Tag der deutschen Einheit

Pop Life

Marc Brandenburg und Oliver Koerner von Gustorf, 1989
Foto: privat

Marc Brandenburg und Oliver Koerner von Gustorf, 1989

Unser Autor Oliver Koerner von Gustorf erzählt seine persönliche Ost-West-Geschichte, die sich von Ostwestfalen über Westberlin bis in die Uckermark spannt, anhand der Werke von drei befreundeten Künstler*innen

Am 3. Oktober feiern wir die deutsche Wiedervereinigung. Doch was, wenn man sich sowieso wie ein Alien fühlt, nie eins war, und in die geteilte Hauptstadt, nach Westberlin ging, gerade weil man keine Nation, keine Heimat, kein Deutschland, keine klare Identität wollte? In seinem sehr persönlichen Beitrag zum Katalog der Ausstellung "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" 2020 im Waschhaus Potsdam schreibt unser Autor Oliver Koerner von Gustorf über drei befreundete Künstler*innen in, die wie er von der Wave-Szene und Subkultur Westberlins geprägt sind – und zugleich über seinen eigenen Weg in die Frontstadt der 1980er, die boomende Kunstszene nach dem Mauerfall, die Aids-Krise und sein neues Manufactum-Leben im Osten.

Ein Plädoyer für weniger binäres Denken, die subversive Kraft von Störungen und die gar nicht so utopische Hoffnung auf mehr Common Ground. 


1. Der Tod ist eine Meisterin aus Deutschland

"Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts, wir trinken und trinken, wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng …" "So, Andrea, jetzt lesen Sie das bitte nochmal vor." Andrea Jäger, die sich gerade Apfel-Lipgloss auf die Lippen geschmiert hat, macht eine stumme Kussbewegung, einen Plopp, und liest: "Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts, wir trinken und trinken, wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng …" Die halbe Klasse grölt. Die Jungs, die Andrea gut finden, die Mädchen, die wie sie sein wollen. Andrea erinnert an eine Mischung aus Isabelle Adjani und Nancy Allen, die die ruchlose Klassen-Queen in Brian de Palmas "Carrie" (1976) spielt. Sie verübt mit ihren Freund John Travolta beim Abschlussball einen Anschlag auf die paranormal begabte Carrie, die mit einem Kübel Schweineblut überschüttet wird. An die qualvoll lange Szene, die sich in Zeitlupe abspielt, erinnere ich mich noch heute. Die berüschten Ballkleider aus goldenem, perlmuttweißem, kristallblauem Taft, das pinke, zu einer Blüte gebundene Geschenkband an Sissy Spaceks Arm. Die Spannung der Schnur, die hoch zum Kübel führt, der funkelt wie die Trommel auf einer Parade. Das Blut, das dann in Echtzeit auf das Opfer niederplatscht, das erstarrende Gesicht, das sich zu einer Art Butoh-Fratze verzieht. Das Massaker, das rot eingefärbt im Split-Screen-Verfahren gezeigt wird, bei dem Carrie mit übernatürlicher Psi-Power die Turnhalle der Schule mitsamt Schülern abbrennt – nur mit ihrem Blick – und niemanden entkommen lässt. Es ist 1979. Ich bin 17 Jahre alt. Ich sitze an meinem Pult, in Gummistiefeln und dem Rodier-Pullover meines toten Vaters, und stricke betont befreit. Ich möchte auch Satans Tochter sein, Linda Blair in "Der Exorzist" (1973), den ich noch gar nicht gesehen, sondern nur in der Buchfassung wieder und wieder gelesen habe. Ich wünsche mir ähnliche Fähigkeiten wie Carrie. Ich hasse all diese Typen, die zur Sparkasse, zur Bundeswehr oder den Bullen gehen. Die Mädchen, die in der Jungen Union sind, im Tennis Club Rot-Weiß mit Unternehmersöhnen anbandeln, in Discos, die Riverside heißen, zu Yvonne Ellimans "If I can’t have you" bei "Saturday Night Fever"-Wettbewerben antreten. Dabei bin ich heimlich in Jan Hecht verliebt, mit dem ich in seinem Zimmer die ganze Platte abgetanzt habe. Er hat rote Haare, ist etwas pummelig, riecht nach Pino Silvestre und hat die geilsten Koteletten Ostwestfalens.

Punk ist schon tot, Sid Vicious hat sich gerade umgebracht. Aber in dem Provinzkaff, in das wir vor drei Jahren gezogen sind, kommen all die Bands gerade erst richtig an: Joy Division, Buzzcocks, The Fall, Gang of Four. "The Scream" von Siouxsie and the Banshees wird der Soundtrack für mein Coming-out. Ich denke immer noch, ich werde eine Frau und einen Mann haben, mit denen ich zusammenlebe. Ich habe Freundinnen, schlafe aber auch mit heterosexuellen Jungs. Meine Haare sind kurz geschoren, noch nicht gefärbt. Sag mal, sieht das punkig aus? Ich habe immer noch meine Nickelbrille, bis sie mir beim Pogo-Tanzen runterfällt und zertrampelt wird. Ich will nie wieder Brille tragen. Die schwule Theatertruppe Brühwarm tritt in einem Kulturzentrum neben der Schule auf. Ich finde sie schrecklich und verstehe das Konzept der geschminkten Tunten in Leopardenmänteln nicht, weil ich noch nicht verstehe, was das bedeutet, schwul zu sein: dass da eine ganze Kultur dranhängt.

Es ist das Jahr, in dem gleich zwei Filme von Fassbinder rauskommen, der gerade zum internationalen Superstar wird: "Die Dritte Generation" und "Die Ehe der Maria Braun". Auf Schulpartys und in Jugendzentren laufen Nina Hagen, "Horses" von Patti Smith und immer noch Ton Steine Scherben: "Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da, und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas." Im Frühjahr waren wir mit der Klasse in einem klirrend kalten, grauen Berlin. Anstehen, um den zweiten Teil von "Star Wars" in Dolby Surround im Royal Palast im Europa-Center zu sehen, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Filme von Konzentrationslagern, Leichenberge. Wir fahren durch die leeren U-Bahnhöfe zwischen Kochstraße und Wedding, machen einen Ausflug nach Ost-Berlin. Der Referendar, mit dem wir unterwegs sind, rät uns keine Kippen, kein Papier auf den Boden zu werfen, weil wir sonst von den Kommunisten festgenommen werden: "Ich will euch doch sicher nach Hause bringen." Und dann das Sound beim Strich an der Genthiner Straße, wo alle wegen Christiane F. hinwollen. Aber bis zum Mariannenplatz bin ich nicht gekommen. Ich wusste gar nicht, wo Kreuzberg liegt.

Draußen schneit es. Auf den Satteln der Fahrräder vor dem Altbau der Schule bilden sich kleine, verklumpte Berge. "Die Todesfuge" von Paul Celan wird weitergelesen. Dein goldenes Haar Margarete. Dein aschenes Haar Sulamith. Der Lehrer, der kurz vor der Pensionierung steht, sicher Soldat war und wahrscheinlich auch selbst Nazi, fragt, warum wir denn abends schwarze Milch der Frühe trinken und warum das Haar von Margarete blond und das von Sulamith aschern ist. Alle wissen es, aber keiner kann es sagen. Die Begriffe "Gaskammer", "Krematorium", "arisch" fallen nicht, keiner möchte von den Bergen von herausgebrochenen Goldzähnen und abgeschnittenen Haaren sprechen. Natürlich, sagt der Lehrer, ist Schwarz die Farbe des Todes, der Trauer, das Weiß der Milch die Farbe der Unschuld und Reinheit. Milch ist Leben und Wärme. Und die Nachtmilch ist die schreckliche Umkehrung, die Perversion dieser Eigenschaften, eine Metapher für die Indoktrination und den Terror der Nazis, die alles vergiften und sterben lassen. Wir, das impliziert Celan, trinken also den Tod. Und dann kommt beim Weiterlesen dieser Teil eines Satzes, den man damals in den späten 1970er-Jahren immer wieder als Graffiti auch in der Kleinstadt sieht, der sich mir damals einprägt, als ich auf den wilhelminischen Bau gegenüber blicke, in dem Generationen von Schülern vor mir saßen und diesen typischen Geruch von Putzmittel und Schulflur in der Nase hatten: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland."

Heute, über 40 Jahre später, muss ich an diesen Satz denken, wenn ich Marc Brandenburgs Zeichnung von Reinhard Wilhelmi in der Ausstellung "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" anschaue. Sie ist aus dem Jahr 2005, das Foto, auf dem sie basiert, entstand allerdings 1996, während des Höhepunkts der Aids-Krise, in dem Jahr, in dem mein erster Freund an den Folgen von Aids starb. Der spindeldürre Reinhard hängt mit einer Totenkopf-Kapuzenmaske, die mal zu einem Sensenmannkostüm gehörte, tänzerisch an einem Fensterkreuz. Anstelle der üblichen Kutte trägt er Bikini, Pumps und Goldkette um den Bauch. Der Tod als campe Tabledancerin in einem Kreuzberger Hinterhof. Der Tod ist eine Meisterin aus Deutschland. In dem schwarz-weißen, ins Negative verkehrten Bild treffen sich ganz unterschiedliche, völlig widersprüchliche Einflüsse: die Weimarer Republik, Collagen von John Heartfield, Bilder von Otto Dix oder George Grosz, Peep-Shows, der Look des genialen englischen Performancekünstlers Leigh Bowery, das von Reinhard mitgestylte Kumpelnest in der Lützowstraße. Es lässt an den "Triumph des Todes" von Pieter Bruegel denken, an schrottige Mittelaltermärkte, Swinger-Partys, Nachtverdunklung. Apokalypse. In ihm verdichten sich deutsche queere Geschichte, die Geschichte der eingemauerten Frontstadt Berlin, Schwulenbefreiung, Krieg und Krankheit, knallharter Glamour.

Marc Brandenburg, O.T., 2006, Bleistift auf Papier, 74,2 x 39 cm
© Marc Brandenburg

Marc Brandenburg, O.T., 2006, Bleistift auf Papier, 74,2 x 39 cm

Brandenburgs ganz und gar unsentimentale Zeichnung hängt in einem schwarzen, nur mit Blaulicht ausgeleuchtetem Raum, der die Aura eines Fotolabors und eines Darkrooms hat. Dieses Bild stammt aus meiner Welt, in der ich ausgerüstet mit Klaus Theweleits "Männerphantasien" und einer Packung Born Blond-Blondierung Anfang der 1980er-Jahre ankam. Das in den Häuserkampf verstrickte Berlin war damals wirklich Frontstadt, ständige Straßenschlachten, brennende Barrikaden, Verletzte und Tote. Mein erster Freund spielte in einer Band, die Die Tödliche Doris hieß. In der Nacht, als ich ihn kennenlernte, sah ich auch morgens um drei im Central am Nollendorfplatz zum ersten Mal Marc, der damals wahrscheinlich 14 war, mit cyclamrotem Irokesen und Seditionaries-Bondage-Hosen von Vivienne Westwood. Ich fand es unfassbar, dass der kleine Junge da drüben die Haare gefärbt hatte und an einem Schultag noch um diese Zeit wach sein durfte. Hatte er keine Eltern? Mein Freund lachte sich tot. In dieser Welt war "Deutschland, bleiche Mutter" so etwas wie ein Transen-Name. Man machte Witze über die kleinen Hände aus Bettina Wegners Song "Kinder", guckte sich auf Industrial-Konzerten Filme von Obduktionen an, schminkte sich gegenseitig, kochte zu Velvet Underground-Songs A&P-Spagetti, zog Speed, tanzte morgens um elf im Risiko unter den Yorckbrücken zu "Time (Clock of the Heart)" von Culture Club. Die Mädchen im Mitropa in der Goltzstraße sahen mit ihren ausrasierten Nacken und Lederklamotten wie Scherginnen aus Nazi-Pornos aus, die Jungs trugen Camouflage und russische Uniformen und zogen sich die Augen mit Kajal nach. In den Bars hörte man Throbbing Gristle, "If this is all there is" von Peggy Lee oder Arbeiterlieder von Ernst Busch.

In Westberlin, das damals eine Art künstlich am Leben erhaltenes Aquarium war, trafen sich Aliens wie ich, die keine Nation, keine Heimat, kein Deutschland wollten, kein "richtiges" Geschlecht, keine Zugehörigkeit. Wir wollten dieses Pop Life, über das etwas später Prince and the Revolution sangen: "Everybody can't be on top/ But life it ain't real funky/ Unless it's got that pop/ Dig it/ Tell me, what's that underneath your hair?/ Is there anybody living there?" [1] Die Kultur, in der ich dort aufwuchs, war aggressiv und zugleich unglaublich camp, nicht so sehr im Sinne von Susan Sontag, eher in der von John Waters "Desperate Living". Die Seventies hatten auch durch die RAF und den Vietnamkrieg Gewalt, Psychosen, queere und perverse Sexualität, Feminismus in den Mainstream gebracht. Die Filme des New Hollywood, Coppola, Scorsese, hatten den Weg dazu geebnet – allen voran William Friedkin mit der Verfilmung von "Der Exorzist", in dem sich das kaputte Amerika spiegelt, die Hölle eine dysfunktionale Familie ist und der Teufel ein kleines Mädchen Sachen machen und sagen lässt, von der viele klammheimlich träumen.

In den 1980ern vercampten die Leute in Berlin Sachen, die für die Schwulen in den Sixties völlig tabu und unattraktiv gewesen wären. Gewalt, Terrorismus, Sexismus, die deutsche Vergangenheit mitsamt den Symbolen von Faschismus und Stalinismus, Neurosen, Depressionen, Reagan, Thatcher, Neoliberalismus: Alles wurde in eine Art-Drag-Show, in Re-Enactments verwandelt. Man hörte Folk-Platten von Charles Manson, sah "Lucifer Rising" von Kenneth Anger. In dieser Welt verstand man die blutüberströmte, mordende Carrie als eine Art Psycho-Fashion-Statement, dessen Posen, Materialien, Dialogfetzen ("Man kann deine Kissen sehen") man sich popkulturell aneignen konnte wie den Look von Charlotte Rampling in "Der Nachtportier". Das machte man nicht nur als Provokation, sondern um sich diese "harten" und sehr drängenden Themen aus einer anderen, weniger ideologischen Perspektive anzusehen. Berlin war die richtige Stadt dafür, nicht satt, geteilt, richtig fett von einer Mauer durchzogen, voller Kriegsspuren, riesige Freiräume. In der Adalbertstraße hörte die Straße einfach auf, wie ein Stück Käse, das abgeschnitten wird, ein bisschen wie in "The Dome" von Stephen King. Die Welt war da zu Ende. Im letzten besetzten Haus, direkt an der Mauer, eröffnete eine Kneipe. Sie hieß Gott.

Paradoxerweise bildete die Mauer die Grundlage für eine ganz spezifische Szene. Die hätte sich nie "Kunstszene" genannt. Diese Leute wollten nicht bei K.H. Hödicke studieren. Sie wollten nicht neo-expressiv heftig malen, überhaupt nicht malen und mit bekleckerten Klamotten rumlaufen, sondern Musik, Filme, Performances machen. Die Energie war nicht wirklich bunt und "schrill", wie es so häufig im Rückblick suggeriert wird, sondern eher industriell, militärisch, elektronisch, auf Speed. Im Gegensatz zum fetten Köln, wo Geld und ein Markt da waren und die Künstler*innen schön zentralbeheizt und sophisticated mit rheinischen Sammlern zusammenhockten, war Westberlin eine Stadt für Leute, die eingemauert und abgeschnitten sein wollten, weg von Westdeutschland, auch vom westdeutschen Kunstbetrieb. Diese Distanz war nötig, um anders auf die deutsche Vergangenheit, auf die Teilung zu gucken, die das Ergebnis des Faschismus war, und gleichzeitig auf den zivilisiert verkleideten ideologischen Terror der Gegenwart reagieren zu können - auf Thatcher, Reagan, den Beginn des Neoliberalismus, auf den drohenden Atomkrieg zwischen den Machtblöcken. Das geteilte Berlin war damals der rohe Ausdruck dieser Spannungen, die Häuser mit Löchern von Granatsplittern übersät, die Spuren des Krieges unübersehbar. Der Potsdamer Platz war eine Sandwüste, Teile der Stadt lagen noch in Trümmern. Dieses Rohe verkörperte weniger die Zerstörung, Traumata oder Nostalgie, sondern hatte etwas Unfertiges, Offenes, Noch-nicht-Verbautes.

Heute, 40 Jahre später, steht das heruntergekommene Hotel Esplanade, in dem Bands wie Sonic Youth auftraten, als Teilstück völlig ausgekernt und mit dem in 500 Einzelteile zerlegten Frühstückssaal unter einer Art gläsernem Schutzmantel zwischen Hochhäusern, unter der Kuppel des Sony Centers. Ich hocke mitten in der zweiten Welle der Pandemie in der Uckermark in meiner Manufactum-Landlust-Quarantäne. Der Brexit steht kurz bevor, aber Großbritannien ist sowieso wegen der neuen, infektiöseren Covid-Variante von Europa abgeschnitten. Das Kingdom versinkt, wie alle Länder, in denen diese narzisstischen Horror-Clowns regieren, im Chaos. Die gesamte Welt verfällt in eine Art digitale Diktatur, zurück in Träume männlicher, weißer Vorherrschaft und einen totalitären Monty-Python-Feudalismus. Für meinen Text über drei Jahrzehnte Wiedervereinigung und meine Freunde Marc Brandenburg, Bettina Allamoda, Ursula Döbereiner und ihren Partner Thomas Rehnert suchte ich nach so etwas wie einer Tür. Nach einem Portal. Ich finde es in dem schwarzen Raum, im Bild des triumphierenden Todes. Nicht nur, weil da dieses Alien-mäßige ist, das ich in uns allen spüre, sondern weil da dieses Gefühl von Offenheit und Ungeklärtem spürbar wird, das sich in die Gegenwart teleportiert und Partikel aus den unterschiedlichsten Zeiten mit sich trägt.

Reinhard Wilhelmi auf dem Bett von Marc Brandenburg, Mitte 1990er-Jahre

Reinhard Wilhelmi auf dem Bett von Marc Brandenburg, Mitte 1990er-Jahre

Sieben Jahre nach dem Mauerfall bezeichnet das 1996 entstandene Foto, also die Vorlage der Zeichnung, einen gewissen Endpunkt - die Aids-Krise, das Verschwinden von Künstlern und Freunden, die an ihrer HIV-Erkrankung gestorben sind, auch das Verschwinden der ganz spezifischen Westberliner Subkultur, die Reinhard Wilhelmi als Künstler mitgeformt hat. In dieser Zeit beginnt die Clubszene im Osten zu boomen, das E-Werk, der Tresor, das Elektro, das Panasonic. Dann das Ostgut, das 2004 zum Berghain wird. Marc arbeitet hier von Anfang an hinter der Bar. Die Zeichnung entsteht 2005, in den Heydays, in denen sich Berlin als international führende Kunstmetropole etabliert. Künstler und Galerien aus der ganzen Welt kommen in die Stadt, die ehemals besetzten oder improvisierten Freiräume werden gentrifiziert, die Leute verdrängt. Der Techno-Boom, der Berlin nach dem Mauerfall so groß gemacht hat, kommt aus genau der Hausbesetzer- und Dilletantenszene, die jetzt so überholt aussieht. Das reicht von Dr. Motte über Dimitri Hegemann bis zu Mark Ernestus, der 1987 das Kumpelnest als Abschlussarbeit seines Studiums der Visuellen Kommunikation an der HDK eröffnet. In dem ehemaligen Puff, der mit seiner Mischung aus Künstlern, Prominenten, Transen und Intellektuellen das Flair einer Factory hat, arbeiten auch Marc Brandenburg und ich hinter dem Tresen. Bettina Allamoda, die mit Billie Ray Martin in der Sixties-Soul-Punk-Band Billie and the Deep gesungen hat und damals, wie sie sagt, "britisch-konstruktivistische Stahlbildhauerei" an der HDK studiert, kommt mit ihrem Freund, dem Kunstkritiker Harald Fricke oft vorbei. Harald wird mir Jahre später meinen ersten Artikel in der "taz" geben, als Redakteur das Schreiben beibringen und so den Weg in ein neues Leben ebnen.

Marc Brandenburg und Oliver Koerner von Gustorf im Kumpelnest
Foto: privat

Marc Brandenburg und Oliver Koerner von Gustorf im Kumpelnest

1989 eröffnet Mark Ernestus mit den Gewinnen, die das Kumpelnest macht, das Hard Wax, den wohl wichtigsten deutschen Plattenladen für elektronische Musik, und gründet mit Moritz von Oswald in den 90er-Jahren die legendären Label Basic Channel und Chain Reaction. Ich bin damals autodidaktischer Künstler, gründe mit einem Freund eine Künstlergruppe. Wir bekommen ein Stipendium im Künstlerhaus Bethanien, werden von Galerien vertreten. Doch wegen der AIDS-Epidemie verpasse ich den Anschluss, die Wiedervereinigung, die Clubs im Osten, die Paraden und Raves, meine Zukunft, so etwas wie einen Beruf. Marc hat die Anfänge dieser irren Zeit in seinem "Bilderbuch" (1994) festgehalten, in dem auch Nikolaus Utermöhlen, mein Freund, zu sehen ist, von einer Pigmentstörung gezeichnet, gescheckt wie ein Zebra, krank auf dem Bett in unserer Wohnung, und auch Marc und ich, auf demselben Bett, diskutierend. Ich werde bis 1997 im Kumpelnest weiterarbeiten, trinken, arbeiten, Drogen nehmen, meinen Freund pflegen, mich in London verlieben, zwei Freunde haben oder auch drei, zwischen London und Berlin hin- und herpendeln. In Brixton wohne ich mit Marc zusammen, bis ich an einem kalten Wintermorgen zu ihm sage, dass Nikolaus stirbt und ich zurück muss. Ohne ein Wort zu verlieren kommt er mit, als hätte er zufällig dasselbe Reiseziel. Was ich in all diesen Jahren nicht an mich rangelassen habe, ist, wie hart und prekär mein fantastisches Leben war, wie sehr ich selbst fast mit einem Bein im Grab stand. Die Zeichnung von dem als Knochengirl verkleideten Reinhard ist Teil einer Serie, zu der auch andere Fassungen gehören, etwa der Tod im Treppenhaus, wie eine Prominente für das "Hello"-Magazine posierend. Die Fotosession, die sicher nicht genau geplant war, sondern intuitiv entstand, erfasst die Stimmung von 1996 in einer minimalen Inszenierung. Auf der ins Negativ verkehrten Zeichnung von 2005 wird das Bild metallischer, härter, aggressiver, reine Oberfläche. Man kann sich das wie eine Alptraumszene aus einem Slasher-Film vorstellen. Oder einen John Heartfield-Mittageisen-Geist, wie bei der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens, nur dass der Tod hier als Künstlerin-Slash-Sexworkerin in die schöne neue Frappuccino-Mitte-Welt einbricht. 2005 bin auch ich neugeboren, arbeite für die Kunstabteilung der Deutschen Bank, bin Redakteur bei Monopol, lebe in einer schönen neuen Wohnung, das optimale Material, um wie in "Scream" beim Popcornmachen dahingemetzelt zu werden. Aber das ist nur meine etwas schuldbeladene Fantasie.

Nikolaus Utermöhlen und Marc Brandenburg im Nachtbus Berlin, frühe 1990er-Jahre
Foto: privat

Nikolaus Utermöhlen und Marc Brandenburg im Nachtbus Berlin, frühe 1990er-Jahre

Marc Brandenburg und Oliver Koerner von Gustorf in Richmond, London, 1995
Foto: privat

Marc Brandenburg und Oliver Koerner von Gustorf in Richmond, London, 1995

Ich denke in fertigen Bildern, in Filmen, in Erinnerungen, die aussehen wie Fotos oder aus Filmen, die noch Filme werden, in denen herangezoomt, in die Totale geblendet wird, in Worten, die klingen wie aus Büchern. Ich denke oft an diese Stelle in der "Diana Ross-Show", in der sie erst The Boss singt und dann, von der Band mit Disco-Klängen unterlegt, sagt: "As I look around you know, I wish I was a camera. I wish I were a camera to remember these faces, the smiles, the love that you are sending to me …" Ich kann gut verstehen, warum Marc ein menschlicher Kopierer sein will, warum Bettina Stoffskulpturen spannt, die wie das Cape aus einer Liberace-Las Vegas-Show aussehen, aus Materialien wie Jersey-Lamé-Spandex, oder warum die Arbeit von Ursula und Thomas zum Großteil aus Sensoren besteht und wie ein abstrakter Science-Fiction-Film von Jean-Luc Godard wirkt. Wir alle sind Resonanzkörper, werden von Looks, Oberflächen, Materialien, Formen, Klängen in Schwingungen versetzt.

Marcs Zeichnungen thematisieren die Vision einer zerbrochenen, gewalttätigen, von Spektakeln gekennzeichneten Gesellschaft, in der sich Menschen zunehmend sozial isolieren, seelisch erkranken, süchtig sind. Ihn interessieren dabei die Momente, in denen innere und äußere Zustände ineinander übergehen, in denen der Mensch mit seiner Kostümierung, seiner Kleidung verschmilzt. Es ist zumeist ein intimer, berührender Zustand, den er schildert: eine mystische Obdachlosigkeit, eine Abwesenheit des Ichs, die mit Kontrollverlust, Entäußerung oder Psychosen einhergeht. Menschen verschwinden hinter ihrer Repräsentation, in Schichten aus Stoffen und Kleidung, die Hülle ist und manchmal auch wirkliche Behausung. Trotzdem sind die Fotos, die er von Freunden, Demonstranten, Obdachlosen, Plastiktieren oder besprühten Parkbänken aufnimmt und dann in Zeichnungen transformiert, keine Sozialdokumente. Im Gegenteil, sie blenden soziale und politische Storylines und Kommentare so weit wie möglich aus. Es bleibt nur die Form, die Oberfläche, die zugleich materiell und psychisch ist und in der Zeichnung häufig manieristisch gedehnt oder verzerrt wird.

Marc Brandenburg
Foto: Christian Vagt

Marc Brandenburg

 

2. Psychostoffe

Ein verwaschenes, angeschnittenes Fernsehbild des Entertainers Liberace, der in den frühen 1980er-Jahren lachend in einem rot funkelndem Paillettenanzug über eine dunkle Bühne läuft, die wirkt wie das Setting aus David Lynchs Horrorfilm "Twin Peaks: Fire Walk with Me". Ein pinker Balken. Ein rot funkelnder, in Falten gelegter Stoff, ausgebreitet wie das Gewand eines präraffaelitischen Engels oder der Vorhang eines Art-Déco-Theaters aus den 1930er-Jahren: "To Die For" hieß die Ausstellung, für die Bettina Allamoda 2008 wohl eine der besten Einladungskarten gestaltete, die ich je gesehen habe. Es war für mich auch eine der bedeutendsten Ausstellungen in meinem Leben, so präzise, zum Sterben schön. Eine Liebesgabe von den Lebenden für die Toten, aber nicht offen ausgesprochen, sondern im Hinterkopf behalten, ein zartes Geschenk, fast unmerklich eingefaltet, eingewebt, obwohl hier nichts beiläufig war und jede Geste zählte. Es war eine der ersten Shows in der von Frank Müller und mir 2007 gerade kurz vor der Finanzkrise gegründeten Galerie September in einer ehemaligen Druckereihalle in der Nähe vom Checkpoint Charlie. Bettinas Freund, der Autor und "taz"-Redakteur Harald Fricke, war im Vorjahr gestorben. Für mich war er ein Mentor und einer der wenigen Freunde im Kunstbetrieb gewesen. Und auch jetzt war er uns allen noch präsent, er fehlte. Ich erinnerte mich an die jahrelangen, erfolglosen Versuche, meinen eigenen Freund zu retten, der vor meinen Augen buchstäblich zerfallen war und jetzt plötzlich wieder wie ein stummer Geist neben mir stand. Mir fiel auch dieser hypersensible Zustand ein, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat: Am Anfang oszilliert er zwischen totaler Euphorie und dem Gefühl einer Überdosis, die einen bis in die tiefste Erschöpfung, bis zum Kollaps treibt. Es ist, als ob man über dünnes Eis geht und jeden Windhauch, jedes Knacken wahrnimmt und sich völlig öffnet, aber nicht weiß, ob das Eis hält. Natürlich stand da die unausgesprochene Vorstellung einer Trauerarbeit im Raum. Schon bei den ersten Gesprächen mit Bettina spürte ich, wie eindimensional diese Idee war. Trotzdem glaube ich, dass diese Ausstellung eine nochmals neue Wendung in ihrem Werk bezeichnet.

Wie auch ihre Rauminstallation "Eck-Rammschutzbügel (Silver) 2" (2020) in der aktuellen Wiedervereinigungs-Ausstellung in Potsdam hatten ihre Skulpturen schon damals etwas unglaublich Körperliches, fast Sexuelles und zugleich Geisterhaftes. Ihre Arbeit erinnert mich in wesentlichen Aspekten an die Praxis der Post-Minimal-Künstlerin Eva Hesse, die in den späten 1960er-Jahren Stahlseile mit Latex umhüllte, es über Leinwände goss, diese künstliche Häute wie Kissen austopfte oder sie wie medizinische Präparate aufspannte. Hesse, die Stahl-Kuben mit Vinylröhrchen auskleidete wie eine Seeanemonen-Höhle, Silikon-Würmer oder hodenförmige Objekte von der Decke baumeln ließ, spielte das Glatte, Industrielle gegen das Organische und Vergängliche aus, arbeitete mit den Kontrasten zwischen hart und weich, Gewalt und Poesie. Hesse "verunreinigte" das männlich geprägte formale Denken der Minimal-Art mit Sexualität, Ekel, Tod, Geschlechtlichkeit. Wie bei ihr vereinen sich auch in Bettinas Werk psychologischer suspense mit materieller Anspannung, Bei Bettina geht es, wie bei Hesse, nicht darum, das Material kunstvoll in eine bestimmte Form zu bringen, sondern es bildhauerisch ans Limit zu pushen. Hesse, die nur 34-jährig an einem Hirntumor starb, wusste, dass Ihre Latex-Skulpturen kaum zu konservieren sind, zerfallen, aufweichen, schon aufgrund des Herstellungsprozesses temporär sind. Auch wenn Bettinas Werke konservatorisch nicht ganz so heikel sind, erscheinen sie in ihrer Konstruktion fragil, geradezu anti-monumental. Bei beiden Künstlerinnen spielen Volumen, Leere, das Vergangene, Abwesende, Transzendente eine mindestens so bedeutende Rolle wie das Material.

Doch während Hesses Arbeiten sich mit dem Körper assoziieren, mit Haut, Gedärm, Nerven, Hoden oder Zellen, dem Abdruck oder Abguss von Gliedmaßen oder Organen, geht es bei Bettina weniger um den Körper selbst, sondern um die Hüllen, die ihn umgeben, die Verkleidungen, den Schutz, das Etui, die Abgrenzung, das Ornament, die Architektur. Sie arbeitet mit Stahlbarrieren aus der Veranstaltungs-, Sicherheits- oder Bautechnik, mit Deko- oder Bezugsmaterial, Restposten aus den 1990ern oder High-Tech-Stoffen, die militärisch oder zu Fetischzwecken eingesetzt werden. Der Körper selbst ist in Bettinas Werk nicht vergänglich oder verrottend, sondern längst verschwunden. Die Party ist vorbei, der Krieg verloren, die Messe abgebaut, ein Badeanzug wird angeschwemmt, ein glitzerndes Banner weht im Wind. Bei Bettina ist der Körper weniger intim, mehr Repräsentation von Machtstrukturen und Geschichte als bei Hesse, ein politischer, ein kollektiver, geschichtlicher, aber auch geschlechtlicher Körper.

Bettina interessierte schon früh die rasant fortschreitende Globalisierung, die koloniale Vereinnahmung der Kunst und Kultur Afrikas durch die Modeindustrie, aber auch durch die europäische Moderne und Postmoderne. Sie beschäftigte sich mit der Verkleidung von Ideologien, Marketingstrategien, rassistischen Fantasien oder Ängsten. Der Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001 war bereits Teil des kollektiven Gedächtnisses, als Bettina anfing, mit Stoff und Stahl zu arbeiten. Als ich "Black Coat Sculpture", eine der ersten Stoffskulpturen von Bettina, 2004 zum ersten Mal sah, waren die Burka-/Verschleierungsdiskussionen bereits im vollen Gange. Es rumorte schon, in Berlin machte sich eine neue Form des Anti-Islamismus breit, während es für viele meiner nicht-weißen und nicht eindeutig männlichen oder weiblichen Freunde noch immer schwierig war, im Osten zum Baden zu fahren.

Für ihre Ausstellung "Nation Building/Institut du Monde Arabe" in der Berliner Zwinger Galerie hatte Bettina damals einen riesigen, kegelförmigen Styroporkörper mit Einkerbungen und Ausbuchtungen mit einem schwarzem Polyesterstoff mit einer Art eingeprägtem Rokoko-Ornament bezogen, Teile des Stoffs in Falten gelegt, andere wieder wie Rockschöße oder Maikäferflügel über die Form gespannt. Der Effekt war unheimlich. Die Figur wirkte wie ein Hybrid aus verschleierter Frau, Rakete, dem Haarwesen Cousin It aus der Horrorkomödie "The Addams Family" und einem Alien-Ei, in dem neues, fremdes Leben brütet. Zugleich war das eine reine, fast architektonische Form, nicht erzählerisch, nichts darstellend, stumm.

Der Philosoph Slavoj Žižek schreibt in seinem Essay "The Two Types of the Fear of the Burka" [2] über das "schwarze Loch", das die Burka aus westlicher Sicht in unsere Wirklichkeit reißt, indem sie alle für uns wesentlichen Informationen der Trägerin ausblendet: das Gesicht, den Körper, die Frau, die Identität. All das scheint wie "aus der Welt radiert" und wird ersetzt durch einen flächigen, anonymen Umriss. Die Burka-Phobie im Westen hat nicht nur politische, aufklärerische Gründe, sondern beruht auch auf einer tiefsitzenden, psychologischen Unsicherheit, wie es Žižek beschreibt: "Aus einer Freudschen Perspektive ist das Gesicht die ultimative Maske, die den eigentlichen Horror der Nachbarschaft verbirgt: Es ist das Gesicht, das den Nachbarn zum 'le Semblable' macht, zum Mitmenschen, mit dem wir uns identifizieren und mitfühlen können. [...]. Und genau deshalb ruft ein bedecktes Gesicht solche Ängste hervor: weil es uns ganz direkt mit der Andersartigkeit konfrontiert, mit dem Nachbarn in all seinen unheimlichen Dimensionen." [3]

Die Verunsicherung, die diese Andersartigkeit hervorruft, ist ein durchgehendes Thema in Bettinas Werk. Schon Ende der 1980er-Jahre, noch an der Hochschule der Künste, fertigt sie neben "primitiv"-futuristischen Möbeln modernistische Alien-Skulpturen wie "Aliensteel" (1988) an, ganz so, als hätten sich Moderne und Nachkriegsmoderne nicht an den kolonialisierten Ländern in Afrika oder Asien bedient, sondern im Weltall bei anderen Spezies. Bettina wird in den 1990er-Jahren eine wichtige Protagonistin der institutionskritischen Künstlergeneration in Berlin, die von politischer, feministischer und queerer Theorie, Filmtheorie, Independent-Filmen, Philosophie, Musik, Design und Architektur beeinflusst ist. Bettina sieht damals aus einer feministischen Sicht auf die Zukunftsvisionen der Männermoderne, die Science-Fiction-Fantasien der Nachkriegsära in Ost und West, die gescheitert sind und in ihrer futuristischen Retroästhetik nach wenigen Jahrzehnten schon museal erscheinen.

Die Erforschung dieser nie wirklich eingetretenen Zukünfte findet bei ihr in der Manier historischer Recherche, von Cultural Studies oder archäologischen Ausgrabungen statt. Ausgeführt werden sie jedoch nicht aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin oder Künstlerin, sondern eines Aliens, einer außerirdischen Forscherin und Zeitreisenden. Man erinnere sich – nach dem Erscheinen von Judith Butlers Buch "Gender Trouble" (1990), der Aids-Krise und dem Aufkommen der Institutionskritik etablierte sich in den anbrechenden 2000ern die Vorform der sogenannten Identitätspolitik, die heute in ihrer Barbie-Version vielen zu Recht auf den Wecker geht, weil sie Debatten um systemischen Rassismus, Klasse, Ungleichheit, Kapitalismus wie Pancake-Make-Up zupappt. Dabei ist eine heutige Linke ohne die Identitätsrevolten von einst, die auch Wohnen, Zusammenleben, Protest gegen militärische und gesellschaftliche Formen von Diskriminierung und Gewalt und den Sturm auf kulturelle Institutionen miteinschloss, gar nicht denkbar.

Heute werden die Identitäten von sogenannten PoC (Person/People of Color) und BPoC (Black and People of Color), Frauen, Feministinnen, Transgender-Menschen oder auch alten weißen Männern von einer versnobten akademischen Klasse verhandelt, die zum Teil gerade wegen ihrer Revolte von einst vom etablierten System mit Posten belohnt wurde. Ihre Mitglieder spielen sich wie hippe Sittenwächter auf, pflegen eine völlig exklusive Debattenkultur und setzen dabei ihre robotisch angelernte, pseudo-sensible Sprache wie eine Waffe zur eigenen Machterhaltung und zur Erhaltung der korrupten akademischen Strukturen ein. Heute würden solche Leute vielleicht zu Bettina sagen: "Hey, du hast als Weiße den Afrofuturismus appropriiert!" Denn damals waren es vor allem schwarze New Yorker Künstlerinnen wie Ellen Gallagher oder Wangechi Mutu, die aus völlig anderen und zugleich auch ähnlichen Gründen sich in ihrer Kunst mit archaischen Kulturen, Aliens, Utopien und Mode beschäftigten. Zugleich gibt es konservative Akademiker*innen wie Camille Paglia oder Jordan Peterson, die suggerieren, die Genderdebatten, der Hype um Transgender und nicht-binäre Identitäten sei ein Ausdruck der Dekadenz einer auslaufenden, absterbenden Zivilisation, die natürliche "Männlichkeit" unterdrückt und den Kontakt zur Wirklichkeit und vor allem der Biologie verloren hätte. Dazu gehören auch "radikale" Feministinnen wie Germaine Greer oder die "Harry Potter"-Erfinderin J.K. Rowling, die denken, Frauenrechte und feministische Solidarität gelte nur Menschen mit Uterus. Oder Linke wie Sahra Wagenknecht, die mit Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" in der Hand suggerieren, man hätte sich zu lange um bourgeoise, dekadente Identitätsfragen gekümmert, nun seien nach den Schwulis und Trannies und Flüchtis mal ganz pragmatisch der nicht abgeholte einheimische Arbeiter dran, dem schön heteronormativ der Kindergarten gebaut werden und der Braten auf den Tisch gestellt werden müsse. Da möchte man doch gleich "Rückkehr nach Berlin" schreiben, um da etwas Anti-Heimat und Glamour reinzubringen. Was für ein Schlachtfeld, die Identität!

Doch genau dazu war damals die Alien-Rolle da, um das Ganze aus der Warte der fliegenden, wackeligen Untertasse anzugucken, nicht so sehr aus der Sicht der klassischen Feministin oder Institutionskritikerin, die auf der "richtigen" politischen, moralischen Seite steht, sondern mehr wie in einer Science-Fiction, in der eine Außerirdische auf einem Planeten landet, der für sie tatsächlich neu und fremd ist. Natürlich kann man nicht die Klassenfrage stellen, das kapitalistische System mit all seinen sagenhaften Erzählungen und atemberaubenden Tricks angucken und dabei Fragen nach Identität einfach ausblenden. Aber man kann abheben, Distanz nehmen und Experimente machen. Fast jeder kennt die berühmte Szene aus Tim Burtons "Mars Attacks!" (1996), in der die grünen Männchen den Kopf von Sarah Jessica Parker auf den Rumpf ihres Chihuahuas operieren. Mit demselben neugierigen Interesse operierte Bettina in ihren "Sandwich"-Bildern und Collagen die unterschiedlichsten Fundstücke, Zeitebenen und Zusammenhänge zu Hybriden zusammen: Disney World und Stealth-Bomber, Galliano-Modelle und arabische Drugstores. Dasselbe galt auch für die Stoff- und Stahlskulpturen, die ab Mitte der 2000er-Jahre entstanden und immer kühner und ausgefeilter wurden. Bettina modellierte ihre Skulpturen dabei "on site", machte Fittings, entwarf quasi Couture-Kollektionen.

In Bettinas erster Ausstellung bei September 2008 ging es um Identität, Show, Sterben, Wiedergeburt. Wir beschlossen, ihre Stoff- und Metallskulpturen zu dem Hauptwerk meines 1996 verstorbenen Freundes Nikolaus Utermöhlen, "An Infinite Painting on ‚A Vision of the Last Judgment‘ by William Blake" (1992), zu installieren. Nikki hatte wenige wirkliche Freunde, aber mit Bettina hatte er eine ganz besondere Verbindung und einen ganz ähnlichen Musikgeschmack. Sie gingen noch kurz vor seinem Tod 1996, als er wirklich sehr krank war und an einer Krücke laufen musste, zu einem Konzert von Pulp, mitten in die Menge. Zur Heilung brachte sie ihm Milkshakes von McDonald's mit ins Krankenhaus. Der erdbeerfarbene Streifen auf der Einladungskarte hat für mich den Geschmack von Erdbeershake mit künstlichen Farbstoffen, Aromen und Zucker, die durch einen wächsernen Strohhalm gezogen werden. Nikki und Bettina liebten dieselben Sounds, sehr schwarz, völlig soulig und housig im Kern, aber mit einer psychedelischen, kühlen Glasur, elektronisch, industrial, manchmal gnadenlos harmonisch wie die Carpenters oder Muzak in einer Shopping Mall in den 1970er-Jahren. Harald und Bettina waren die größten Musikexperten und Plattensammler, die ich kenne, Nikki war ähnlich obsessiv. Man kann sich diese Ausstellung auch wie Musik vorstellen - wie eine William Blake-Liberace-Mantovani- Deep-in-Vogue-Extravaganza zum Jüngsten Gericht: "The show began as the sun rays turned green, then purple and the Rockettes appeared in long pink gowns, each holding up one of Liberace’s most well-known trademarks, a candelabrum, and dancing to a segment of ‘Swan Lake' ... " [4] Dieser Satz, der aus Margaret Thompson Drewals "The Poetics and Politics of Camp" stammt, erinnert an die Sensibilität dieser für mich noch immer sensationellen Show, die vor inzwischen zwölf Jahren stattfand.

Nikolaus Utermöhlen "An Infinite Painting on 'A Vision of the Last Judgement' by William Blake", (Detail), 1992

Nikolaus Utermöhlen "An Infinite Painting on 'A Vision of the Last Judgement' by William Blake", (Detail), 1992

Bettina spannte ihre "Rockette"-Skulptur aus magentafarbenem Paillettenstoff und einem schweren Stahlstift an die Wand. Sie entwickelte aus gelbem Velours und einem Aluminiumbügel eine in sich gewundene, kragenartige Form, "King Neptune (slim)" (2008), die vom gleichnamigen Liberace-Cape inspiriert war, aber eigentlich nur die Schwere, das bühnenhaft Künstliche und Kindliche des Kostüms wie eine abstrakte Resonanz nachhallen ließ: Disney goes Mondrian. Die Skulptur aber, die mich ins Herz traf, war "Streetwear" (2008), ein verzinktes Absperrgitter aus Aluminium, wie man es häufig vor den Eingängen von Konzerthallen, Clubs, vor öffentlichen Gebäuden, die geschützt werden, sieht. Diese Barrieren dienen meistens dazu, Eingänge zu blockieren oder Menschenschlangen zu dirigieren. An dieser Barriere war eine Stange mit einem Halter befestigt, die an die Ständer in Krankenhäusern denken ließ, an die Infusionsbeutel gehängt werden. Bettina hatte einen zarten, türkisen Organza-Stoff über das Gestell gespannt und drapiert, der sich wie die Kaskade eines künstlichen Wasserfalls, der Faltenwurf eines Babydolls, ein Geist oder die im Wind flatternde Gardine in einem modernistischen Sixties-Haus auf den Hügeln Hollywoods über die Konstruktion ausbreitete.

Bettina Allamoda, Nikolaus Utermöhlen "To Die For", Ausstellungsansicht
© Bettina Allamoda / VG Bild-Kunst Bonn 2020, Foto: Nick Ash

Bettina Allamoda, Nikolaus Utermöhlen "To Die For", Ausstellungsansicht

Das Ganze spielte sich vor den mit Kopien bezogenen, wieder und wieder nach einem bestimmten System mit Leuchtfarben und transparentem Acryl übermalten Aluminium-Paneelen von Nikki ab, der in seinen Arbeiten, wie auch Bettina, auf reproduzierte, recherchierte oder gefundene Abbildungen zurückgriff – in diesem Fall auf William Blakes 1808 entstandene Zeichnung "A Vision of the Last Judgment". In Nikkis psychedelischer Version wirkte das wie ein Hollywood-Wasserballett, ein arrangiertes Gewimmel aus nackten Leibern, die in den Himmel zu Gott fahren oder in die Hölle stürzen. Das Bild des britischen, zeit seines Lebens von den Akademien und dem Establishment geächteten Dichters und Künstlers verkörpert den Sieg der visionären Kunst über die korrumpierte weltliche Kunst. Zugleich beruhte es auf Blakes Überzeugung, dass Gott auch die persönliche Apokalypse vorgesehen hat, dass jeder Mensch, der sich der Lüge widersetzt und der Wahrheit zuwendet, sie individuell erfährt, sozusagen ein eigenes Jüngstes Gericht, das den Anbruch einer neuen Zeit ankündigt.

Nikolaus Utermöhlen "An Infinite Painting on 'A Vision of the Last Judgement' by William Blake" (Detail), 1992

Nikolaus Utermöhlen "An Infinite Painting on 'A Vision of the Last Judgement' by William Blake" (Detail), 1992

William Blake "A Vision of the Last Judgment", 1805
Foto: gemeinfrei

William Blake "A Vision of the Last Judgment", 1805

Nikki muss diese Apokalypse erlebt haben, während er, immer wieder unterbrochen von Krankenhausaufenthalten, an dieser 18-teiligen Serie mit zwei Meter hohen Aluminiumplatten arbeitete. Ich hatte sie erlebt, Bettina bestimmt auch. Für mich steckte die Auflösung des Egos, einer fixen Identität schon damals in dieser Ausstellung. Doch sie war verpackt in eine großartige, superkonzeptionelle, reduzierte und abstrakte Drag-Show. In den Werken von Bettina konnte man vielleicht ganz existenzielle Freuden, Leiden, Haltungen, die Identität der Künstlerin, ihre Geschichte und die unseres ganzen Netzwerkes lesen, wie die stilisierten Voguing-Gesten bei einem Ballroom-Wettbewerb. Dennoch waren diese Arbeiten, genauso wie die von Nikki, völlig frei von "Authentizität", "Betroffenheit", "Poesie". Es gab auch keinen dramatischen Moment, in dem der oder die Performer*in die Perücke runterzieht oder wie der Wizard of Oz seine "wahre" Identität zeigt.

Für beide, Nikki und Bettina, war es wichtig, in ihrer Praxis extreme, im besten Sinne "überspannte" Sensibilität mit absoluter Künstlichkeit und industrieller Härte zu verbinden. Für Bettina war es schon damals entscheidend, beim Spannen der Stoffe, bei dem Spiel mit Gewichten, Stahl und Dehnung eine gewisse Brutalität an den Tag zu legen. Ganz bewusst wollte sie einen Gegenpol zu den betulich arrangierten, wavig-biedermeierlichen Materialassemblagen setzen, die man in den späten Nullerjahren wie einen Boutique-Stil in aufstrebenden Galerien sah: bedeutsam zusammengebastelte Ästchen, Glasplatten, modernistische Keramikvasen, Neonröhren. So beschäftigten sich ihre kurz darauf entstandenen Bed-Bondage-Skulpturen aus Stahl, Holz und Stretch-Stoffen mit Fesseln, Verknoten, Einengen. Sie spielen mit Fetischisierung und den Mechanismen von Macht und Unterwerfung. Die Vorstellung eines "Fabric of Society", in dem Netzwerke, Verbindungen, Beziehungen in Familie, Freundschaft und Gesellschaft verwoben sind, überträgt Bettina auf die Materialität ihrer Skulpturen. Der Furcht vor dem Ausbruch von Gewalt und Psychosen in familiären und gesellschaftlichen Sphären stehen bestimmte Kontroll- und Sicherheitsmechanismen gegenüber, die gleichermaßen in Mädchenzimmern, Stadien, Straßen oder auf Schlachtfeldern eingesetzt werden: Polsterung, Schutz, Tarnung und Isolierung.

Bettina übersetzt diese Funktionen in ein strenges, formales Vokabular, das in seinen Farben und Materialien jedoch aufgeladen ist – mit den kalten, dunklen Farbtönen von Willliam Friedkins "Exorzist", Uniformfarben und azurnen Himmeln der Internetbilder aus dem Irak, dem klinischen Blau von Kindernachthemden und Anstaltskleidung, dem Faltenwurf von Abendkleidern auf einem Abschlussball in den späten 1970er-Jahren. Die Stoffe, mit denen Bettina arbeitet, sind Psychostoffe: hysterisch funktional. Eine fixe Identität, ein fester Zustand (beim Voguing würde man sagen "Freeze Frame") in Bettinas Skulpturen ist das Ergebnis von systematisch eingesetzter Gewalt, die das Material in Form bringt und auch in Form hält, wobei es die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht.

Das Gleiche gilt für ihre aktuelle Arbeit in Potsdam, die in ihrer Glamour-Industrial-Ästhetik auf ein kulturelles Phänomen anspielt, das auch für die Jugendkultur in der Ära der deutschen Wiedervereinigung wegweisend war: die frühen Ausprägungen von Techno, oder besser Techno House, die nicht nur bunt, sondern auch industriell waren. Die Leute gingen mit neonfarbenen Signalwesten, Arbeitskleidung, Gasmasken, Schutzbrillen in die Clubs und brachten Leuchtstäbe oder sogenannte "Knicklichter" mit, die eigentlich zur Markierung bei Notfällen, im Militär- und Sicherheitsbereich eingesetzt wurden. Diese frühe Form von Techno verkörperte auch eine Form von Gleichheit. Die Ausrüstung war für jeden erschwinglich, die improvisierten Clubs fanden sich auf Industriegeländen, man ging buchstäblich in die Fabrik.

Dabei reagiert die Stretch-Skulptur auf die Architektur in der Ausstellung, nimmt die statische Rundung der Treppe auf und zieht sich wie ein Silver Surfer-Schweif oder der Faltenwurf eines Ballkleides von Poiret als eine Art futuristische Alien-Architektur ins Obergeschoss, um quasi zu den Arbeiten von Ursula Döbereiner, Thomas Rehnert und Marc Brandenburg zu führen, sie mit einzuschließen. Der Titel "Eck-Rammschutzbügel (Silver) 2" klingt deutsch, wie ein Krautrock- oder Techno-Stück, der Stil der Skulptur ist industriell, international, zeitlich nicht einzuordnen, verweigert sich nationaler Identität und eindeutigen historischen Bezügen. Bettinas Arbeit ist trotz ihrer raumfüllenden Größe unglaublich fragil. Eine kleine Lockerung würde genügen, um dieses Konstrukt, diesen temporären Zustand aufzulösen.

 

3. The Glitch

Ich liebe Ursulas Zeichnungen so sehr, dass ich in einer wohne. Vor fast 15 Jahren entwarf sie eine raumfüllende Arbeit. Heute ist mein Wohn- und Arbeitszimmer in Berlin eine einzige Zeichnung. Eine Wand kann ich von meinem Schlafzimmer aus sehen. Wenn ich aufwache, gucke ich in eine abstrakte, kosmische Landschaft. Aus einem flirrenden All-Over von vergrößerten, mit dem Kuli gezeichneten Rasterpunkten, ineinander verhedderten Kabeln und Klinken, die in Synthesizer, Boxen oder Verstärkern stecken, ragen die Umrisse der schwerelosen, hypermodernen Weltraum-Hostessen aus Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum". Das kleine blonde Mädchen aus "Poltergeist II: The Other Side", das selbst aussieht wie ein Cyborg oder Alien, nimmt Kontakt mit einem Meer funkelnder Lichter auf, die irgendwie aussehen wie VR. Anna Karina kämpft in Jean-Luc Godards "Alphaville" (1965) gegen den Computer Alpha 60, der die ganze Stadt kontrolliert, in der Liebe, Poesie, Gefühle verboten sind. Ein Psychiater untersucht die kleine besessene Regan (Linda Blair) in William Friedkins "The Exorcist" (1973). An einer anderen Stelle auf der Zeichnungstapete sieht man Ellen Burstyn als die Mutter, die elegant und voller Angst in die Kamera blickt, kurz bevor sie den Glauben an die Wissenschaft verliert und bei einem selbst von Zweifeln geplagten Jesuitenpriester um einen Exorzismus für ihre Tochter bittet.

Ursula Döbereiner, Tapetenentwurf für Ollies Schlafzimmer, digitale Collage, 2005

Ursula Döbereiner, Tapetenentwurf für Ollies Schlafzimmer, digitale Collage, 2005

Alles auf dieser Tapete ist ein einziger schöner Schlamassel, im Schwebezustand. Alles hängt zusammen. Genauso, wie sich Geschichten und Identitäten auflösen, wenn der Knoten platzt, reicht eine Berührung, eine Reibung, ein Verheddern und Verknoten, um einen neuen Zustand, neue Gemeinschaft, eine neue Story anzufangen, eine neue Identität und etwas anders zu sehen oder zu erzählen. Man kann sich Bettinas fast bis zum Zerreißen gespannte Stoffe als "Fabric of Society" vorstellen, in dem verschiedene gesellschaftliche "Fäden" soziale Milieus, Netzwerke, Institutionen, Kulturen, Rituale ineinander verwoben sind. Aber auch als materialisierte Denkbewegung, die sich regelrecht nach dem Betrachter ausstreckt, den Stress, die Schönheit und auch den Zusammenhalt ausdrückt. Genauso verhält es sich mit Ursulas zeichnerischer Arbeit.

Ursula Döbereiner, Schlafzimmer, tapezierter Computerausdruck, 340 x 960 cm, 2005. Wohnung Oliver Koerner von Gustorf, Oranienstraße, Berlin, 2005
Fotos: Ursula Döbereiner

Ursula Döbereiner, Schlafzimmer, tapezierter Computerausdruck, 340 x 960 cm, 2005. Wohnung Oliver Koerner von Gustorf, Oranienstraße, Berlin, 2005

 

In der überlebensgroßen Raum-Zeichnung überlagern sich nicht nur gezeichnete Stills aus bestimmten Filmen, die Ursula und mich faszinieren, die unser Denken, Lesen, Sehen, Sprechen, unsere Vorstellungen einer überspannten, psychotischen, dysfunktionalen Modernität prägten. In Ursulas Zeichnung überlagern sich auch verschiedene Techniken. Ein Teil der Zeichnungen, die sich hier auf zig Ebenen überlagern, wurde mit der Hand gezeichnet und dann eingescannt, ein anderer direkt auf dem digitalen Zeichenpad am Computer produziert. Dabei gibt es verschiedene Auflösungen. Einige der Linien brechen wieder in Treppen oder Pixel auf, während andere aussehen, als hätte jemand direkt mit einem riesigen Kuli auf die Wand gemalt. Dann gab mir Ursula die Erlaubnis, andere Bilder über ihre Zeichnung zu hängen: Zeichnungen, Fotoarbeiten, Gemälde, die wie auf dem Desktop vor einem Hintergrundmotiv abgelegt werden können. Nur trinkt man Tee in dieser Benutzeroberfläche.

Ursula Döbereiner, Schlafzimmer, tapezierter Computerausdruck, 340 x 960 cm, 2005. Wohnung Oliver Koerner von Gustorf, Oranienstraße, Berlin, 2005
Foto: Ursula Döbereiner

Ursula Döbereiner, Schlafzimmer, tapezierter Computerausdruck, 340 x 960 cm, 2005. Wohnung Oliver Koerner von Gustorf, Oranienstraße, Berlin, 2005

 

In dieser Arbeit ist schon alles angelegt, was auch für die Klang- und Videoinstallation "Wärme" (2020) von Ursula und Thomas für "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" eine Rolle spielt. Da ist natürlich die Übertragung von einem Medium ins andere: von der Hand aufs Papier, in den Scanner, die digitalisierte Zeichnung auf dem Bildschirm, die dann in den Drucker gesendet und ausgedruckt wird. Da ist die Resonanz, vom Körper zum Blatt oder zur Maschine, in den Raum, der eine Zeichnung ist und auf den Betrachter oder Bewohner wirkt wie ein Resonanzkörper. So wirkt das etwa auf mich, wenn ich seit 15 Jahren in Berlin in einem Meer aus Rasterpunkten aufwache, das versetzt mich in Vibration.

Ursula Döbereiner und Thomas Rehnert, "Wärme", Audio- und Videoinstallation, 2020, Ausstellungsansicht in "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland", Kunstraum Potsdam, 2020
Foto: Ursula Döbereiner

Ursula Döbereiner und Thomas Rehnert, "Wärme", Audio- und Videoinstallation, 2020, Ausstellungsansicht in "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland", Kunstraum Potsdam, 2020

 

Diese Idee der "Zeichnung" erweitern Ursula und Thomas in ihrer Installation für die Potsdamer Ausstellung mit Sensoren, Klängen und Video. Ihre Installation "Wärme" ist wie eine Raum-Resonanz-Zeichnung mit Rückkopplungen, die durch die Besucher ausgelöst werden. Kommt man in den ersten Stock des Kunstraums Potsdam, sieht man eine Kamera und Monitore, auf denen verzerrte Aufnahmen zu sehen sind, manchmal nur Schlieren und Streifen, manchmal erkennt man Menschen im Raum, sich selbst. Das erinnert an die Low-Tech-Überwachungsmonitore, die in Discountern, Spätis oder Vororthäusern hängen, die filmen, wie eine Amsel über den Rasen läuft oder einfach gar nichts passiert. Aber diese Bilder sind blitzschnell wieder verschwunden, werden gestört und manieristisch gedehnt, wie Marcs Zeichnungen oder Bettinas Stoffe oder wie die schwarz-weißen Videoaufzeichnungen von Industrial- und Wave-Konzerten aus den frühen 1980er-Jahren, als man sich noch diese riesigen Kameras leihen musste, die auf jeden Lichteinfall, jeden Krach völlig unvorhersehbar reagierten. Im Raum verteilt sind Sensoren, die auf Lichteinfall, Geräusche und Wärme reagieren. Mit jeder Bewegung, jedem Sprechen oder Husten, abhängig von der Tageszeit, ändern sich der Soundtrack und die Videobilder, die sich aus Aufnahmen von den Besuchern und von auf die Wände tapezierten Plakaten speisen, die selbst aussehen wie schlierige Monitorbilder.

Das Ganze ist eine komplexe Verschaltung miteinander kommunizierender und sich gegenseitig beeinflussender Prozesse, man könnte auch sagen, ein paranoides, sinnloses Überwachungssystem. Besonders interessant ist das, wenn man weiß, dass Thomas in Zeitz geboren wurde und als Dissident und Punker von der Stasi überwacht und auch über einen längeren Zeitraum inhaftiert wurde. Anfang der 1980er-Jahre kam er nach Westberlin in die Szene. Geprägt vom europäischen Free Jazz der 1970er-Jahre, spielte er in den 1980er-Jahren in Wesberlin in verschiedenen Punkbands Schlagzeug. Im Punk- und Experimentalmusikumfeld begann er, sich mit improvisierter und elektroakustischer Musik, Maschinenmusik und Automaten zu beschäftigen. Seit einigen Jahren baut er aus analogen Modularsystemen Installationen, die Klänge, Videos, Zeichnungen und Skulpturen generieren. In der gesamten Ausstellung ist dies die einzige Ost-West-Kooperation, wobei Ursula und Thomas zusammenleben und für Projekte zusammenarbeiten.

Und darum geht es in diesem von Rückkopplungen geplagten System vor allem: um Interkonnektivität, wie wir alle voneinander abhängig sind, zusammenhängen, Teil eines komplexen, problematischen Ganzen sind, eines sozialen, ökonomischen, ökologischen globalen Systems, das immer mehr von Störungen und Disruptionen heimgesucht wird, ganz gleich, ob es sich um die Pandemie, Rassismus, den Vormarsch totalitärer Regierungen oder um den Klimawandel handelt. Die Welt hängt am Draht, an einem Rammschutzbügel, an einer gold-silbernen Rettungsfolie, die über eines der 666 Migrantenkinder in den US-Käfiglagern an der mexikanischen Grenze ausgebreitet wurden, deren Eltern nicht mehr auffindbar sind - weil die Trump-Behörden noch nicht einmal ihren Namen notierten, einfach um ein politisches Exempel zu statuieren und zu polarisieren.

Genau gegen diese Polarisierung, gegen das Gefühl, auf der "richtigen" oder "falschen" Seite der Geschichte zu stehen, wendet sich "Wärme". In einer Ausstellung, in der 30 Jahre Wiedervereinigung diskutiert werden, wird erwartet, dass Künstler*innen Stellung beziehen, "Fragen stellen", sich mit der deutschen Geschichte, ihrer Biografie, Symbolen, Stilen, politischen und sozialen Realitäten, Architektur oder Design in Ost und West "auseinandersetzen", kritisch, poetisch oder originell an eine kollektive Erinnerung appellieren. Nichts davon scheint hier der Fall zu sein. Ursula und Thomas haben eine reduzierte Struktur entwickelt, die wie eine Art Baukasten erscheint. In Zeiten, in denen alles Virtuelle, Robotische möglichst unter einer glatten, freundlichen Oberfläche verborgen wird, jeder Chatbot ein Gesicht oder einen kleinen Scherz mit auf den Weg bekommt, sieht "Wärme" merkwürdig kühl, fast skelettiert aus. Man kann vielleicht so etwas wie einen Lagerplatz erahnen, wo man Feuerchen machen könnte, aber richtig kuschelig wird es nicht. Wir stehen vor einem etwas unübersichtlichen, zusammengesteckten System, in dem man episch, Brecht-Dogville-mäßig, schön schmucklos jedes Kabel, jedes Gerät, jeden Sensor sieht. Quasi jeder Ton, jede Temperatur, jeder Lichteinfall ohne Einschränkung registriert, ins System gespeist, durch Filter gejagt, ohne Ziel, ohne Verwertungsgedanken, ohne Beurteilung.

Wäre "Wärme" ein Körper, wäre er vielleicht super achtsam, würde sich für alles öffnen. Vielleicht würde er, unfähig abzuschalten, ohne Rückzug und Regeneration, von der Fülle der Wahrnehmungen geradezu überflutet, vielleicht auch traumatisiert werden. Wäre "Wärme" ein Ort, wäre es vielleicht, wie in "Alphaville" oder in Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie "Welt am Draht" (1973), die von einem Supercomputer gesteuerte Simulation einer alternativen, miteinander vernetzten Realität, die von "Identitätseinheiten" bevölkert ist, die ein Bewusstsein wie normale Menschen haben, aber nicht wissen, dass sie in einer alternativen Realität leben. "Wärme" ist auf jeden Fall ein Ort der Interkonnektivität, an dem alles auf alles reagiert, aber auch ein Ort der Disruption, der durch ständige Rückkopplungen, Verzerrungen oder "Glitche" heimgesucht wird.

Das Wort "Glitch" taucht zum ersten Mal 1962 in dem Beitrag des Astronauten John Glenn zu dem Buch "Into Orbit" auf. Es geht um das Project Mercury, die erste bemannte Raumfahrt der USA, an dem sieben Astronauten teilnahmen. Glenn beschreibt, wie sie das Wort adaptierten, um technische Probleme oder Spannungsschwankungen zu beschreiben. Das Wort stammt wahrscheinlich aus dem Deutschen, von "glitschen", oder aus dem Jiddischen, von "gletshn". Ein Glitch bezeichnet den kurzen Aussetzer eines Systems, eine temporäre, unerwartete Fehlfunktion. Ein Glitch ist, wenn auf Skype oder WhatsApp das Bild einfriert, wenn das Licht flackert, wenn der Föhn eingeschaltet wird, Pixelstreifen in Videospielen oder beim Streamen von Filmen entstehen oder man seine eigene Stimme am Telefon als zeitversetztes Echo hört und denkt, man wird abgehört. Früher, in den 1960er-Jahren, drehte man an der Zimmerantenne, wenn es Doppelbilder auf dem Fernseher gab. Seit langem spielen Musiker*innen und bildende Künstler*innen mit der Idee des Aussetzers. Scratchen ist im Grunde eine frühe Form von Glitching. Aber das Wort bezieht sich auf alle möglichen digitalen Soundexperimente oder visuelle Störeffekte beim Gaming, die zu einer anderen, gesteigerten Wahrnehmung führen können.

Ursulas Kunst der letzten Jahre ist voll von "Glitchen". Auf ihren am Computer generierten Wandzeichnungen überlagern sich die architektonischen Elemente von brutalistischen Hochhäusern am Kreuzberger Kotti oder das neobarocke Dekor vom Linderhof, dem völlig überzogenem Schloss Ludwigs II. in Bayern, zu flirrenden Ornamenten, als wäre das Papier im Drucker steckengeblieben und das Blatt wieder und wieder überdruckt worden – oder als ob die Zeichnerin autistisch einfach immer auf derselben Seite weiterzeichnet. Auf Ursulas 3-D-Zeichnungen sieht man mit der 3-D-Brille in einen Raum, in dessen Tiefe geometrische Logos mit Krautrock-Slogans oder -Bandnamen neben der besessenen Linda Blair schweben: EAT PILLS, SOFT TOUCH, CLUSTER. Nimmt man die Brille ab, zerfällt der dreidimensionale Raum in übereinander gedruckte, blaue und rote Schriftzüge und Flächen, in ein psychedelisch verzerrtes, serielles Ornament.

Ursula Döbereiner "schleier130b 3d", 2013, digitale Collage, Größe variabel

Ursula Döbereiner "schleier130b 3d", 2013, digitale Collage, Größe variabel

Die Idee des "Glitches" ist im Science-Fiction-Genre mit der Auflösung der bis dahin festen Realität verbunden. Ein Scheinwerfer fällt wie in der "Truman Show" vom Himmel, ein Hologramm wackelt, die Roboter-Nachbarin serviert Kaffee, obwohl ein Messer in ihrem Bauch steckt. Der Glitch, der Fehler im System, stellt das vermeintlich Normale, den Anspruch auf eine einzige, verbindliche Realität radikal infrage. Er zeigt die Hardware, die wir sonst nicht beachten. Und er weist einen Weg in die Freiheit. Das kann man auch auf den politischen Kontext übertragen. In ihrem Manifest "Glitch Feminism" beschreibt die Kuratorin und Aktivistin Legacy Russell Trans- und nicht-binäre Identitäten als Glitch. "Ein Körper, der sich der Anwendung von Pronomen widersetzt oder innerhalb der binären Zuordnung nicht zu entziffern ist, ist ein Körper, der sich weigert, das erwartete Ergebnis zu performen. Dieses Nicht-Performen ist ein Glitch. Der Glitch ist eine Weigerung." [5] Diese Logik hat weitere Konsequenzen: "Der Glitch bestätigt, dass gegenderte Körper weit davon entfernt sind, absolut zu sein. Vielmehr sind sie imaginär, hergestellt und für das Kapital warenförmig gemacht. Der Glitch ist das Gebet des*r Aktivist*in, ein Aufruf zur Aktion, während wir auf ein fantastisches Versagen hinarbeiten und uns von der Vorstellung befreien, dass Gender etwas Feststehendes ist." [6] Hat man das einmal akzeptiert, sagt Russell, gibt es verschiedene queere Strategien, mit der zugeschriebenen "Identität" umzugehen. Man kann sie wie beim Voguing "shaden" oder wie beim Onlinedating "ghosten", von der Bildfläche verschwinden, unsichtbar werden, nicht mehr reagieren, sich remixen oder wie ein Virus in ein Programm eindringen.

Diese Strategie entspricht sehr dem Denken, das ich aus der Berliner Szene, aus dem Kumpelnest kenne, in dem Vogue und House-Hymen wie Nuyorican Souls "It’s Alright, I Feel it" oder "Love is the Message" von MFSB hoch und runter gedudelt wurden. Dabei gehört Russell zu einer Generation, die mit dem Internet und virtueller Realität aufgewachsen ist, für die nicht nur das Geschlecht etwas Fließendes ist, sondern auch der Begriff des Körpers. Er endet nicht mehr an den Grenzen der Haut, sondern erweitert sich in den digitalen Raum, bei dem es keinen Gegensatz mehr gibt zwischen Natur und Technologie. Und hier wird es spannend. Die Debatten über Transgender-Rechte werden nicht so erbittert geführt wegen der Pronomen, Toiletten oder Frauenhäuser. Es geht um eine grundsätzlich binäre Vorstellung, nicht nur von Identität, sondern der gesamten Welt. Die radikalen Feminist*innen und fundamentalistischen Christ*innen, die bizarre Allianzen gegen Transmenschen bilden, pochen auf eine fundamental binäre Weltordnung, in der es auf der einen Seite um "Natur" (natürliche Fortpflanzung, Bestimmung, göttliche Ordnung, authentische Erfahrung der Geschlechter, biologische Familie) und auf der anderen Seite um "Technologie" (Cyborgs, "künstliche" Menschen, künstliche Geburten, gewählte, nicht-biologische Familien, manipulierte, operierte, performte Geschlechterrollen) geht. Dieses binäre Denken setzt sich in allen Kategorien fort: gut-böse, nützlich-dekadent, rechts-links, wahr-fake, krank-gesund, menschlich-unmenschlich, Ost-West, sicher-gefährlich und so weiter. Was für binär denkende Menschen so gefährdet scheint, ist ihr eigener Identitätsbegriff. Und das geht weit über Gender hinaus. Wenn Gender eine Illusion ist, dann sind es auch Klasse, Rasse, Ideologien, sämtliche bestehenden Gesellschaftssysteme, die von einem Glitch nach dem anderen heimgesucht werden. Das Festhalten an binärem Denken ist der letzte Versuch, die Kontrolle wiederherzustellen.

Dabei legen uns die Wissenschaften ein völlig neues, spekulatives, mehr oder weniger post-humanes Denken nahe. Wir sollen also tatsächlich beginnen, wie in einer Science-Fiction zu denken, so wie ein Stein, eine Motte oder ein Alien. Wie Bettina, die in der Zukunft auf der Erde landet und nur noch Spuren der ausgestorbenen Menschheit findet und quasi rückwirkend rekonstruiert, wie das passiert ist. Vielleicht können wir so in der Gegenwart zu Lösungen kommen. Wir können versuchen, sagt die kalifornische Naturwissenschaftshistorikerin und Feministin Donna Haraway, uns Tiere und Pflanzen, alles Lebende, als "Kin", als Verwandtschaft oder Familie vorzustellen, mit der wir gemeinsam wachsen und lernen, zusammenarbeiten können. Wir können mit künstlicher Fortpflanzung, Drogen, virtueller Realität, der Vermischung menschlicher und tierischer Gene spielen, um aus diesem binären, starren Denken herauszukommen und die Erde heilen zu lassen. Bereits 1985, Jahre bevor Judith Butler "Gender Trouble" schrieb, veröffentlichte sie in der "Socialist Review" ihr "Cyborg Manifesto", in dem die bekennende Marxistin radikal und sehr polemisch gegen die Opposition von Natur und Technologie anschrieb, gegen fixe Geschlechterbegriffe, aber auch gegen die Kleinfamilie, die Nation, den Kapitalismus.

Ursula Döbereiner, 1994
Foto: Anke Cott

Ursula Döbereiner, 1994

m Kontext von "Wärme" zitiert Ursula aus Haraways jüngstem Buch "Unruhig bleiben - Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän": "Staying with the trouble requires oddkin; that is, we require each other in unexpected collaborations and combinations, in hot compost piles. We become-with each other or not at all." [7] Wir sollen nicht, wie es der deutsche Titel suggeriert, "unruhig bleiben", sondern "bei der Unruhe bleiben", uns nicht entziehen, nicht weglaufen, nicht dichtmachen, nicht binär urteilen. Im Gegenteil. Um die Krise, den Ärger, die Aufruhr auszuhalten, die Glitches produktiv zu nutzen, sollen wir ungewöhnliche, verschrobene Verwandtschaften, Kollaborationen und Kombinationen auch mit tierischen oder pflanzlichen Lebensformen eingehen, wie in einem Komposthaufen, in dem es so gärt, dass er Hitze erzeugt. Keine Angst! Bevor wir uns ins feministische, transsilvanische Genlabor oder auf den OP-Tisch begeben und uns nicht nur Busen oder Hoden, sondern auch Bärte aus Schmetterlingsfühlern implantieren oder wachsen lassen, können wir diese Vorstellungen wie eine Science-Fiction oder eine Fantasy-Story von H.P. Lovecraft lesen. Und erst einmal versuchen, Trans-Rechte zu sichern, andere, offenere, nicht-heteronormative Familienverbände zu gründen und lernen, uns wie Brüder und Schwestern von allem Lebenden, Pflanzen, Tieren und "Aliens" zu benehmen, von Flüchtlingen, psychisch Kranken, Alten, Obdachlosen. Und wir können, wie es Ursula und Thomas es mit "Wärme" vorschlagen, versuchen, mit der komplizierten, schwierigen, paradoxen Wirklichkeit des Anthropozäns, Kapitalozäns, Chthuluzäns, wie immer auch diese Zeit heißt, umzugehen, indem wir Differenzen und Störungen, den Glitch als Potential sehen. Ich liebe meine Freunde, deren Leben und Werk ein einziger Glitch sind. Ich war immer gestört und liebe die Störung. Sie ist die Basis für unseren Common Ground in dieser absolut problematischen Zeit. "Gutes Denken passiert immer in Momenten der Sprachlosigkeit", sagt Haraway und fordert Beziehungen, die das Gegenüber weder normalisieren noch "reparieren" wollen.

Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Ost und West. Dass ich mit fast 60 Jahren als eingefleischter Westberliner, dekadenter Homo, ohne Führerschein im nicht-gentrifizierten Teil eines ostdeutschen Dorfes gegenüber von einem Wohnwagen mit Eisernem Kreuz wohne, mit Nachbar*innen Geburtstag feiere, die politisch auf der völlig entgegengesetzten Seite stehen, war nicht in meinem System vorgesehen. Aber irgendwie klemmt das Rollo, das ich sonst runtergelassen hätte. Ich ändere ihre Meinung nicht, sowenig wie sie meine. Aber wir sprechen, hören einander mit Interesse zu. Dieses Gefühl der Fremdheit ist weg, auch wenn ich offensichtlich anders bin. Ich bemühe mich nicht, mich anzupassen. Dass ich mich mit ihnen intensiver austauschen kann als mit einem*einer Galerist*in oder einem*einer systemischen Berater*in aus dem Prenzlauer Berg, ist auch ein Glitch. Ich warte nur darauf, dass ein Scheinwerfer vom Himmel fällt.


[1] Prince and the Revolution, Pop Life, Paisley Park, Warner Brothers, 1985.

[2] Slavoj Zizek, ‘The two types of the fear of the burka’, Southbank Centre Literature Blog, 11 July 2010, http://litandspoken.southbankcentre.co.uk/2010/07/11/slavoj-zizek-the-two-types-of-the-fear-of-the-burka/

[3] Ebd.

[4] Margaret Thompson Drewal, The Camp Trace in Corporate America – Liberace and the Rockettes at Radio City Music Hall, in: The Poetics and Politics of Camp, Psychology Press, 1994, S. 132.

[5] Legacy Russel: Glitch Feminism: A Manifesto, Verso, London New York, 2020, S. 8.

[6] Ebd., S. 9.

[7] Donna Haraway: Staying with the Trouble – Making Kin in the Chthulucene, Duke University Press, 2016, S. 4.