Herr Weibel, Sie kuratieren unter anderem die Karlsruher Schlosslichtspiele. Wie wirken Realität und digitale Kunst dabei zusammen?
Die Schlosslichtspiele sind ein hochtechnisches Ereignis. Beim “Projection Mapping” werden nicht einfach Bilder wie auf eine Kinoleinwand projiziert. Stattdessen bekommt jede Künstlergruppe ein computerbasiertes 3D-Modell des Schlosses und hat dann den Auftrag, die Architektur der Fassade mit in die Bilder einzubeziehen. Das heißt jedes Pixel der Fassade wird Teil einer Bildkomposition und durch sie transformiert. Die Fassade bewegt sich, sie kann einstürzen oder zu einem Wasserfall werden bei dem das Wasser aus den Fenstern dringt. Durch eine projizierte Fantasiewelt kann man die reale gewissermaßen untergehen lassen. Bei den Schlosslichtspielen erkennt man schon eine Dominanz des Virtuellen, die die reale Fassade aber noch als Trägermedium braucht.
Wie hat die Corona-Pandemie die diesjährige Ausgabe der Schlosslichtspiele beeinflusst?
Die Schlosslichtspiele haben dieses Jahr komplett digital stattgefunden. Wir haben das Schloss wiederum als 3D-Modell simuliert. Dafür haben wir eine Kameradrohne über das Schloss und den Park fliegen lassen, haben Nahaufnahmen und verschiedene Perspektiven aufgenommen. Wir haben dem Publikum angeboten, selbststeuernd mehr Perspektiven einzunehmen, als es in der Wirklichkeit hätte haben können. So hatte es online ein besseres Erlebnis.
Aber liegt nicht ein besonderer Reiz darin, wenn man Kulturveranstaltungen live miterleben kann?
Das virtuelle Ereignis dominiert das reale schon lange. Wir sind es seit Jahrzehnten alle gewohnt, nicht-reale Konzerte zu erleben. Die meisten Leute hören Orchesterkonzerte heute online über Apps. Ich persönlich habe zum Beispiel nie das Verlangen gehabt, die Beatles live zu hören. Mir hat die Musik genügt – damals auf Schallplatte, heute online. Wir leben schon lange in einem Online-Universum, tun aber noch so, als würden wir die Musik real hören müssen.
Aufgenommene Musik ist das Eine, aber gilt das auch für den Museumsbesuch?
Im Museum, wo sich Leute vor den Bildern drängeln, die sich gegenseitig nicht kennen und sich gegenseitig nur auf die Nerven gehen, wird – wie im Konzertsaal oder Theater – eine Nähe beschworen. Diese Nähe ist eine fiktive, von der Massenindustrie erlogene. Sie dient bloß dem Zweck, möglichst viele Besucher im Museum, im Theater oder Konzertsaal zu haben. Doch diese Fiktion geht nun zuende.
Wirklich? Kaum war der Lockdown im Mai vorbei, schon strömten die Menschen wieder in die realen Kultureinrichtungen.
Das sind klassische Entzugserscheinungen. Die Menschen standen unter dem Einfluss der Droge "Nähe", die plötzlich abgesetzt wurde. Und jetzt hauen sie sich noch einmal eine Dosis dieser toxischen Atmosphäre rein. Man sagt immer, das Virus kennt keine Grenzen. Doch das Virus kennt die Grenze von 1,5 Metern. Stattdessen sind wir es, die keine Grenzen kennen und herumreisen, um live ins Theater und Museum zu gehen. Wir müssen begreifen, dass nicht Nähe das Heilmittel für die Kultur ist, sondern Distanz – also telematischer Kulturgenuss.
Reichen da mit dem Smartphone gestreamte Führungen, um den virtuellen Besuchern diesen Kulturgenuss zu bieten?
Das waren lobenswerte Anfänge während des Lockdowns. Aber das wird auf Dauer nicht reichen.
Weil die Ansprüche der Zuschauer durch Streaming-Plattformen zu hoch geworden sind?
Es liegt gleichermaßen an Produzenten und Rezipienten. Die Online-Besucher sind durch Netflix gewöhnt, Filme anzuschauen. Um sich von Fernsehen und Kino abzusetzen, bietet Netflix höhere Qualität und raffiniertere Dramaturgie. Aber was das Verhalten der Zuschauer angeht, will Netflix den passiven Zuschauer, der nicht partizipiert. Als Museum im digitalen Raum muss man nicht versuchen, das bessere Fernsehen zu sein, denn das ist Netflix. Man muss also versuchen, dass bessere Netflix zu sein. Man muss Angebote schaffen, die im Netz einzigartig sind, aber auch das Publikum beteiligen. Gerhard Richter in einer Dokumentation zu sehen, ist das Eine. Das Andere, ihm bei einem digitalen Interview-Event selbst eine Frage zu stellen. Wir werden solche neuen Formate finden, das ist mein Versprechen.
Gerade kleinere Institutionen, die während der Krise neue, digitale Formate entwickelt haben, müssen diese jetzt wieder einstellen, weil sie ihre Leute wieder im normalen Betrieb brauchen.
Das ist verfehlte Kulturpolitik. Die digitalen Angebote waren in den Monaten der Krise notwendig. Viele Häuser haben sehr ins Digitale expandiert und Online-Angebote entwickelt. Wenn sie die jetzt nicht mehr weiter betreiben können, weil sie das dafür abgestellte Personal wieder für den realen Betrieb brauchen, ist das ein Fehler. Das, was Herr Spahn für das Pflegepersonal und die Altenheime tut, muss auch für Kulturinstitutionen kommen. Es braucht sofort eine Erhöhung der Budgets, damit sie den Standard, den sie Gottseidank erreicht haben, halten können. Damit sie Angebote im digitalen und realen Raum machen können.
Denn die Digitalisierung des Museumsbetriebs wird zu- und nicht wieder abnehmen?
Die Museen werden digitale Dependancen gründen müssen. Dafür braucht es neues Personal und neues Geld. Wir brauchen technisch versierte Leute, die neue Formate entwickeln für diese Museen. Die Museen werden natürlich noch Ausstellungen machen und interessierte Leute gehen da weiter hin. Aber das wird nicht genügen. Wenn sie in der kommenden Ferngesellschaft bestehen möchten, müssen sie auch Angebote machen, die “fern-tauglich” sind.
Im Internet sind die Menschen daran gewöhnt, nichts zu bezahlen. Wer finanziert das also?
Ich bin dafür, dass das der Staat bezahlt. Das Museum hat einen Bildungsauftrag. Durch diese Krise können wir das lernen. Wir müssen die Herausforderung annehmen, die weit darüber hinausgeht, dass wir jetzt digitale Führungen anbieten. Die Museen werden sich darauf einstellen müssen, mithilfe von Online-Kursen, para-universitäre Einrichtungen zu werden. Und der Staat finanziert und zertifiziert das. Im Endeffekt muss die Grundfunktion des Museums für die Zukunft neu gedacht werden.
Stichwort "Zoom-Fatigue": Sind digitale Angebote attraktiv für ein Publikum, das langes Starren auf Bildschirme ermüdend findet?
Die "Fatigue" kommt daher, dass unsere Sinnesorgane noch nicht auf diese Form der Kommunikation trainiert sind. Wenn ich jemanden sprechen höre, lese ich gleichzeitig Gestik und Mimik der Person. Das sind Hilfsmittel, um das Gesagte besser zu verstehen. Bei Video-Konferenzen ist der Ton nicht der gleiche und ich sehe das Gesicht um winzige Sekunden zeitverzögert. Die Verarbeitung der Information ist dadurch anstrengender. Aber wir werden uns daran gewöhnen. In den 1960er-Jahren haben die Zeitungen über die Avantgarde-Filme geschrieben: “Diese schändlichen Filme mit tausend Schnitten pro Sekunde!” Heute macht die Werbung genau das und niemand beschwert sich über die vielen schnellen Schnitte. Die "Fatigue" ist Teil der Medienerziehung. Für mich ist das eine rein vorübergehende Erscheinung, weil wir am Anfang dieser evolutionären Entwicklung stehen.
In Karlsruhe freut man sich darauf, die Schlosslichtspiele nächstes Jahr wieder real stattfinden lassen zu können. Landet die digitale Schlossfassade dann in der virtuellen Mottenkiste?
Wir machen nächstes Jahr beides. Wir machen das Festival real und virtuell. Kultur ist heimlicherweise immer schon auf Reproduktion und endlose Distribution angelegt ist. Man nimmt ein Konzert auf, damit man es wiederholen kann, die Musiker leben von der Wiederholung im Radio. Sollen ein reales und ein virtuelles Ereignis nebeneinander stattfinden, müssen wir kreativer und innovativer werden. Da muss das Live-Ereignis etwas sein, dass nicht gleichwertig zum Online-Ereignis ist, sondern sich davon unterscheidet. Das ist die Herausforderung.