Pola Sieverding, wann haben Sie das letzte Mal einen Tag lang bewusst keine Fotos gemacht?
Da Fotografie für mich Arbeitsmittel ist, fotografiere ich immer bewusst. Es gibt aber Situationen, in denen ich, wenn Sie so wollen, bewusst sowohl keine als auch bewusst welche mache, um diese Situation unterschiedlichen Wahrnehmungen zu unterziehen. Zum Beispiel in den letzten Tagen beim Aufbau für die Ausstellung “Ways of Seeing” zur Photo+ in Düsseldorf. In solchen Fällen möchte ich den Raum erst durch meine physische Präsenz wahrnehmen. In einem zweiten Durchgang - um eine andere Perspektive, eine andere Distanz zu bekommen - mache ich ein Foto des Raums, um die fotografische Wahrnehmung der Situation einzubeziehen. Es ist letztlich das Medium, in dem die Ausstellung weiterlebt und kommuniziert wird.
Vielleicht liegt es auch daran, dass Techniken zur Produktion fotorealistischer Bilder heute zu jeder Zeit in jeder Tasche vorzufinden sind. Wie beeinflusst es die künstlerische Arbeit, innerhalb eines derart omnipräsenten Mediums tätig zu sein?
Für mich verändert es die Arbeit in diesem Sinne nicht. Fotografie oder fotografische Medien sind Mittel, sich auszudrücken oder das in eine Form zu bringen, was einen interessiert. Es verändert ja auch nicht die Arbeit einer Schriftstellerin, nur weil alle schreiben. Sicher aber erhöht sich zunehmend die Dringlichkeit, sich mit fotografischen Bildern als Sprache auseinanderzusetzen.
Allerdings hat beispielsweise der Buchdruck als Reproduktionstechnik die Bedingungen und damit auch den Gegenstand von Literatur maßgeblich beeinflusst …
Fotografie ist mittlerweile etwas, das jeder macht, da haben Sie recht. Wir sprechen über eine Zeitenwende, über einen Paradigmenwechsel, durch den das Bild zu einem Hauptkommunikationsmittel wurde. Damit hat es den Stellenwert einer Kulturtechnik eingenommen, so wie es die Schrift auch tat.
Wird das fotografische Bild durch die Existenz prompt-induzierter, also von KI erstellter Bilder korrumpiert?
Unser Glaube an die indexikalische Beweiskraft des fotografischen Bildes wird herausgefordert.
Wie ist der Titel “On Reality” zustande gekommen?
Fotografie - die unter Berücksichtigung eines erweiterten Verständnisses des Mediums die Basis unserer Biennale ausmacht - ist von Anbeginn mit dem Begriff der Realität verknüpft. Das Vokabular, das wir nutzen, um diese Realität, oder eigentlich diese Realitäten zu beschreiben, steht derzeit neu zur Disposition.
Gibt es heutzutage noch eine Wahrheit gegenüber verschiedenen Realitäten?
Nein. Es gibt unterschiedliche Empfindungen von Wahrheit und unterschiedliche Erfahrungen von Realität.
Lässt sich artikulieren, inwieweit Vorerfahrungen oder Vorwissen aus den letzten beiden Ausgaben der Biennale 2020 und 2022 in die nächste einfließen? Gibt es einen roten Faden?
Ziel ist es, alle zwei Jahre eine Bestandsaufnahme zu machen, wie fotografische Bilder explizit aus der Perspektive der Kunst wahrgenommen und genutzt werden.
Warum ist Düsseldorf dafür geeignet?
Weil ein erweitertes Fotografie- und Kunstverständnis in Düsseldorf lange Tradition hat. Denken Sie an Positionen wie Nam June Paik, der früh die gesellschaftliche Dimension des bewegten Bildes, des Videobildes, erkannt hat, oder Joseph Beuys, der keine Performance begann, bevor nicht Ute Klophaus zugegen war, um diese fotografisch festzuhalten und aus der Momenthaftigkeit in eine diskursive Dauer zu überführen. Oder aktueller auch Dominique Gonzalez-Foerster, die derzeit an der Akademie lehrt und die unter anderem Fotografie, Film oder holografische Illusionen benutzt, um fiktionale Erfahrungen zu erschaffen.
Gibt es denn, weil Sie gerade von einer Bestandsaufnahme sprechen, eine Form von Dokumentation?
Es gibt zu jeder Ausgabe ein Biennale-Magazin, in dem alle Ausstellungen und Veranstaltungen versammelt sind. Wir, meine Kolleg:innen Ljiljana Radlovic und Rupert Pfab und ich, haben den großen Wunsch, dieses Archiv auch anders, nämlich digital und online zugänglich zu machen. Das passiert in irgendeiner Realität mal. Zur Realität gehört eine finanzielle Wirklichkeit, und die erlaubt bestimmte Entwicklungen erst in einer bestimmten Zeit.
Neben den rund 50 über die Stadt verteilten Ausstellungen gibt es zudem eine von Ihnen und Asya Yaghmurian kuratierte Schau.
Im neuen Photo+ Lab, das die Biennale erstmals bespielt - sowohl mit einem wechselnden Programm als auch als Zentrum -, zeigen wir die Ausstellung "Ways of Seeing", in der Asya und ich Positionen versammelt haben, die sich auf unterschiedliche Weisen mit Themen der Überwachung und Gegenüberwachung beschäftigen. Der Titel geht auf John Berger zurück, der in den 70er-Jahren eine vierteilige BBC-Serie entwickelt hatte, auf deren Grundlage das gleichnamige Buch entstanden ist. Die Kernthese in Bergers Auseinandersetzung verfolgt den Ansatz, dass die Art und Weise, wie wir Bilder betrachten uns sehr viel darüber erzählt, von welchen gesellschaftliche Annahmen und Interessen wir geprägt sind. So ist die visuelle Erfahrung nie "unberührt".
Was sagen sie über uns, die "Ways of Seeing"?
Dass wir heute auf Schritt und Tritt zu Bildern und Daten werden, die dokumentiert, analysiert und sortiert werden: durch politische und ökonomische Interessen, smarte Tools und algorithmische Operationen.
Sie haben eine Analogie hergestellt zwischen Autoren und Künstlern, die Titel der von Ihnen kuratierten Ausstellungen sind aus der Literatur entlehnt. Hinzu kommt die diesjährige Ankündigung der Biennale, einen Fokus auf theoretischen Diskurs legen zu wollen. Das alles in einer Gegenwart, in der die Präsenz des Textes eigentlich hinter die des Bildes rückt, oder?
Dieser Wahrnehmung setzen wir ein anderes Konzept entgegen: Es gibt kein Bild ohne Text. Teils ganz wortwörtlich, wenn wir an Text-zu-Bild Generatoren zur Erstellung synthetischer Bilder denken. Das fotografische Bild steht immer in einem Zusammenhang zu etwas, es verweist auf andere Bilder, taucht in und als Datensequenzen auf, löst aus. Bilder sind nur unzureichend zu betrachten, wenn sie nicht in einen sprachlichen und im Weiteren in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt werden. Es geht im Kern darum, klarzumachen: Je mehr Bilder produziert werden, desto mehr müssen wir neu lernen, Bilder zu lesen.
Sollten Bilder in unserer Gegenwart noch für sich selbst sprechen?
Ich glaube, dass kein Bild für sich selbst spricht.
Gibt es eine bestimmte These oder eine streitbare Fragestellung, für die Sie sich im Rahmen der Biennale und des Symposiums einen Ansatz zur Beantwortung erhoffen?
Die Annahme, die uns während der Konzeption dieses Symposiums begleitet hat, ist Realität als dynamischen Begriff zu verstehen. Und damit auch das fotografische Bild in die nächste Runde seiner Auseinandersetzung mit dem zu bringen, was die Fotografie seit Anbeginn begleitet: Dass sie kein Abbild der Realität ist, sondern es um Perspektiven geht. Es ist ein Versuch, die Fotografie von ihrem Beweischarakter, von ihrem indexikalischen Auftrag zumindest ein Stück weit zu befreien und einen tradierten Wirklichkeitsbegriff, der auf Zweiteilung basiert durch eine als Medienrealität wahrgenommene Wirklichkeit zu ersetzen
Und die Verbindung zur Kunst?
Ist naheliegend: Künstler:innen sind Expert:innen darin, die Perspektivhaftigkeit der Wirklichkeit und die prismatische Qualität der Wahrheit aufzuzeigen.
Olaf Scholz verkündet das Verbot der AfD, Papst Franziskus kommt in einer strahlend weißen Daunenjacke daher, und Donald Trump wird von der Polizei festgenommen. All diese viralen Bilder sind Deepfakes, einzelne werden strafrechtlich verfolgt. Nehmen Sie ein zunehmendes Misstrauen gegenüber dem Bild wahr?
Ja. Das hätte man dem Bild aber schon lange entgegenbringen können. Es wird nur gerade besonders klar. Unser gesamtes Konzept von Realität ist in Frage gestellt mit dem neuen Gebrauch, dem neuen Erzeugen und Betrachten von Bildern. Insofern gibt es ein Misstrauen, das akuter ist denn je. Das ist einerseits dramatisch und andererseits ist es aber ein Potenzial, ein call to action, sich mit dem Lesen und Gebrauch von visueller Kommunikation, Bildern als Sprache, neu auseinanderzusetzen.
Impliziert das den Versuch, das Vertrauen zum Bild wiederherzustellen?
Ja, wenn Vertrauen auch Verantwortung impliziert. Wir sind Bilderproduzent:innen und gleichzeitig Konsument:innen und tragen insofern Verantwortung dafür, wie mit diesen Bildern umgegangen wird. Im Endeffekt ist es eine Form von Empowerment, wenn man sich die Strukturen klar macht, und dass es eine human agency ist, die die Maschinen betreibt, die derzeit die Erschütterung im Bild auslösen Da sind wir wieder bei Text und Bild. Es gibt kein Bild ohne Text. Und das ist virulenter denn je.