Wenn man heute das neue Munch Museum oder das Nationalmuseum in Oslo betritt -, hochmoderne Kunsttresore mit ausgefeilter Sicherheitstechnik - klingt diese Geschichte nahezu unglaublich. Am 12. Februar 1994, als das öffentliche Interesse der Norweger und die Aufmerksamkeit der Polizei auf die Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Lillehammer gerichtet waren, stiegen mehrere Personen mit einer einfachen Trittleiter durch ein Fenster in die damaligen Räume des Nationalmuseums ein. Innerhalb von nur 50 Sekunden stahlen sie eine Tempera-Version von Edvard Munchs weltberühmten "Schrei" und ließen am Tatort noch eine provokante Postkarte zurück. Darauf stand: "Danke für die schlechte Sicherung".
Einer dieser Männer und Hauptdrahtzieher des Coups war Pål Enger, wahrscheinlich einer der bekanntesten Kunstdiebe der Welt. Neben dem "Schrei" stahl er bereits 1988 eine Version von Munchs "Vampir" aus dem damaligen Osloer Munchmuseum und später Schmuck im Millionenwert aus einem Juweliergeschäft. Außerdem wurde er wegen der Entwendung von mehreren Gemälden aus einer Galerie im Jahr 2015 verurteilt. Wie unter anderem die norwegischen Zeitungen "Verdens Gang" und "Dagbladet" melden, ist Enger nun im Alter von 57 Jahren gestorben.
Das Leben des "Gentleman Gangsters", wie er oft genannt wurde, ist ziemlich filmreif. Folgerichtig wurde er im vergangenen Jahr durch die Dokumentation "Der Mann, der den Schrei stahl" verewigt. "Ich war der beste Kriminelle in Norwegen", sagt er darin nicht gerade bescheiden. Erstmals für Aufmerksamkeit sorgte er jedoch nicht wegen Straftaten, sondern als vielversprechender Nachwuchsfußballer für den Osloer Verein Vålerenga (er konnte sogar Einsätze in der Ersten Liga und dem Uefa Cup für sich verbuchen). Allerdings war er schon als Jugendlicher Mitglied einer Gang und saß mit 19 Jahren wegen Einbruchs zum ersten Mal im Gefängnis. Mit der sportlichen Profi-Karriere wurde es danach nichts mehr.
Auch bei seinen aufsehenerregenden Kunstdiebstählen war er nur anfangs erfolgreich und wurde jedes Mal gefasst. Beim "Schrei" kamen ihm Ermittler drei Monate nach der Tat auf die Spur und fanden das Werk mit nur leichten Schäden in einem umgebauten Couchtisch im Haus von Engers Familie wieder. Passenderweise im Küstenort Åsgårdstrand, wohin sich auch Edvard Munch gern zum Malen zurückzog.
Der "Schrei", versteckt in einem Wohnzimmertisch
Ein so bekanntes Gemälde lässt sich schlecht zum Kauf anbieten, großen Reichtum konnte sich der Dieb durch die Aktion also nicht erhoffen. Nach seinen Motiven gefragt, sagte Enger - der trotz Aufnahmen einer Überwachungskamera stets behauptete, er habe die Tat zwar geplant und in Auftrag gegeben, sei aber selbst nicht daran beteiligt gewesen -, er habe "etwas Großes" schaffen wollen.
Im Gefängnis begann Enger dann selbst zu malen: Überwiegend abstrakte Bilder, aber auch expressive Werke, die sich an Munchs Formen- und Farbenwelt orientierten. Zwischenzeitlich eröffnete er eine eigene Galerie in Oslo, um seinen Ruhm als Kunstdieb auch geschäftlich zu nutzen. Der Zeitung "VG" sagte er 2011 bei seiner ersten Ausstellung, er wolle seine Familie nun auf legale Weise stolz machen.
Glaubt man seinen Interviews, sah sich Enger stets als anständigen Menschen, der durch Kontakte in die falschen Kreise einige Dummheiten begangen hat. Indirekt ist er jedoch auch dafür verantwortlich, dass sich die norwegische Museumslandschaft stark verändert hat. Der Diebstahl von 1994 und ein weiterer, diesmal bewaffneter "Schrei"-Raub aus dem alten Munchmuseum 2004 führten dazu, dass auch die traditionell sehr vertrauensseligen Norweger ihre Kunstschätze nun mit Panzerglas und ausgeklügelten Sicherheitskonzepten beschützen. Mit einer Leiter kommt man heute in Oslo nicht mehr weit.