Keinem fällt mehr etwas ein. Angesichts der zusammenbrechenden ökologischen und sozialen Systeme, dahinsiechender Demokratien, dem Bomben und Morden, der himmelschreienden Ungleichheit sind uns die Fantasien ausgegangen. Die politischen Gute-Nacht Geschichten, die wir serviert bekommen, sind Re-Enactments, alt, nachgemacht. Wie Hunderte von italienischen Faschisten die 2024 mit erhobenem Arm durch Rom marschieren und ein Bild erzeugten, das aussieht wie 1934.
Die Rückkehr zum Nationalismus, der Hang zum Autoritären ist wie Resteessen. Einfach, weil da nichts anderes mehr da zu sein scheint, als das weiße, christliche, rassistische Abendland, vom Winde verweht. Das Deutsche Reich, nur dass der Kaiser jetzt vielleicht ein Joghurt-Hersteller oder eine ausrangierte Richterin ist. Das antikolonialistische, zugleich orthodoxe und stalinistische Zarenreich, das dem LBTQI-Terrorismus und der woken Dekadenz den Garaus macht. Technokratische Gesellschaften, in denen nur die besten Bros regieren. Raumschiffe mit Unternehmern als Kapitänen, Entdeckern, Sportlern, Neurobiologen, Martial-Arts-Kämpfern und Stand-up Komikern, die neue Welten im All kolonialisieren. Und ewig leben wollen, wie Vampire.
All diese Storys sind patriarchalisch und zerstörerisch. Sie handeln von Barbaren, Bestien, Hexenverbrennungen, Pogromen, Lagern, Kriegen, in denen alles, was nicht in diese monolithischen Fantasien reinpasst, verfolgt, diffamiert, entmenschlicht, ausgerottet wird. All diese Storys halten am Binären fest: links oder rechts, richtig oder falsch, gut oder böse, ich oder du.
"Fantasie" hieß auch "schwul" oder "verrückt"
Während die Welt brennt, sich alte Gewissheiten auflösen und genau dieses binäre Denken nicht mehr funktioniert, ähnelt unsere politische Debattenkultur immer mehr dem Fantasyfilm "Highlander: Es kann nur einen geben". Nur eine singuläre Story darf überleben, alles andere ist Spinnerei. Helmut Schmidt, Gott hab ihn selig, hat mal dazu gesagt: "Wer eine Vision hat, soll zum Arzt gehen." Das fasst das Denken der Nachkriegsgeneration ganz gut zusammen, die wie wir langsam merken, selbst völlig verrückt war.
In den Sixties, als Kind, wusste ich, wenn ich irgendwas performt oder gemalt hatte, dass dieses gönnerhafte Lächeln von Erwachsenen kommt. Was ich tat, war originell, aber nicht nützlich. Ach, was soll das denn sein? Ja, der Oliver, hat soviel Fantasie! Der wird bestimmt mal Künstler! "Fantasie" hieß auch "schwul" oder "verrückt". Aber vor allem bezeichnete das Wort in der Nachkriegsgesellschaft etwas nur Geduldetes, Überflüssiges.
Dann kam der "Summer of Love". Woodstock, Studentenrevolten, die sexuelle Revolution, antiautoritäre Erziehung, schwappten in unseren Bildungsbürgerhaushalt, die Mainstreamkultur. Selbst als kleiner Junge spürte ich, dass sich etwas änderte.
Geheimtreffen in Baden-Baden
Zu den Slogans der Pariser Studentenunruhen im Mai 1968 gehören "Die Fantasie an die Macht" oder "Unter dem Pflaster liegt der Strand". Eine andere, linke, weniger autoritäre, experimentelle Gesellschaft scheint damals plötzlich möglich, auch der Zusammenschluss von verschiedenen Klassen, Arbeitern, Gewerkschaften, Studenten, Intellektuellen und Künstlern, der zuvor als utopisch gegolten hatte.
Am 29. Mai passiert dann etwas Unglaubliches. Charles de Gaulle, General und Staatspräsident, lässt sich heimlich, ohne Wissen seiner Minister von Paris nach Baden-Baden zu den französischen Besatzungstruppen ausfliegen, um dort mit Jacques Massu zu konferieren, einem General, der ihm eigentlich extrem kritisch gegenübersteht. Dass de Gaulle auch seine Familie und Wertsachen bei sich hat, führt später zu auch von Massu befeuerten Spekulationen über eine eventuelle Flucht – zu der Story, dass der Präsident von den Studenten und ihrem Anführer Daniel Cohn-Bendit aus der Stadt vertrieben worden sei.
Doch viel wahrscheinlicher geht es bei dem Treffen um etwas anderes. Massu hat als Oberbefehlshaber in Algerien mit seinen Truppen systematisch Kriegsverbrechen begangen, Folterungen und Erschießungen, die er 2000, kurz vor seinem Tod, öffentlich bereut. De Gaulle will sich vielleicht seiner Unterstützung versichern, um den Aufstand falls nötig mit dem Militär gewaltsam niederzuschlagen zu können. Das solch ein eigentlich undenkbarer Gewaltakt in einer westlichen Demokratie wie Frankreich möglich ist, zeigte bereits 1961 das sogenannte "Massaker von Paris", das von den Medien über Jahrzehnte totgeschwiegen wurde. Unter der Führung des Polizeipräfekten Maurice Papon ging die Polizei brutal gegen eine friedliche, nicht genehmigte Demonstration von mehreren zehntausend Algeriern vor, zu der die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN aufgerufen hatte.
Mindestens 200 Menschen wurden erschossen, erschlagen, ins Wasser geworfen. Leichen trieben die Seine hinunter. Papon, ein hoher Beamter des Vichy-Regimes, der unter der deutschen Besatzung in Paris für die Deportation von Tausenden von Juden nach Auschwitz verantwortlich war, wurde erst 1998 wegen seiner Verbrechen in der Nazizeit zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, von der er drei Jahre verbüßte. Für das Massaker wurde er nie belangt. Im Falle der Studentenunruhen kommt es nicht so weit, Massud beruhigt de Gaulle, der am nächsten Tag gefestigt nach Paris zurückkehrt, in Uniform eine Fernsehansprache hält und Neuwahlen ausruft. Die Unruhen lösen sich schnell in Luft auf, zu unheimlich ist vielen diese plötzlich realistisch gewordene Fantasie.
Es ist netter geworden
Schon in den Seventies, mit dem Aufkommen von Glam, Punk und dem Neoliberalismus von Thatcher und Reagan werden die sozialistischen Träume von 1968 als konservativ, hierarchisch, bürokratisch verworfen zugunsten von grenzenloser individueller Selbstverwirklichung und der eigentlichen Revolution: dem vernetzten, digitalen Kapitalismus. Dem ist der "lange Marsch durch die Institutionen" vorausgegangen, der Versuch, die etablierten Strukturen von innen zu reformieren. Oder die von Vorreitern wie Andy Warhol, William S. Burroughs, Vivienne Westwood und Malcolm McLaren begründete Strategie, die Strukturen der Mainstreamkultur subversiv zu nutzen und zu infiltrieren.
Alle diese Fantasien hat sich das bestehende kapitalistische System einverleibt. Es ist netter geworden. Statt strenger Hierarchien und Befehlsketten gibt es jetzt Netzwerke, die ihre Arbeit in Teams und Projekten organisieren, sich um Nachhaltigkeit, Diversität, nun auch De-Kolonialisierung kümmern. Die politisch korrekte Sprache, mit der im akademischen Betrieb und im Kunstbetrieb über Gender, Rassismus, Identität, Kolonialgeschichte debattiert wird, ist in der Corporate-Welt gültig, wurde von ihr mitgeprägt.
Die hedonistischen Fantasien der 68er, das Experimentieren mit Sex, die Hinwendung zu mystischen Erfahrungen, holistischen Praktiken sind inzwischen obligatorische Freizeitvergnügen, Teil einer globalen Unterhaltungs- und Selbstoptimierungsindustrie. Die Bürgerrechte, die Schwarze, feministische und LGBT-Bewegungen in den Sixties, Seventies und Eighties einforderten, sind Stoff für homogenisierte Netflix Serien, in denen Meryl Streep und James Cordon queeren Teenagern zum Abschlussball verhelfen, während die Gewalt gegen Frauen und Trans-Menschen, rassistische, homophobe Attacken weltweit in die Höhe schießen.
Vorstellungen einer dystopischen Zukunft
Die Anarchie, der Zynismus, das Dystopische von Punk und Wave, das Spiel mit Symbolen und Zitaten, dominiert nicht nur die Modeindustrie, sondern auch die Vorstellungen einer dystopischen Zukunft. Schon aufgefallen, dass es auf Streaming Plattformen nur fast noch romantische Komödien mit "progressivem" liberalem Identitäts-Twist, Wikinger- und Historiendramen oder apokalyptische Science-Fiction und Fantasy gibt?
Die gescheiterten linken, anarchistischen Fantasien werden auf Instagram oder Tick Tock von Influencern, Models, Hollywood-Stars und der Tech-Elite vorgeführt, die sie sich überwerfen, wie eine Verkleidung. Demna Gvasalia bedient sich für die Designs von Balenciaga aus der Kunst- und Filmgeschichte, aber auch bei der Antifa, dem Berghain, der rechten Jugendmode, bei Goth, Cyber-Punk, der Straße und romantisiert das Gefühl von Subkultur, während Subkulturen längst ausgestorben sind. Das Faszinierende, eigentlich Modische daran ist, wie radikal untot und kalt das tatsächlich aussieht. Gerade deshalb, weil in dieser exklusiven Welt kaum jemand ungeschützt mit diesen Sphären in Kontakt kommt, oder sich für die ursprünglichen Looks und Fantasien interessiert.
Diese offen zur Schau gestellte Gleichgültigkeit ist eine Machtdemonstration. Sie ist das popkulturelle Symptom einer grundlegenderen, ökonomischen und sozialen Gleichgültigkeit eines Kapitalismus', der sich nicht nur die Fantasien und Utopien seiner Gegenbewegungen einverleibt, sondern immer mehr auch seine eigenen, auch nicht-ökonomischen Lebensgrundlagen auffrisst. Dazu gehören ebenso natürliche Ressourcen, wie demokratische Strukturen, öffentliche Güter, unbezahlte Fürsorge und Betreuungs-Arbeit und eben auch die Energie und Kreativität von Menschen, seien sie nun arbeitend oder nicht. "Cannibal Capitalism" hat das die marxistische US-Philosophin Nancy Fraser in ihrem gleichnamigen Buch genannt. Eines ihrer Hauptargumente ist, dass Kapitalismus längst kein ökonomisches System mehr ist, sondern eine Gesellschaftsform.
Die an der Macht sind, fantasieren nicht
Auch wenn die Kardashians aussehen, wie Vampire aus "Blade", Trump und Putin wie Comic-Bösewichter aus einem Tim-Burton-Film, die Wirklichkeit immer mehr an Gotham City in "Batman" oder an "Cabaret" denken lässt, zählen in dieser Gesellschaftsform keine Fantasien. "Macht zu haben, ist wie eine Lady zu sein", sagte Maggie Thatcher. "Wenn du den Leuten sagen musst, dass du eine bist, bist du keine." Die an der Macht sind, fantasieren nicht, sie schaffen ziemlich grandios Realität, Tatsachen.
Gesellschaftlich genehmigte Fantasien sind hingegen eher trübsinnig: Du kannst deine Muffins mal anders dekorieren, dir die Haare blau färben, (aber wieder ausspülen), mit Peter statt Petra schlafen, mit Till Lindemann ins Kit-Kat gehen, ein Avatar sein. Du kannst einen Essay wie diesen hier schreiben. Oder mal AfD wählen, wenn du davon fantasierst, die Ampel an den Galgen zu hängen oder die nervige "Kopftuchmutti" mitsamt der woken WG von nebenan nach Ruanda zu verschiffen. "Was haben Sie gesagt, Ruanda?" "Ach, das war nur so eine Fantasie, ich war selbst bei der Versammlung gar nicht dabei."
Unsere Gesellschaften sind blockiert, entfantasiert. Trotzdem kommen die Monster zurück: die Verbrechen der kolonialen Vergangenheit, das unbewältigte, weiter vererbte Trauma zweier Weltkriege, der Nazizeit, des Holocausts. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Dabei ist man doch wach geblieben, hat nicht geträumt. Und hat gedacht, dass es Fortschritt gibt: das vereinte Europa, die Perestroika, der Fall der Machtblöcke, eine globalisierte, interkulturelle Welt. Der liberale, demokratische Kapitalismus erschien als die die beste aller Gesellschaftsformen, die man nur noch etwas gerechter oder toleranter machen kann – so konkurrenzlos, dass der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama bereits vom "Ende der Geschichte" sprach. Da wirkten die Generationen von 1968 oder die der Punkbewegung wie die verwöhnten, traumatisierten Kinder, die am Esstisch sitzen und wegen jeder Kleinigkeit Alarm schlagen, Gespenster sehen.
Ein Slogan für unsere Ära
Genauso wird heute die "Letzte Generation" behandelt, diesen "Spinnern" bei Straßenblockaden in den Kopf getreten. Einheimischen Bauern, die genau das gleiche machen, winkt man eher freundlich und verständnisvoll zu, weil sie realistischere Anliegen haben, als das Ende der Welt zu verhindern. Doch zugleich überfällt uns ein Schrecken. Was, wenn das alles gar nicht normal ist? Was wenn der "humane" Kapitalismus selbst eine Fantasie ist? Genauso wie seine totalitäre Version, in der alles so weitergeht, nur blonder, der Braten auf den Tisch kommt, schön zu Zara oder McDonalds gegangen wird, aber bitte ohne Migranten, Demokratie und Bürgerrechte?
Immer wieder wird behauptet, dass gerade jetzt Geschichten gefunden werden müssen, damit wir überleben. Oft hört man im gleichen Atemzug, dass der Linken das Narrativ fehlt, während die Rechte mit der Rückkehr zu "Vernunft" und "Normalität" punkten kann. Da fällt mir ein Slogan aus der Studentenbewegung ein, den auch Vivienne Westwood schon in den 1970ern auf Hemden druckte: "BE REALISTIC DEMAND THE IMPOSSIBLE." Der stammt ursprünglich von Che Guevara. In dieser Formel sei das Erbe der 68er am besten zusammengefasst, schrieb der marxistische Philosoph Slavoj Zizek 2008. Angesichts der herrschenden Vorstellung, dass das existierende globale System sich unendlich weiter reproduzieren kann, sei der einzige Weg, "wirklich realistisch zu sein, das ins Auge zu fassen, was innerhalb der Koordinaten dieses Systems schlichtweg unmöglich scheinen muss." Damit sind nicht größenwahnsinnige, rassistische AfD-Fantasien wie die Abschiebung von 2 Millionen Menschen mit migrantischem Hintergrund gemeint. Sondern eher ein, ähm, nicht-kapitalistisches Gesellschaftssystem.
Die Geschichten, die dorthin führen, folgen einem neuen Slogan für unsere Ära, den die US-amerikanische Biologin und feministischen Theoretikerin Donna Haraway schon vor fast einem Jahrzehnt formuliert hat: Staying with the Trouble. Sie sind nicht mehr binär, sondern trans. Sie erzählen nicht von der Kolonialisierung anderer Länder und fremder Welten, sondern vom Transit der Welt, von einer neuen ökologischen und sozialen Diversität, die durch Kontamination und die Ausrottung menschlichen und nicht menschlichen Lebens entsteht. Also genau jetzt.
Alles ist ineinander verwickelt
"Kontaminierte Diversität", schreibt die Anthropologin Anna Tsing, "das meint Geschichten von Gier, Gewalt, Umweltzerstörung, vom Überleben." In diesem Denken machen nicht nur die Menschen Welten, sondern alle Spezies und auch Nicht-Lebendes: Bakterien, Pflanzen, Säugetiere, Insekten, Vögel, Krebse, Fadenwürmer, Pilze, Maschinen, Cyborgs, Algorithmen. Alles ist ineinander verwickelt, verheddert, braucht und bedingt einander.
Das hört sich für viele immer noch an wie eine krude Fantasie. Doch auch die Ideen der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand (1905-1982), die als Philosophin des Turbokapitalismus gilt, hielten die Leute einst für völlig wahnsinnig. In den 1940er-Jahren, nicht lange nach den sozialen Reformen des New Deal, plädierte sie für eine unkontrollierte Marktwirtschaft, den kompletten Abbau des Wohlfahrtstaates und einen rationalen, mitleidslosen Egoismus, der die eigenen Interessen radikal über die Interessen der Gesellschaft stellt. Ihre Schriften haben Magret Thatcher, Ronald Reagan, Donald Trump, Elon Musk, den Amazon-Chef Jeff Bezos, den ehemaligen Notenbankchef Alan Greenspan nachhaltig beeinflusst: In der Tech-Szene im Silikon Valley wurden Kinder nach ihren Romanfiguren benannt. Ihr Denken, prägt bis heute die westliche Wirtschaft und Politik. Auch das Wirtschaftsprogramm der AfD oder der italienischen Ultra-Rechten, die so stramm am ungezügelten Kapitalismus festhalten, wie sie an der Abschaffung der Demokratie arbeiten.
Also hören wir besser mal auf, zum Arzt zu gehen, trauen wir unseren Visionen. Alles fängt mit einer Fantasie an.