Eine gespannte Menge, ein Mensch auf einer Bühne, ein Umschlag, am besten noch eine Kunstpause, und dann der Name einer Gewinnerin oder eines Gewinners, auf den alle gewartet haben. So stellt man sich gemeinhin eine Preisverleihung vor, und so verlief bisher auch die Vergabe des Preises der Nationalgalerie in Berlin - mit prominenten Gästen aus Kultur und Politik im festlich beleuchteten Hamburger Bahnhof. Der oder die Ausgezeichnete wurde aus dem Kreis der vier Nominierten herausgehoben, die vorher in einer Gruppenschau zu inspizieren waren. Er oder sie bekam dann eine Einzelausstellung in der imposanten Halle des Museums für Gegenwart. Anne Imhof, Cyprien Gaillard, Monica Bonvicini und Mariana Castillo Deball wurde diese Ehre unter anderem schon zuteil. Zuletzt war im Hamburger Bahnhof die Installation "IBMSWR - I Build My Skin With Rocks" der Preisträgerin 2022, Sandra Mujinga, zu sehen.
Ab sofort soll jedoch alles anders ablaufen. Im April 2023 verschickten die Staatlichen Museen zu Berlin eine ziemlich nüchterne Mitteilung: Für das Jahr 2024 werden vier künstlerische Positionen gemeinsam ausgezeichnet: James Richards, Hanne Lippard, Dan Lie und Pan Daijing. Ihre gemeinsame Ausstellung ist ab dem 7. Juni zu sehen. Das Understatement der Ankündigung, das viele in der Kunstwelt überrascht hat, war gewollt, wie Till Fellrath, Co-Direktor des Hamburger Bahnhofs auf Nachfrage erzählt. Man setze nicht mehr auf einen "Oscar-Moment", sondern auf eine gleichberechtigte Würdigung von verschiedenen Arbeiten. Damit ist auch das Format der Nominiertenausstellung hinfällig, aus der früher von einer Jury ein Gewinnerwerk ausgewählt wurde. Vielmehr gibt es eine Gruppenschau mit Neuproduktionen der Preisträger:innen. Wie sich das Budget dadurch für jede einzelne verändert, ließ Fellrath offen. Der Sponsor BMW habe jedoch die Gesamtzuwendungen erhöht.
Die Longlist aus 70 Namen wurde diesmal von einer zwölfköpfigen Jury aus Kunst- und Kulturschaffenden zusammengestellt, die finale Entscheidung traf ein internationales Gremium aus Cecilia Alemani (Direktorin und Chefkuratorin High Line Art, New York), Elvira Dyangani Ose (Direktorin Macba, Barcelona), Kasia Redzisz (Künstlerische Direktorin Kanal — Centre Pompidou, Brüssel) und Jochen Volz (Generaldirektor Pinacoteca do Estado, São Paulo) sowie Sam Bardaouil und Till Fellrath (Direktoren Hamburger Bahnhof, Berlin) und Gabriele Knapstein (stellvertretende Direktorin und Sammlungsleiterin Hamburger Bahnhof, Berlin).
Kunstpreise sollen keine Castingshows sein
Dass die klassische Form der Preisvergabe in der Kunst gerade einer Revision unterzogen wird, ist keine ganz neue Entwicklung. So entschieden sich beispielsweise 2019 Tai Shani, Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock und Oscar Murillo dazu, sich den renommierten britischen Turner Prize zu teilen. Während der Pandemie wurde die Auszeichnung in Form von Stipendien vergeben, und 2021 waren zum ersten Mal ausschließlich Kollektive nominiert. Mit der Idee des Gewinnens und Verlierens in der Kunst tun sich (frei nach Christoph Schlingensief) viele zunehmend schwer.
Auch in Deutschland gibt es bereits Ehrungen, die nicht nur an ein Individuum vergeben werden. So geht etwa der Ars Viva Preis, gestiftet vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft, jedes Jahr an drei Künstlerinnen oder Künstler. Auch beim Preis der Nationalgalerie, mit dem der Freundeskreis der Nationalgalerie "junge, wichtige Positionen der Gegenwart" auszeichnet, gab es bereits Kritik von Nominierten, die sich stellenweise wie Teilnehmerinnen eines Castings für "Germany's Next Top Artist" vorkamen.
Insofern ist es nachvollziehbar, dass die beiden neuen Direktoren des Hauses, Till Fellrath und Sam Bardaouil, das Verfahren dauerhaft verändern wollen. Auch für die kommenden Ausgaben des Preises sollen nun immer vier in Deutschland lebende Künstlerinnen und Künstler geehrt und Werke von ihnen für die Sammlung angekauft werden. Fellrath sagt, dass durch die Abschaffung der Nominiertenschau inhaltliche Doppelungen vermieden werden und Druck von den Ausgewählten genommen werden soll. Auch die Erwartung, in jedem Fall den größten Raum des Hamburger Bahnhofs füllen zu müssen (wobei sich manche offenbar schwer taten), fällt nun weg.
Gala ohne Umschlag und Oscar-Moment
Andererseits war die öffentliche Präsentation der Shortlist auch eine seltene Gelegenheit für das Publikum, die Arbeit und die Entscheidungsgrundlage einer Kunstpreisjury nachzuvollziehen und sich selbst ein Urteil zu bilden. Das neue Verfahren macht die Auswahl nicht transparenter, zumal viele Auswahlgremien mit immer demselben Museumspersonal besetzt sind. Hinzu kommt, dass sich Preise oft aus anderen Auszeichnungen oder Stipendien speisen und eine Art "Dominoeffekt" der Ehre erzeugen - auch bei der aktuellen Auswahl der Nationalgalerie gibt es unter anderem Überschneidungen mit dem Stipendium der Villa Massimo, dem Ars-Viva-Preis und dem Turner Prize. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich viele Ehrungen mit ähnlichem Profil auf wenige Personen konzentrieren - was manche Künstlerinnen und Künstlern überfordern und ausbrennen lassen kann und anderen den Zugang erschwert.
Preise sind nie ganz gerecht, weil die Qualität von Kunst nur schwer objektiv zu bewerten ist und am Ende eben doch Gewinnerinnen und Verlierer produziert werden, wenn auch in wechselnder Zahl und in unterschiedlicher Deutlichkeit. Die Reform des Preises der Nationalgalerie nimmt Impulse vonseiten der Kunstschaffenden auf und dämpft die Institution in ihrem Pathos. Am Grundproblem ändert sie jedoch nichts.
Ganz ohne Gala muss die Berliner Kunstwelt dann übrigens auch nicht auskommen. Am heutigen Dienstag soll eine Preisverleihung mit James Richards, Hanne Lippard, Dan Lie und Pan Daijing stattfinden. Nur eben ohne Umschlag und Oscar-Moment.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels aus dem April 2023.