Künstler Pol Taburet

"Ich wollte ein Märchen ohne Moral erzählen"

Ein Mann, der lange geschwiegen hat, beginnt zu sprechen – und wird dafür bestraft. Der Künstler Pol Taburet inszeniert diese Geschichte im Berliner Schinkel Pavillon. Hier spricht er über Wut als Figur und die Gegenwart als dunkle Farbe

 

Pol Taburet, wer ist Papa Tonnerre?

Die Figur war schon bei meiner Ausstellung in Madrid präsent – und sie steht sinnbildlich für Wut. Es ist eine zornige, gequälte Figur, die für mich die emotionale Grundstimmung der gesamten Ausstellung transportiert. Auf meinen Gemälden, die gerade in Berlin zu sehen sind, trägt sie wieder diesen spitzen Hut. Ich habe sie entwickelt, um der Geschichte, die ich erzählen will, eine Form zu geben – um all das, was sich in der Ausstellung verdichtet, in einer Figur zu bündeln.

Papa Tonnerre ist in Ihrer selbstgeschriebenen Geschichte ein Stummer, der zum unfreiwilligen Beichtvater seines Dorfes wird. Er trägt die Laster, Ängste und Wünsche der anderen, ohne sich wehren zu können. Um endlich sprechen zu können, geht er einen Handel mit einer Hexe ein. Aber als er seine Stimme zurückerhält, gibt es eine Wendung: In seinem Zorn verrät er die Geheimnisse all jener, die ihm vertraut haben. Dafür wird er verstoßen und bleibt zurück – zum Reden verdammt, aber für immer ungehört. Was war für Sie der Ausgangspunkt dieser Erzählung?

Die Geschichte spielt in einer Stadt, deren Namen und Orte auf kreolischer Grammatik basieren. Inspiriert ist sie von Guadeloupe, einem Ort, an dem die Schwere der Luft, das feuchte Klima und das Gewicht der Dinge sehr physisch spürbar sind. Es ist eine sehr persönliche Geschichte. Normalerweise gehe ich intuitiver vor, lasse mich beim Malen treiben – diesmal war es umgekehrt: Ich habe zuerst geschrieben, dann gemalt. Die Erzählung hat mir geholfen, einzelne Szenen zu entwickeln, eine Dramaturgie zu finden, meine Arbeit zu strukturieren. Die Skulpturen in der Ausstellung sind wie die Dorfbewohner der Geschichte. Und es gibt ein Gerichtsverfahren mit zwei Vögeln, ein Grab – die Erzählung ist wie ein inneres Gerüst, das der Ausstellung Form gibt.

Die Geschichte von Papa Tonnerre ist eine Geschichte von Schuld, Verrat und kollektiver Verdrängung. Gleichzeitig steckt darin tiefe Einsamkeit – und die Frage, wie viel Wissen über andere wir überhaupt ertragen können. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Ich wollte ein Märchen ohne Moral schreiben. Kein Happy End, keine Gerechtigkeit. Es ist eine zutiefst menschliche Geschichte, sehr unfair: Papa Tonnerre ist stumm geboren, irgendwann gelingt es ihm, zu sprechen – aber in dem Moment wird er für die anderen untragbar. Er verrät ihre Geheimnisse und wird dafür bestraft. Das ist auch ein Bild für die Gesellschaft: Wenn jemand sich mitteilt, unangenehme Wahrheiten ausspricht, wird er ausgeschlossen. Ich wollte diese Trostlosigkeit zeigen. Meine früheren Arbeiten waren farbenfroh, vielleicht sogar optimistisch. Aber die Gegenwart fühlt sich anders an – unruhig, düster, voller Unsicherheit. Ich wollte das ernst nehmen. Das hier ist eine ehrliche, rohe, dunkle Ausstellung.

"The Burden of Papa Tonnerre" ist raumgreifend inszeniert. Sie haben eine eigene Szenografie entworfen, die stark mit der Architektur des Schinkel Pavillons arbeitet. Wie sind daraus Räume für Ihre Geschichte entstanden?

Der Pavillon hat mich stark beeinflusst. Die Räume waren wie Bühnenbilder, die ich bespielen konnte. Die Skulpturen im Untergeschoss sind wie Dorfbewohner arrangiert – sie stehen im Kreis, als würden sie sich streiten oder miteinander flüstern. Aber ihre Münder sind verschlossen, sie sprechen nicht. Eine Figur trägt einen Helm und sitzt an einem Tisch – sie ist der Vollstrecker, der Papa Tonnerre richten wird. Im Obergeschoss dann der Gerichtssaal: Eine Szene aus schwerem Holz, dunklen Farben, mit Bronzevögeln, die stumm auf die Besucherinnen und Besucher zeigen.

Was interessiert Sie an diesen Machtapparaten – an Systemen von Urteil, Schuld und Hierarchie?

Ich lasse mich oft von den Werken selbst leiten. In Madrid gab es bereits Figuren der Macht – groteske Karikaturen von Männern, die andere verfolgen oder gejagt werden. In Berlin wollte ich dieses Gefühl verstärken. Der Gerichtssaal ist dabei nicht nur ein Ort des Urteils, sondern auch eine psychologische Szenerie. Das Mobiliar erinnert mich an alte Schränke in Landhäusern, an autoritäre Räume meiner Kindheit. Es geht auch um Nostalgie, um die beklemmende Atmosphäre solcher Räume.

Die Szenografie wirkt wie ein stiller, geschlossener Kosmos. Ist das eine Einladung an die Besucherinnen und Besucher, sich selbst darin zu verorten?

Nicht direkt. Es ist eher so, dass man sich als Gast fühlt, der nicht eingeladen wurde. Die Vögel richten sich auf einen, aber man kann sie nicht erreichen. Die Werke haben ihr eigenes Leben. Man steht ihnen gegenüber, ist ihnen ausgeliefert. Ich wollte eine Distanz erzeugen – eine Situation, in der man zwar anwesend ist, aber nicht eingreifen kann. Wie ein Geist, der durch die Szenen schwebt.

Sie haben für die Ausstellung elf neue, teils sehr großformatige Gemälde geschaffen. Sie wirken ganz anders als Ihre früheren Arbeiten – deutlich dunkler, fast düster. Woher kommt dieser Wandel?

Es ist ein natürlicher Zyklus. Ich musste die Farbwelt meiner früheren Arbeiten verlassen, sonst wäre ich stehen geblieben. Früher war es laut, bunt – jetzt ist es still. Ich habe versucht, Stille zu malen. Die Farben sind gedeckter, die Flächen leerer, die Bildtiefe ist größer. Es gibt ein Gefühl von Leere, von Vakuum. Die Patina der Bronze, der Filz, der Teppich – all das trägt zu diesem Lautlosen bei. Früher sollte man von den Bildern getroffen werden. Jetzt sollen sie einen mitnehmen.

Sie haben einmal gesagt: "I collage a lot of things." Welche Erfahrungen und Motive vermischen sich in Ihrem Werk – und welche Rolle spielt dabei das kulturelle Erbe Ihrer Großmutter aus der Karibik?

Vieles fließt zusammen: persönliche Erinnerungen, kollektive Geschichten, familiäre Prägungen. Die Figur Papa Tonnerre ist auch meinem Vater gewidmet, der Psychoanalytiker ist. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es ist, wenn jemand all diese Geschichten, Traumata und Emotionen anderer aufnimmt – wie ein Gefäß. Diese Figur trägt also auch seine Last. Es geht immer um das Vermischen: von Erzählformen, visuellen Sprachen, Einflüssen. Die Karibik ist ein Echo in meiner Arbeit, ein Referenzraum, ein Archiv, aus dem ich schöpfe.

Die Ausstellung ist Teil einer Trilogie, die in Madrid begann und in São Paulo fortgesetzt wird. Was verbindet diese drei Stationen – und wird es für Papa Tonnerre vielleicht doch noch ein Happy End geben?

Ich weiß es nicht. Die Ideen für die letzte Station sind noch vage. Vielleicht wird es eine große Skulptur, eine weibliche Figur – möglicherweise eine Mama Tonnerre. Eine Figur mit einer trompetenartigen Nase, die ruft, etwas auslöst. Ich denke an eine Art mechanisches Wesen, das anderen Figuren Leben einhaucht – vielleicht eine Armee von Dienern, wie man sie früher als Skulpturen vor Bars sah. Aber das ist alles noch im Prozess. Vielleicht wird es ein Happy End. Vielleicht auch nicht. Noch ist alles offen.