicht auf die Welt" in Anspruch zu nehmen, "ohne zu bedenken, dass im Treibsand des Relativismus auch der Antisemitismus relativiert wird".
Auch der Anspruch der diesjährigen Documenta, statt des Individuums das Kollektiv ins Zentrum zu stellen, hält der Autor für schlecht durchdacht und kommentiert: "Die Überhöhung des gerade sehr angesagten Kollektivgedankens führte zur Preisgabe individueller Verantwortung, so dass sich am Ende niemand verantwortlich fühlte. Unter den modischen Schlagworten von Teilhabe, Dialog und Nachhaltigkeit wurde die Frage nach der Qualität von Kunst suspendiert."
Alfred Bodenheimer diskutiert derweil in einem Gastbeitrag mit Bezugnahme auf die Documenta Fifteen die Frage der kulturellen Aneignung und spricht in Anlehnung an die Arbeitsbeschränkungen jüdischer Kulturschaffender im Nationalsozialismus von einem "völkischen Kulturverständnis". Indem die Documenta-Leitung sowie Künstlerinnen und Künstler versucht hätten, die Werke in einen kulturellen Kontext zu setzen und antisemitische Bildsprache von der europäischen Geschichte loszulösen, wollten sie, so Bodenheimer, den Antisemitismus darin neutralisieren und sich aus der Verantwortung ziehen.
Wulan Dirgantoro & Elly Kent auf "New Mandala"
Auf dem Blog "New Mandala", der sich Perspektiven auf und aus Südostasien widmet, beleuchten Wulan Dirgantoro und Elly Kent zunächst die Situation in Indonesien, dem Heimatland der Kollektive Ruangrupa und Taring Padi. Der Lumbung-Ansatz, den Ruangrupa in der Planung der Documenta verfolgt haben, wird hier im Detail erklärt, kulturell verortet und kontextualisiert. Doch dieser berge auch Nachteile, so die Autorin und der Autor, zum Beispiel könne diese "schützende Blase zuweilen zu einer isolierten Sichtweise und Naivität gegenüber dem breiteren Kontext führen – seien es die Erfahrungen derjenigen, die sich außerhalb der Blase befinden, oder das soziale Milieu, in dem sie angesiedelt ist." Dirgantoro und Kent gehen auch in Tiefe auf das Werk von Taring Padi und die Kritik daran ein, beleuchten alle Seiten des Falls und blicken auf den Umgang mit Antisemitismus in Indonesien.
Péter György in "Élet és Irodalom"
In einem langen Text in der wöchentlichen ungarischen Kulturzeitung "Élet és Irodalom" vergleicht der Medienwissenschaftler Péter György den Ansatz der Documenta Fifteen mit zwei vorherigen Editionen der Kunstschau von Okwui Enwezor und Carolyn Christov-Bakargiev. György, Professor an der Budapester Eötvös-Loránd-Universität, dessen Essay "Die beiden Kassels: gleiche Zeit, anderer Ort", eine Befragung der durch Nationalsozialismus geprägten Documenta-Ausstellungsorte in Kassel, in einem der Hefte "100 Notizen – 100 Gedanken" von der Documenta 14 herausgegeben worden war, spricht in diesem Kontext von einem "Maßstabswechsel": Es bedürfe in Deutschland einer Auseinandersetzung mit der Metaerzählung des Holocaust, da man hierzulande von einer global geteilten Traumaerfahrung ausginge.
Zugleich lege der Umgang mit dem Fall Taring Padi ein fehlendes Verständnis der indonesischen Herangehensweisen an kollektive Arbeit im Sinne von Lumbung offen: "Die Antisemitismus-Debatte an sich verlangt nach seriöser Aufmerksamkeit, doch wird sie hoffentlich nicht die ganze Documenta ruinieren. Was ich hier als radikale Änderung bezeichne, ist die Tatsache, dass wir von Ruangrupa einfach zu wenig wissen, um die Kooperation zwischen den künstlerischen Kollektiven, in denen auch das großformatige Bild von Taring Padi entstand, objektiv beurteilen zu können."
Minh Nguyen und Emily Watlington auf "Art in America"
Ausgehend von den neusten Entwicklungen im Fall Documenta Fifteen erinnert Minh Nguyen in ihrem Kommentar auf der zu "Artnews" gehörenden Seite "Art in America" an den ursprünglichen Ansatz der Documenta, eine Ausstellung zu schaffen, die von Freundschaft geprägt ist – getreu dem Motto "Make Friends, Not Art" –, und setzt ihn in ihrem Text in einen kunsttheoretischen Kontextt. Er berge zwar die Gefahr von Nepotismus und die große Anzahl an teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern habe zu großen logistischen Schwierigkeiten geführt. An sich sei es aber ein löbliches Ziel gewesen.
Ein großes Problem sieht Nguyen im deutschen Umgang mit den Kollektiven, die fast ausschließlich aus dem Globalen Süden kommen: "Die vielleicht schärfste Reibung entsteht dadurch, dass sich die pluralistischen, dekolonialen Werte der Ausstellung mit dem Eurozentrismus Deutschlands und seinem zurückhaltenden Verhältnis zur eigenen Vergangenheit vermischen." Die aufgeheizte Stimmung habe dazu geführt, dass Kassel für die teilnehmenden arabischen und muslimischen sowie anders marginalisierte Künstlerinnen und Künstler, "die einer Flut von Vandalismus, Schikanen und Drohungen seitens der Behörden und extremistischer Gruppierungen ausgesetzt waren", zu einem Ort der Gefahr geworden sei.
Auf Hilfegesuche hätte die Documenta-Leitung nicht reagiert, mehrere teilnehmende Gruppen hätten die Stadt bereits verlassen. Das Fazit fällt entsprechend scharf aus: "Während die Documenta Fifteen ihr Versprechen eines 'außereuropäischen Blicks' auf die Welt und einer multidirektionalen Ausstellung aus dem Globalen Süden nicht nur thematisch, sondern auch methodisch einlöste, bestätigen die chaotischen und anklägerischen Reaktionen darauf nur die hegemonialen Absurditäten, die die Schau von vornherein zum Thema hatte."
In einem zuvor veröffentlichten, nuancierten Text auf "Art in America" geht Emily Watlington auf den sozialen Ansatz und die Relational Aesthetics ein, die die Documenta Fifteen durchziehen. Die Werke, so Watlington, seien nicht für ein westliches Publikum sondern primär für die Heimatgesellschaften der geladenen Kollektive geschaffen worden, "was ihnen einen horizontalen statt einen wohltätigen Charakter verleiht." Sie lobte zudem den Fokus vieler Werke auf Umweltfragen und Aspekte von "Öko-Ökonomie". Auch die Tatsache, dass viele Arbeiten nicht in Kassel sondern in den Herkunftsländern zu sehen sind, fällt für sie positiv ins Gewicht: "Die Ausstellung wurde nicht nur für diejenigen gemacht, die einen Reisepass haben und das Privileg, nach Deutschland zu kommen. Vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, eine wirklich globale Ausstellung zu haben."
Sarah von Binsbergen in der niederländischen Tageszeitung "de Volkskrant"
In der niederländischen Tageszeitung "de Volkskrant" äußert sich Sarah von Binsbergen positiv zur Documenta Fifteen. Vor allem lobt sie den kollektiven Ansatz der Documenta-Kuratoren und die Loslösung von westlichen Ansprüchen an autonome Kunstwerke zugunsten einer sozialen Praxis: "Diese Documenta ist auch anders, weil es nicht in erster Linie um Kunst geht, sondern um soziale Praktiken. Ganz nach dem Motto des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, das die Ausstellung kuratiert hat: 'Make friends, not art'." Der Antisemitismus-Eklat bleibt aber auch hier nicht unerwähnt. Das Problem sieht Binsbergen in einem Ansatz, der "zu naiv und zu optimistisch" gewesen sei. Trotzdem sei es "unfair, diese ganze Ausgabe abzuschreiben, wie es inzwischen in vielen deutschen Medien geschieht."
Emmanuelle Lequeux in "Le Monde"
In der französischen Zeitung "Le Monde" begrüßt Emmanuelle Lequeux die Einbindung der Stadt in das Ausstellungskonzept. Ruangrupa habe so Stadtviertel erschlossen, die für gewöhnlich nicht auf dem Plan der Besucher seien. Der Anspruch, möglichst viele Kollektive einzuladen, habe aber dazu geführt, dass die Schau zu unübersichtlich sei: "Oft weiß man nicht mehr, wer was teilt: Die Lawine von Kollektiven, die andere Kollektive einladen, die ihrerseits wieder andere einladen, ist manchmal beängstigend.(...) Statt des Prozesses hätte man sich lieber dem Ergebnis widmen sollen."
Anda Djoehana Wiradikarta auf "Asialyst"
In dem Online-Magazin Asialyst fasst der französisch-indonesische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler und Indonesien-Experte Anda Djoehana Wiradikarta Reaktionen aus dem Heimatstaat der Kollektive Ruangrupa und Taring Padi zusammen und stellt die Frage nach dem Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus sowie jene nach den länderspezifischen Kontexten der Auseinandersetzung mit diesen beiden Themen. Anschließend diskutiert er, inwiefern Antisemitismus ein primär europäisches Problem sei und ob israelbezogene Kritik aus dem globalen Süden anders bewertet werden müsse: "Es gibt eine mikroskopisch kleine jüdische Gemeinde in Indonesien, die kaum 200 Menschen zählt. Aber im Land der Bandung-Konferenz wird der israelisch-palästinensische Konflikt durch das Prisma des Antikolonialismus gesehen."
Zugleich erklärt er, dass die Betonung der Asymmetrie "zwischen Israel, dem Unterdrücker, der Besatzungsmacht, und den Palästinensern, der besetzten und ständig unterdrückten Bevölkerung" durch die indonesische Regierung eine "anti-israelische Stimmung" hervorgebracht habe, "die in Teilen der indonesischen Gesellschaft, ebenso wie in Frankreich, die Form von Antisemitismus angenommen hat". Die Bedeutung der Symbolik, gerade in Deutschland, müsse daher unterstrichen werden. Zudem müsse gerade in Indonesien vermehrt darüber aufgeklärt werden, denn, wie er im Fazit schreibt: "Die Tatsache bleibt, dass Antisemitismus für Indonesier nur eine besondere Form von Rassismus ist und kein eigenständiges und universelles Konzept."
Lea Pamungkas auf "BBC Indonesia Online"
In ihrem Beitrag für "BBC Indonesia" ordnet Lea Pamungkas die Ereignisse in Kassel und die Kritik an Taring Padis "People's Justice" für ein indonesisches Publikum ein. Dort scheint der Fall größtenteils auf Unverständnis zu treffen. Ohne die antisemitischen Darstellungen zu verteidigen, beschreibt Pamungkas sie als direkten Kommentar Taring Padis auf die Umbrüche in Indonesien um die Jahrtausendwende. Für ihre Recherche sprach sie unter anderem mit indonesischen Kunsthistorikern, Interviews mit Vertretern Taring Padis und Ruangrupas sind zusätzlich angehängt. Dass die antisemitischen Darstellungsweisen im Zuge der Kolonialisierung Indonesiens ihren Weg in das Land fanden und in der Zeit der ersten Intifada und wachsenden anti-israelischer Ressentiments wieder aufgetaucht sind, müsse ebenfalls Ausgangspunkt für Diskussionen sowohl über Antisemitismus als auch Kolonialismus in der Zukunft sein.
A. Dirk Moses in "Geschichte der Gegenwart"
In dem online erscheinenden schweizerisch-deutschen Kulturmagazin "Geschichte der Gegenwart" widmet sich der australische Historiker A. Dirk Moses einer geschichtlichen Einordnung des aufsehenerregenden Taring-Padi-Werks "People's Justice", das erstmals vor 20 Jahren im südaustralischen Adelaide gezeigt wurde. Moses kritisiert in seinem Beitrag, dass die aktuelle Antisemitismusdebatte konservativen Parteien in Deutschland dazu diene, post- und anti-kolonialistische Bewegungen als solche zu diskreditieren, "und dies, obwohl sich Taring Padi mehr als linksradikale Künstler-Aktivist:innen denn als Teil einer globalen postkolonialen Bewegung verstehen." In seinem ausführlichen Text beschreibt er die politische Situation in Indonesien kurz nach dem Sturz des Suharto-Regimes – und auch die Unterstützung des Diktators durch westliche Staaten, die in dem Agitprop-Werk von Taring Padi zur Verantwortung gezogen werden.
Ayu Purwaningsih auf der indonesischen Seite der "Deutschen Welle"
Ayu Purwaningsih, die bereits eine ausführliche Rezension über die Documenta Fifteen für die indonesischen Leserinnen und Leser der "Deutschen Welle" geschrieben hatte, in der sie auch auf den Antisemitismus-Skandal einging, vor allem aber die Arbeitsweise der anwesenden indonesischen Kollektive und Künstlerinnen beschrieb, führte für das Medium zwei Wochen nach der Entfernung des Werks "People's Justice" vom Friedrichsplatz in Kassel ein Interview mit Mitgliedern Taring Padis.
Darin äußerten sich diese enttäuscht und schockiert angesichts des, wie sie sagen, fehlenden Dialogs. Wer genau die antisemitischen Darstellungen in das Bild eingefügt habe, sei heute, 20 Jahre nach der Entstehung des Werks, nicht mehr nachvollziehbar.
Paris Lettau auf "MeMO"
Paris Lettau beschreibt die diesjährige Documenta in dem australischen Online-Magazin für Kunst und Kultur "MeMO" als "eine der ermutigendsten, anregendsten und hoffnungsvollsten Ausstellungen, die ich seit langem gesehen habe", allerdings mache es "bereits das Konzept der Documenta Fifteen unmöglich, die schiere Menge an Kollektiven, Künstlern und Programmen in dieser sich ständig verändernden 100-tägigen Ausstellung zu erfassen".
Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie dem australischen Künstler Richard Bell und der "Aboriginal Tent Embassy", die vor dem Fridericianum aufgebaut wurde. Dem Antisemitismusvorwurf widmet sich die Autorin in dem zweiten Teil der ausführlichen Rezension. Darin erläutert sie schrittweise die Vorfälle und Diskussionen und ordnet sie im Kontext innerdeutscher Debatten für die australische Leserschaft ein: "Die Documenta Fifteen ist mitten in einem heftigen Kulturkampf in Deutschland gelandet, in dem ein Streit um das politische Gedächtnis der Nation mit unnachgiebigen Mitteln geführt wird."
Lettau spricht hier auch von anti-muslimischen und xenophoben Ressentiments und die Instrumentalisierung des Narrativs durch rechtspopulistische Gruppen und Parteien, etwa der AfD, die sich auch andere Kulturschaffende und Intellektuelle wie zuletzt Achille Mbembe träfen. Die Kritik der Autorin richtet sich im Fazit vor allem gegen die Documenta-Leitung, die scheinbar nicht in der Lage sei, sich in den komplexen Debatten zu positionieren.
Hakan Topal auf "Hyperallergic"
In dem Online-Magazin "Hyperallergic" bedauert Hakan Topal die antisemitischen Vorfälle auf der Documenta Fifteen, die nun diese ansonsten "bemerkenswerte Ansammlung von Stimmen" überschatten würden: "Die Kontroverse mag ein gutes Gesprächsthema für die Medien sein, sollte aber nicht die Tausenden von unterschiedlichen Stimmen auf der diesjährigen Documenta überlagern."
In seiner durchgehend positiven Rezension lobt Topal neben dem Kollektiv-Gedanken und der Verteilung der Mittel durch das Kuratorenkollektiv Ruangrupa besonders, dass die Schau – anders als viele andere groß angelegte Kunstausstellungen – nicht primär der Kommodifizierung der gezeigten Werke diene: "Die D15 ist keine Kunstmesse. Es gibt keinen NFT-Dreck, keine coolen 'Kollaborationen', keine Privatjets, die Oligarchen hin und her fliegen. Die Lieblinge der Kunstwelt und ihre Cheerleader könnten sogar enttäuscht sein; die Ausstellung zollt den 'Marktkräften' keinen Respekt." Er sieht die Ausstellung gar als Zäsur: "Nach der D15 kann es kein 'Business as usual' mehr geben."
Davide Banis "Rivista Studio"
Die Kritik von Davide Banis im italienischen Kulturmagazin "Rivista Studio" fällt gemischt aus. Die Ausstellung sei in ihrer Gesamtheit vom Durchschnittsbesucher nicht aufnehmbar, dafür gäbe es zu viele Werke an zu vielen Standorten – und vor allem zu viele Worte. Die Textlastigkeit der Documenta Fifteen sei überbordend, man habe es mit einem "zu hohen Wortkoeffizient pro Kunstwerk" zu tun. Lob bekommen bei Banis hingegen die vielen Videoarbeiten und die Heterogenität der Ausstellung. Den Antisemitismus-Eklat erwähnt der Autor nur am Rande, das Urteil der Bundesregierung von 2019, die "BDS"-Bewegung als antisemitisch zu deklarieren, bezeichnet er als eine "sehr kontroverse Entscheidung".
Kate Brown für "Artnet News"
Für das englischsprachige Onlinemagazin "Artnet News" berichtet Europa-Korrespontentin Kate Brown über die Documenta Fifteen. Neben der nüchternen Berichterstattung hat Brown auch einen Kommentar zu den Geschehnissen in Kassel geschrieben. Darin geht sie auf gleich drei der umstrittensten Punkte ein: zum einen den Antisemitismus-Eklat, zum anderen die 'Suche nach der Kunst', die laut einiger Kritikerinnen und Kritiker nirgends zu finden sei, und zum dritten die Loslösung der Schau vom klassischen Kunstmarkt.
Brown stellt die Documenta Fifteen in einen direkten Vergleich mit der diesjährigen Venedig-Biennale, in deren Hauptausstellung ebenfalls Positionen gezeigt wurden, die von klassischen künstlerischen Medien abweichen – deren Stellung als Kunstwerke jedoch im Gegensatz zu jenen auf der Documenta nicht hinterfragt wurden. Den Grund hierfür sieht Brown in der Weigerung der Kunstwerke, sich kommodifizieren zu lassen. In der Dezentralisierung der Ausstellung sieht Brown auch den Hauptgrund für den schlechten Umgang mit den Antisemitismus-Vorwürfen und die darauf folgende "berechtigte Empörung": "Diese dezentrale Arbeitsweise hat sich als gefährliches Verantwortungsvakuum erwiesen."