Ausstellung zu Otto Mueller

"Es ist immer ein fremder Blick"

Das LWL-Museum in Münster zeigt eine kritische Würdigung des Expressionisten Otto Mueller und thematisiert auch dessen Blick auf Frauen und Minderheiten. Den Kuratorinnen wurde vorgeworfen, den Künstler zu verunglimpfen. Wir haben nachgefragt

Eine Ausstellung im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster widmet sich gerade dem Leben und Werk des Brücke-Künstlers Otto Mueller (1874–1930). Dieser wurde vor rund 150 Jahren geboren und bekommt zum Geburtstag nun eine durchaus kritische Würdigung. Die Pressemitteilung verspricht "neue Perspektiven auf den Expressionisten", und Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, schreibt: "Gerade in der heutigen Zeit müssen sich Museen immer mehr die Frage stellen, welche Kunstwerke sie zeigen und welche Narrative sie der Öffentlichkeit anbieten. Die kritische Auseinandersetzung mit Muellers Werk ermöglicht es uns, die Selbstverständlichkeiten und das Anspruchsdenken, die in der damaligen Zeit vorherrschten, neu zu bewerten und zu reflektieren." Kuratiert wurde die Ausstellung von der Mueller-Expertin Tanja Pirsig-Marshall und den Co-Kuratorinnen Flora Tesch und Ann-Catherine Weise. Die Schau traf nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Kritik: Hier werde eine historische Position mit zeitgenössischen Maßstäben gemessen und verunglimpft. Wir haben bei den Macherinnen nachgefragt. Unser Gespräch findet mit Tanja Pirsig-Marshall statt.


Frau Pirsig-Marshall, in Ihrer Ausstellung werden unterschiedliche Facetten des Brücke-Künstler Otto Mueller und seines Werks beleuchtet, mitunter sehr kritisch. Mein Eindruck ist, dass es darum ging, einem Unbehagen, das sich aus heutiger Sicht bei der Betrachtung der Bilder dieses großartigen Künstlers einstellt, nachzugehen und zu fragen, ob es berechtigt ist oder nicht. Zwei Autoren der "Neuen Zürcher Zeitung" und der "Süddeutschen Zeitung" ist die Schau allerdings gar nicht gut bekommen. Philipp Meier schreibt in seiner Rezension in der "NZZ", Mueller werde in der Jubiläumsausstellung als "Problemfall" behandelt. Und Till Briegleb spricht in der "SZ" von "Kunstschmähung". Sehen Sie Mueller als Problemfall?

Nein, überhaupt nicht. Es ging uns darum, sein Werk unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten, sich dabei sowohl den Kontext seiner Zeit genau auszusehen als auch jene Themen, die ihn beschäftigt haben. Womit hat er sich auseinandergesetzt, wie ist er mit den jeweiligen Themen umgegangen? Davon ausgehend haben wir sein Werk in Beziehung zu aktuellen Diskursen gesetzt. Wir wollten anschaulich machen, dass Mueller vielschichtiger war als er bisher immer dargestellt wurde. Gleichzeitig gibt es noch viele offene Fragen, gerade, wenn man sich seine Bildnisse und Doppelbildnisse anschaut. Warum setzte er bestimmte Zeichen und Symbole in diesen Bildern ein? Warum sieht man ihn oft in sehr klammernder Haltung? Es gibt noch einige unerforschte Aspekte an seinem Werk.

Was ist Ihre Geschichte mit Mueller?

Ich beschäftige mich seit 1992 mit Otto Mueller. Zu dieser Zeit habe ich ein Praktikum am Museum Folkwang gemacht. Mario-Andreas von Lüttichau hatte dort gerade mit dem Werkverzeichnis von Mueller angefangen, weil ihm bei der Rekonstruktion der Ausstellung "Entartete Kunst" aufgefallen war, wie wenig zu Mueller überhaupt existiert und wie wenig man eigentlich über ihn weiß. In der Folge habe ich mich beispielsweise viel mit Muellers Beziehung zur Familie Hauptmann auseinandergesetzt. In meiner Doktorarbeit ging es um die Frage, weshalb ein relativ kleiner Ausschnitt seines Werks einen so großen Anteil an seiner Rezeption hat: Die Darstellung der Sinti und Roma findet sich in ungefähr 15 Gemälden und 15 grafischen Arbeiten – sein Gesamtwerk umfasst insgesamt 400 Gemälde und über 600 Pastelle und Aquarelle. Und doch haben die Werke zu den Sinti und Roma lange Zeit die Wahrnehmung seines Schaffens stark geprägt. Das führt zum Beispiel dazu, dass Museen Werke umbenannten: Wo Badende am Strand zu sehen waren, wurde das Bild "Z-Mädchen am Strand" betitelt.

Wie hat diese Forschung zur Ausstellung in Münster geführt?

Als es nun darum ging, eine Jubiläums-Ausstellung zu konzipieren, war für mich klar, dass wir eine solche Schau nicht mehr so machen können wie noch vor 20 Jahren. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, und die Museen müssen ihre Rolle hinterfragen. Wie verändert eine durch Migration geprägte Gesellschaft deren Umgang mit dem kulturellen Erbe in den Museen? Wie verändern queerfeministische Debatten unseren Blick auf "klassische" Bildmotive? Und warum sollten sich Angehörige diskriminierter Communitys wie people of colour oder Roma mit Kunstwerken auseinandersetzen, deren Motive und Titel die Diskriminierung verfestigen? Wer ist im Museum repräsentiert - und wer nicht? Es gibt neue Themen und Diskurse, die nicht einfach ignoriert werden können, und unsere Aufgaben als Museum haben sich auch gewandelt. Fragen, ob bestimmte Titel überhaupt noch verwendet würden dürfen, wurden bereits 2003 gestellt. Wenn man diese aktuellen Diskurse anerkennt, braucht es also einen neuen Blick auf die Klassiker, in diesem Fall auf Otto Mueller.

Der Autor Till Briegleb wirft Ihrer Ausstellung vor, Mueller in eine Reihe mit dem "glühenden Nazi Emil Nolde" zu stellen. Ich konnte für diese Behauptung keinen Anlass finden. Aber auch in dem "NZZ"-Artikel heißt es, die Ausstellung käme zu der Schlussfolgerung, dass Mueller mit seinen Darstellungen die Ideologie der Nazis bestätigt habe. Im Katalog steht es jedoch anders: dass die Stereotype über Sinti und Roma, die in seinen Werken zu sehen sind, kurz darauf von der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten aufgenommen werden. Kommt Ihre Ausstellung zu dem Schluss, dass Mueller ein Rassist war?

Nein, das wird in unserer Ausstellung nicht so dargestellt, denn ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Mueller kein Rassist war. Er hatte eine wirkliche Affinität zu den Sinti und Roma. Nichts deutet darauf hin, dass er sich für etwas Besseres gehalten hat, ich sehe das nicht. Aber Tatsache ist, dass seine Werke zur Reproduktion bestimmter Stereotype beigetragen haben, die auch von den Nationalsozialisten aufgegriffen und verzerrt wurden und die zur Verfolgung führten. Sich solche Wechselwirkungen bewusst zu machen, ist wichtig. Diese Themen müssen aufgegriffen werden. Gerade hier in Deutschland und gerade mit der aktuellen Rechtsbewegung.

Um was für Stereotype über Sinti und Roma handelt es sich denn, die in seinem Werk auftauchen?

Er greift auf Darstellungen zurück, die schon seinerzeit über Jahrhunderte verwendet wurden, um die Sinti und Roma darzustellen: Beispielsweise die bunten und schwarz-weiß gestreiften Gewänder, die langen, dunklen, meist geflochtenen Haare sowie das traditionelle Kopftuch der verheirateten Frauen. Der Fokus ist auf dem Außergewöhnlichen und "Naturverbundenen". Mueller stellt sie lagernd oder auf Wagen fahrend da, vermittelt ein romantisierendes Bild der Roma, das nicht der Realität entsprach. Stereotype wie das Wagenrad oder das Amulett, wie sie in den Genre-Darstellungen des 19. Jahrhunderts zur Charakterisierung von Sinti und Roma ausgebildet wurden, übernimmt er. Als Gegenwelten, in denen die romantisierende Faszination für das vermeintlich "Ursprüngliche" mitschwingt, verweisen sie auf die Sehnsucht des Künstlers, einer von modernen Zwängen geprägten Lebenswelt zu entfliehen.

In welcher Beziehung steht Muellers Kunst zum deutschen Kolonialismus?

Mueller war stark mit den Themen seiner Zeit verbunden, und diese Zeit war auf verschiedenen Ebenen vom Kolonialismus geprägt. Museen und Galerien zeigten Objekte aus den Kolonien. Das wird auch auf Mueller gewirkt haben. Wir wissen, dass Mueller ins Kino ging, dass er im Zirkus Schumann war, in dem Schwarze Artist:innen zu sehen waren. Wobei wir aus Briefen von Marie Hauptmann auch wissen, dass dort auch Oedipus gezeigt wurde; was genau er gesehen hat, wissen wir also nicht. Außerdem gibt es einen verhaltenen Hinweis, dass er Völkerschauen besucht hat. So wie andere Brücke-Künstler auch sammelte Mueller Objekte aus den Kolonien, in seinem Fall aus Kamerun und Ozeanien. Diese Gegenstände integrierte er teilweise auch in seine Gemälde, insbesondere in seine Selbstbildnisse.

Mueller war also Kind seiner Zeit. Was ist dann das Problematische an seiner Faszination für andere Kulturen?

Seine Darstellung ist seine Interpretation, nicht die Realität. Vieles bleibt in seiner Darstellung unreflektiert, hier werden Stereotype einfach ungefragt hingenommen und reproduziert. Die Bilder sind stark romantisiert, die Realität der Abgebildeten sah anders aus. Wenn wir die Kunst der Vergangenheit betrachten, müssen wir uns auch den Kontext ansehen. Der Kontext war der Kolonialismus. Wir wissen allerdings nicht, wie bewusst Mueller sich dessen war. Es geht auch um Machtdynamiken. Einige Menschen haben Macht, andere haben keine. Die Roma haben keine Stimme, aber Muellers Bilder haben eine.

In der Ausstellung setzt sich die Autorin, Kommunikationswissenschaftlerin und Künstlerin Natasha A. Kelly mit Muellers Verbindungen zum Kolonialismus auseinander …

Hier war der Hintergrund, dass wir es für wichtig erachteten, eine Schwarze Perspektive hineinzuzuholen. Auch mit Blick auf die Darstellungen der Sinti und Roma wollten wir Perspektiven aus der betreffenden Community einbeziehen, das erschien uns unentbehrlich. Wir wollten Muellers Darstellungen auch Gegenbilder aus der Community gegenüberstellen, um so die Perspektive zu erweitern. Das hat nichts mit Verunglimpfung zu tun, wie es uns vorgeworfen wird. Es spielt eine Rolle, was für einen Hintergrund jemand hat, wo er oder sie herkommt, welche Erfahrungen gemacht wurden – basierend auf diesen Dingen wirken die Werke Muellers ganz unterschiedlich auf die jeweiligen Betrachtenden. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass die jungen Besucher:innen viel extremer auf die weiblichen Akte reagieren als ältere. Als wir früher die Arbeit "Z-Mädchen" ohne Kommentar gezeigt haben, gab es sehr verärgerte Reaktionen. Gerade für das jüngere Publikum sind bestimmte Themen und Diskurse selbstverständlich Teil der Kunstbetrachtung.

Also haben Sie mit dieser Ausstellung auch auf Rückmeldungen reagiert, die Sie vom Publikum bekommen haben?

Ja. Hinzu kommt, dass Geldgeber:innen und Förder:innen inzwischen auch erwarten, dass bestimmte Aspekte einbezogen werden. In anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien und den USA, ist das längst normal, wird dort viel intensiver betrieben.

Sie haben in der Vorbereitung eine Arbeitsgruppe mit Externen gebildet. Wer war hier dabei?

In der Arbeitsgruppe waren André Raatzsch vom Dokumentationszentrum der Sinti und Roma, Natasha A. Kelly, eine Schwarze deutsche Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin, Tayo Awosusi-Onutor, sie bezeichnet sich selbst als Afro-Sintezza deutsch-nigerianischer Herkunft und ist Musikerin, Autorin und Filmemacherin, und Miriam Siré Camara, Gründerin und Geschäftsführerin von Akoma coaching & consulting. Sie hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Berlinische Galerie sowie andere Kunst- und Kultureinrichtungen beraten.

Ich finde, das im Katalog abgedruckte Protokoll einiger Sitzungen veranschaulicht, wie sehr um manche Dinge gerungen wurde. Wie geht man mit kritischen Bildinhalten und diskriminierenden Titeln um? Was kann wie gezeigt werden und so weiter. Man könnte sich fragen: Was ist falsch daran, sich einzugestehen, dass in bestimmten Aspekten Expertise fehlt und dass man – in diesem Fall als weiße Person – nicht einfach entscheiden kann, ob ein Werk verletzend ist oder nicht?

Ja, wir sind da noch am Anfang. Auch hier ist man im Ausland weiter, beispielsweise in England ist das inzwischen anders gar nicht mehr denkbar. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang war für uns: Welche Geschichte, welche Narrative wollen wir erzählen? Und wenn es um Muellers Darstellung der Sinti und Roma geht, muss man einfach festhalten, dass es Fremddarstellungen sind. Es gibt ja kaum Darstellungen aus der Community selbst, vor allem nicht aus Muellers Zeit, es ist immer ein fremder Blick. Und dieser fremde Blick ist oft verunglimpfend. Das macht Mueller zwar nicht, er zeigt keine Trickdiebe, keine Wahrsagerinnen, aber auch sein Blick ist eben ein fremder, dem wir etwas gegenüberstellen wollten. Deshalb zeigen wir in der Ausstellung auch Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen aus der Community der Sinti und Roma wie Małgorzata Mirga-Tas, Luna De Rosa und Vera Lacková, die mit ihren Werken Vorurteile entlarven.

Kurz zurück zur Arbeitsgruppe. Till Briegleb tut diese in der "Süddeutschen" als "Schutzschild" ab, den Sie sich zugelegt hätten, damit Ihnen das Zeigen der "Z-Mappe" nicht um die Ohren fliegt. Was entgegnen Sie?

Der Punkt war, dass wir die Sichtweise von Menschen einbeziehen wollten, die damals keine Stimme hatten. Wir wollten Menschen einbeziehen, die aus dieser Gemeinschaft stammen und die auch jetzt noch emotional involviert oder von den Bildern betroffen sind. Diese Perspektive wollten wir in die Debatte einbringen.

Wie steht es denn um Muellers Frauenbild?

Sein bevorzugtes Thema sind Akte, Akte in der Natur, Badende. Sie sind oft in kleineren Gruppen zusammengestellt. Dabei ist zu beobachten, dass die von ihm dargestellten Frauen oft einem bestimmten Typus entsprechen: Sie sind schlank, etwas knabenhaft, eher dunkel. Soweit wir wissen, hat er nicht mit Berufsmodellen gearbeitet, sondern vorwiegend seine Partnerinnen gemalt, allen voran Maschka. Durch diese Konstellation ergibt sich natürlich eine größere Vertrautheit zwischen Maler und Modell. Vielleicht lassen sich so einige der aufreizenden Darstellungen erklären. Sein Interesse an ägyptischer Kunst dürfte die Darstellungen seiner Frauen-Figuren ebenfalls maßgeblich beeinflusst haben. Außerdem gehen wir davon aus, dass er sich von Frauen-Darstellungen Cranachs inspirieren ließ.

Laut "NZZ"-Rezension seien die Abbildungen der Frauen nie erotisiert. Sie und Ann-Catherine Weise schreiben im Katalog, dass die Akte "oftmals nicht erotisiert" sind. Aber es gibt durchaus zahlreiche sexuell aufgeladene Darstellungen, zum Beispiel "Mädchen auf dem Kanapee", "Tänzerin mit Schleier, von einem Mann beobachtet", "Akt auf dem Sofa" und weitere.

Ja, einige Darstellungen sind erotisierter als andere. Meiner Einschätzung nach finden sich vor allem in den Aquarellen und Pastellen zum Teil sehr erotische, eindeutige Posen. Aber insgesamt finde ich seine erotisierten Darstellungen wesentlich verhaltener als wir das zum Beispiel bei Kirchner oder anderen Künstlern seiner Zeit sehen.

Und wie steht es um den male gaze, also den männlichen Blick? Spielt der bei Mueller eine Rolle? Sehen wir also Darstellungen, in denen das weibliche Modell zum Gegenstand sexuellen Begehrens objektifiziert wird?

Ja, natürlich spielt der male gaze auch hier eine Rolle. Mueller übernimmt in einigen seiner Werke bestimmte Motive, die dem Narrativ "männliches Subjekt – weibliches Objekt" zuspielen. Wenn er sich beispielsweise im Anzug gekleidet darstellt, während die Frau nackt und mit gespreizten Beinen auf seinem Schoß sitzt.

Es wurde argumentiert, es könne vom male gaze nicht die Rede sein, da die Modelle freiwillig posiert haben und er von seinen dargestellten Partnerinnen emotional abhängig war. Aber auch in einer solchen Beziehung zwischen Künstler und Modell kann es zu einer sexualisierten Darstellung kommen, in der die Frau das betrachtete Objekt ist. Das zeigt sich zum Beispiel in dem Werk "Akt mit Spiegel mit Selbstbildnis"oder "Paar in der Kaschemme". Auf der anderen Seite zeigen Arbeiten wie "Maschka mit Maske" seine empfundene Unterlegenheit des Mannes gegenüber der Frau. Wollten Sie diese Ambivalenz herausarbeiten?

Es gab ja auch die Argumentation, dass die Modelle bezahlt wurden. Ich konnte bisher noch keinen Beleg dafür finden. Ich kann sagen, dass er teilweise nach Fotos gearbeitet hat. Das wissen wir aus Briefen von ihm an Maschka oder von Maria Hauptmann. Teilweise hat er auch seine Gliederpuppen verwendet, die er selbst geschnitzt hat, als Maschka ihm einmal nicht zur Verfügung stand.

Was sagen Sie zu der Einschätzung, dass Sie Mueller als Sexisten labeln?

Die Behauptung, dass Mueller ein Sexist sei, findet sich nicht in unserer Ausstellung. Meiner Einschätzung nach resultieren die freizügigeren Darstellungen aus der jeweiligen Situation der Bildentstehung, der Atmosphäre, die dort vielleicht herrschte und in der die Modelle vielleicht bereit waren, sich ungezwungen zu geben.

Problematischer wird es möglicherweise, wenn man die Darstellungen der Sinti und Roma betrachtet. Nacktheit, zum Beispiel eine entblößte Brust, ist in dieser Kultur ein Tabu. Hier kann man nicht von der Freizügigkeit der Modelle ausgehen, oder?

Wenn es um seine Aufenthalte bei Vertreter:innen der Sinti und Roma geht, so können wir davon ausgehen, dass er jemanden kannte, der ihm den Zugang zu diesen Menschen ermöglichte. Er hat längere Zeit mit ihnen verbracht. Außerdem wissen wir, dass er während seiner Aufenthalte mit ihnen zeichnete und fotografierte, auch wenn wir die Fotografien selbst leider nicht kennen. Aber wenn man seine Zeichnungen betrachtet, dann sehen wir dort immer wieder individuelle Köpfe. Wir erkennen Personen wieder, sodass man vermuten kann, dass er wirklich vor Ort gezeichnet hat. Die Lithografien und Gemälde sind aber erst nach seiner Rückkehr im Atelier entstanden, und da hat nochmal eine Entwicklung stattgefunden. Die Frauen sind zum Teil entblößter als in den Zeichnungen. 

Was schließen Sie daraus?

Diese Darstellungen entspringen vermutlich zum Teil seiner Vorstellung oder Interpretation. Hier war eventuell seine romantische Vorstellung von Natürlichkeit und Unberührtheit wichtig. Vielleicht spielte auch ein Gemeinschaftsgefühl eine Rolle. Das Familiäre hat ihn sehr angezogen, sein eigenes Leben war zu jener Zeit, als er sich den Sinti und Roma zuwendete, eigentlich sehr zerrissen, war durch wechselnde Beziehungen geprägt. Was genau seine Zuwendung zu den Sinti und Roma begründete, wissen wir nicht, er hat sich nicht dazu geäußert.