Nicht nur meine Arbeit, auch der Weg dorthin ist eine große Freude, denn er führt durch den Park am Gleisdreieck. Der Berliner Park ist 2013 aus einer Brachfläche nahe des Potsdamer Platzes entstanden und damit eine der jüngsten Grünanlagen der Hauptstadt. Prächtige Alleen, Blumenbeete, Springbrunnen oder Denkmäler sucht man hier vergeblich. Was man stattdessen findet, lässt sich nicht so genau beschreiben, aber ich hoffe sehr, dass es die Zukunft ist.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die ersten öffentlichen Parks angelegt, damit die Menschen der schmutzigen Realität des Stadtlebens entfliehen konnten. Heute sind die besten Grünflächen nicht mehr das Andere der Stadt, sondern ihr eigentlicher Kern: Es gibt derzeit keinen urbaneren Ort in Berlin als den Park am Gleisdreieck.
Das hat sich in den vergangenen Corona-Monaten besonders gezeigt: Das Kulturangebot war runtergefahren, Clubs und Bars mehr oder weniger dicht, also tanzte und trank und feierte man im Park. Es braucht dafür keine Türsteher, ja nicht mal den Schutz der Nacht. Mit einem sagenhaften Selbstbewusstsein führen im Gleisdreieckpark kleine Gruppen meist sehr junger Leute Tanz-Choreografien auf, die sie vermutlich bei TikTok abgeschaut haben oder bei den neuesten Hip-Hop-Videos.
Besondere Stimmung, besondere Geschichte
Es sind sehr futuristische Einlagen, sehr stylische Bewegungen, Codes, die kein Über-20-Jähriger verstehen muss. Begleitet von Musik aus der Boombox, gefilmt mit dem Smartphone, kurz darauf schon online. Vorgeführt von mal fünf, mal 20 Leuten. Aber oft sind es auch bloß einzelne Tänzerinnen oder Tänzer mit Kopfhörern, die hochkonzentriert ihr Ding durchziehen.
Die Coolness ihres Auftretens sticht einem besonders ins Auge, wenn man an den schier endlosen walk of shame der eigenen Pubertät zurückdenkt. Daran, wie noch die geringfügigsten Abweichungen von irgendeiner angeblichen Norm zu sadistischen Schikanen und Hänseleien führten. Im Gleisdreieckpark ist der Vibe ein völlig anderer. Hier herrschen bodypositivity, kulturelle und sexuelle Diversität mit einer Selbstverständlichkeit, dass es kaum noch erwähnenswert scheint. Man würde gern einmal die gesamte AfD-Fraktion aus dem Bundestag zu einem Ausflug einladen, damit sie sich ein bisschen weniger fürchten vor der Realität. Dies ist Deutschland, aber normal.
Was diese Grünanlage so besonders macht, ist neben ihrem jungen Alter sicher die besondere Entstehungsgeschichte. Der Park liegt auf den Brachen des ehemaligen Anhalter und Potsdamer Güterbahnhofs, deren Spuren immer noch sichtbar sind. Überwucherte Gleisanlagen, Signalreste und Wassertümpel bilden eigene, postindustrielle Biotope. Zu den Seiten des Parks erstrecken sich alte Backsteinhallen. Über die große Liegewiese rauschen die Züge der U1 und U2 auf Hochbahntrassen, was sich nach New York, Tokio oder irgendeiner anderen Metropolis anfühlt.
Feuchter Traum des Neoliberalismus
Das Verschmelzen von Natur und Technologie, Stadt und Land, Vergangenheit und Gegenwart schafft eine besondere Atmosphäre der Hierarchielosigkeit und Toleranz, mit der sich auch die Menschen im Park begegnen. Auch wenn viele hier schon gut durchgestylt aufs Grün treten, scheint es irgendwie auch egal, wer man ist, wie man aussieht, warum man hier ist.
Bei der Halfpipe skaten grauhaarige Väter mit ihren Kindern, Personal Trainer scheuchen Büroangestellte durchs Gelände, Kiffer kiffen, Kitagruppen machen Capoeira, Hunde spielen Frisbee, und die U-Bahn fährt durch den Himmel. Es gibt eine romantische Kleingartensiedlung, ein verwunschenes Café mit märchenhaft-langen Wartezeiten und einen Biergarten, in dem nicht mehr ganz so junge Hipster sich durch 80 Sorten Craft-Beer testen. Rechts liegt Kreuzberg, links Schöneberg, oben der Potsdamer Platz, der dank des Parks jetzt auch ein bisschen ansehnlicher wirkt.
Ich muss beim Durchqueren des Parks aber auch immer an den großen Fotografen Michael Schmidt denken, dessen Atelier in einer Nebenstraße des Parks lag und in dessen Bildern Berlin noch Jahrzehnte nach Kriegsende so kaputt und verwundet aussah wie im Mai '45. Vermutlich würde er dem heutigen Gleisdreieckpark, wo Co-Working Spaces, Fitness-Parcours und Erholungsflächen so nahtlos ineinander übergehen wie im feuchten Traum des Neoliberalismus, kein Motiv abgewinnen können. Das erledigen die Kids von heute schon selbst.