Die Kräfte der Natur heraufbeschwören, den Geist beleben, helfen, innere Stärke zu entwickeln? Was nach langer Selbsthilfe-Reise klingt, schafft laut des Pantone Color Institute ein einziger Farbton: "Pantone 18-1750 Viva Magenta". Das intensive Pink-Rot wurde von der firmeneigenen Forschungsabteilung für Trendvorhersagen zur offiziellen Farbe des Jahres 2023 gekürt und soll ein "optimistisches Feiern, Experimentieren und uneingeschränkten Selbstausdruck" repräsentieren. Gleichzeitig zeige es die wiederentdeckte Nähe zum Natürlichen, das durch die Pandemie und die sich ankündigende Klimakatastrophe einen höheren Stellenwert zurückerlangt habe. Der Natur-Aspekt findet sich auch in der Herkunft der Farbe wieder: Das von der Cochenilleschildlaus produzierte Karmin, die Basis des Rottons, gehört zu den wertvollsten und leuchtendsten natürlichen Farbstoffen.
Das hybride "Viva Magenta" wird also laut Pantone das Ursprüngliche mit dem Innovativen verknüpfen und uns auch im unumgänglichen digitalen Raum zur Seite stehen. "Das Metaverse eröffnet uns neue Möglichkeiten, uns auszudrücken, und die rohe Kraft von Viva Magenta inspiriert uns, dies mit Zuversicht und Mut zu tun", heißt es. Und wie vielleicht jede frisch gewählte Jahres-Farbe, verspricht auch das penetrante Pink "Neuheit und Dynamik" – was könnte diese zukunftsweisenden Qualitäten besser verdeutlichen als ein eigenes fiktives Universum: das "Magentaverse", ein der Farbe gewidmetes Design-Experiment, das mit Hilfe des KI-Porgramms "Midjourney" erstellt wurde und "das Verhältnis und die Spannungen zwischen neuer Technologie und menschlicher Kreativität" erforschen soll. Unsere Zukunft liegt in Magentas Händen.
Zu sehen ist "Magentaverse: Pantone Color of the Year 2023" im Artechhouse in Miami Beach, einem Raum für technologiegetriebene experimentelle Kunst. Die Ausstellung soll "ein Erlebnis sein, das den bemerkenswerten Sinn für Lebendigkeit und Energie der Farbe hervorhebt", erklärt Tati Pastukhova, Mitbegründerin und Geschäftsführerin von Artechouse.
Näher kommt man der "heldenhaften und angstlosen" Farbe wohl nur im eigenen Zuhause, denn glücklicherweise gibt es schon jetzt Magenta-Merch, der sich wunderbar in den Alltag im Jahr 2023 integrieren lässt: Tassen, iPhone-Cover, Notizbücher oder auch Sneaker präsentiert der Pantone-Shop. Diverse Websites bieten ganze Guides mit "Viva Magenta"-inspirierten Produkten an – himbeerfarbene Wolldecken, Duftkerzen, Küchengeräte und Nagellack.
Das Magazin "Forbes" listet derweil hochkarätige Schmuckstücke in besagtem Farbton auf. In der Modewelt wurde die pinke Farbfamilie schon im vergangenen Jahr mit dem "Barbiecore"-Trend und Valentinos pink gehaltener Herbst-Winter-Kollektion 2022/23 begrüßt. Pierpaolo Piccioli, Kreativdirektor des italienischen Modehauses, kreierte in Zusammenarbeit mit Pantone seine eigene Nuance, "PP-Pink", die seither omnipräsent über die roten Teppiche dieser Welt flaniert.
Das etwas anstrengende "Viva Magenta" erinnert ein wenig zu sehr an ein deutsches Telekommunikationsunternehmen, schnell hat man sich an dem Farbton übersehen und wünscht sich einen beruhigenden Ausgleich fürs geforderte Auge. Ein ganzes Jahr mit dieser Couleur? Puh! Kritik an dem Farb-Auswahlverfahren ist nicht neu. Im letzten Jahr hatte Pantone "Very Peri" zur Farbe 2022 gekrönt, ein intensives Flieder-Lila, das das Institut mit "Veilchenblau" beschrieben hatte. Diese für viele offensichtliche Fehlbenennung führte zu wilden Diskussionen. Die Inneneinrichtungsexpertin Michelle Ogundehin schrieb in einem Artikel für das Magazin "Dezeen", dass es an der Zeit sei, "den ganzen Karneval der Farben des Jahres zu überdenken".
Wie Big Pharma, nur für Farben
Der multidisziplinäre britische Künstler Stuart Semple könnte wohl nicht vehementer zustimmen. Während Pantone motiviert erklärt, wie "Viva Magenta"– passend zu absolut jeder Stimmung – in den Kleiderschrank integriert werden kann, seinen Platz im Interieur findet (magentafarbenes NFT, anyone?) oder ansprechend im Verpackungsdesign verwendet wird, wehrt sich Semple gegen das diktierte Farbspektrum.
Kurz nach der Bekanntgabe des bald alles bestimmenden Pinks, veröffentlichte er dessen Farbkarte mit den folgenden Zeilen auf seinem Instagram-Account: "Die selbsternannten Farbkontrolleure des Unternehmens #Pantone wählen die Farbe des Jahres. Es scheint, dass 2023 pink sein wird, sehr pink, vielleicht sogar das pinkeste. Wer ist gestorben und hat sie zur Farbpolizei gemacht? Die Pantone-Farbe des nächsten Jahres ist offenbar Viva Magenta." Als ein "Unternehmen wie Big Pharma, aber für Farbe" beschreibt Semple das Institut in den Kommentaren des Posts – es stört ihn nicht der intensive Farbton allein, sondern auch, dass er von großen Unternehmen bestimmt und kommerzialisiert wird.
Stuart Semple setzt sich seit mehreren Jahren für die Befreiung von Farben ein. Es begann mit dem Kampf um das schwärzeste Schwarz: 2014 veröffentlichte die Firma Surrey NanoSystems mit "Vantablack" eine Farbe, die 99.965 Prozent des sichtbaren Lichts absorbiert und so Dreidimensionales für das menschliche Auge zweidimensional erscheinen lassen kann, es optisch also flach macht. Der britisch-indische Bildhauer und Installationskünstler Anish Kapoor erkannte das Potenzial "Vantablacks" und kaufte die Exklusivrechte für die Verwendung der Farbe in Kunstwerken.
Dies sorgte für große Aufregung bei anderen Künstlern, die die Verweigerung des Zuganges zum schwärzesten Schwarz als ein Verbrechen an der Kunst betitelten. Als Protestaktion entwickelte Stuart Semple, der die Monopolisierung der Farbe ebenfalls scharf verurteilte, das "Pinkeste Pink", eine Nuance, die er auf seiner Website mit einem Hinweis anbot: "Indem Sie dieses Produkt in Ihren Einkaufswagen legen, bestätigen Sie, dass Sie nicht Anish Kapoor sind, dass Sie in keiner Weise mit Anish Kapoor verbunden sind und dass Sie diesen Artikel nicht im Namen von Anish Kapoor oder eines Mitarbeiters von Anish Kapoor kaufen. Nach Ihrem besten Wissen und Gewissen wird diese Farbe nicht in die Hände von Anish Kapoor gelangen." Später brachte Semple auch "Black 2.0", "Black 3.0" und schließlich 2021 "Blink" auf den Markt, sein aktuell schwärzestes Schwarz.
Wem gehören Farben und darf man einfach so Alleinanspruch auf sie deklarieren? Man sollte meinen, dass der Regenbogen, die ganz natürliche Farbvielfalt, von unserem Planeten zur Verfügung gestellt, für alle zugänglich sei. Jedoch gibt es große Marken, die bestimmte Farben zu ihrem Markenzeichen machen, für sich als geschützt eintragen lassen und sie so als ihr Eigentum erklären, etwa das Schmuckunternehmen Tiffany & Co. Im Jahr 2001 entschied sich der Konzern, seine türkis-blaue Farbnuance von Pantone definieren zu lassen und so wurde "1837 Blue" geboren.
Die Palette hinter der Paywall
"Steht die maßgeschneiderte Pantone-Rezeptur erst einmal fest, bleiben der Farbname und die markenrechtliche Verwertung den Kunden überlassen," erklärt es das Farbunternehmen. "1837 Blue" wird etwa seit seiner Entstehung durch markenrechtliche Nutzungsbeschränkungen und Lizenzierungen unter Verschluss gehalten. Farb-Fighter Semple befreite auch diese Schattierung und veröffentlichte im Jahr 2021 "Tiff Blue" auf seiner Website, ein perfektes Duplikat. "Das ikonische Tiffany-Blau wurde von Tiffany & Co. fest im Griff gehalten, aber das Studio war in der Lage, einen atemberaubenden, superflachen, matten und hochwertigen Farbton zu kreieren, den alle Künstler für ihre Kreationen verwenden können," heißt es darunter. Semple wolle so ein Bewusstsein für das Problem der Farb-Kontrolle, Elitarismus und das Privileg des Zugangs zu bestimmten Materialien und Prozessen schaffen.
In den letzten Monaten wurde der Konflikt um die Monopolisierung von Farbe erneut angeheizt. Für eine lange Zeit hatten die Bildbearbeitungssoftware Adobe und Pantone zusammengearbeitet – die Farbbücher des Pantone Matching System waren direkt in Adobes Programmen integriert. Dabei ging es vor allem um die Sonderfarben – jene, die sich etwa nicht im Vierfarbdruck des CMYK-Modells darstellen lassen. Das System von Pantone enthält mittlerweile knapp 2000 solcher Sonderfarben, die aus insgesamt 18 Basisfarben gemischt werden können.
Da die Kooperation der beiden Unternehmen nun nicht weitergeführt wird, verschwinden die Pantone-Farbbibliotehken aus Softwareprodukten wie InDesign, Photoshop und Illustrator. Egal, ob bei neu angelegten oder bereits in der Vergangenheit erstellten Dateien – zu sehen sein wird an Stelle der Pantone-Farben nur noch schwarz. Um die Adobe Creative Cloud weiterhin mit den "pantonierten" Tönen nutzen zu können, muss das Plugin "Pantone Connect" erworben werden. Pantone macht also sein ganzes Farbsystem markenfähig. Gerade Künstler und Kreative, die auf dieses angewiesen sind, müssen allein für den Zugriff zur Farbe Geld bezahlen.
Semple reagierte auf diese kunstfeindliche Neuerung mit der "Freetone"-Farbpalette. 1280 "befreite" Farben, die denen von Pantone sehr ähnlich seien und von den Tönen hinter der Paywall quasi nicht zu unterscheiden. Und auch auf "Viva Magenta" weiß er eine Antwort: Nur kurz nach seinem rant über die Farbe des Jahres folgte ein Post mit einer neuen "Freetone"-Kachel: "Viva Meh-genta", einer aus Frustration geborenen Farbneuschöpfung, die dem originalen Viva-Ton entspricht, ganz ohne Pantone-System.
Dazu bietet er ein Farbpigment in dem Magenta-Ton in seinem Online-Kunstbedarf "Culture Hustle" zum Verkauf, dessen Erlös dafür verwendet werden soll, eine demokratische "Farbe des Jahres der Menschen" zu finanzieren, bei der die gesamte Kunstgemeinschaft mitentscheiden könne. So solle eine "die Realität widerspiegelnde Schattierung" gewählt werden.
"Es ist frustrierend, dass die Trends von Unternehmen, Designern und Herstellern gesetzt werden und die Kreativen sich dann scheinbar daran anpassen; es wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Und dann profitieren sie so stark davon", erklärt es Semple dem "Print Magazine". Gespannt bleibt zu erwarten, für welche Farbe die Künstler sich im nächsten Jahr entscheiden werden. Es kann ja fast nur besser werden.