Wie ein gefallener Jesus liegt er da. Die Arme schlaff, die Haare wild, die Augen ermüdet, formt er ein Kreuz mit Tennissocken, das von der Wand gerutscht ist. Oska Gutheils Protagonist ist jedoch kein Heiliger, sondern ein Träumer. Und ein Single mit Kaktus. Darüber im Himmel geht es hoch her. Die üblichen Verdächtigen aus Gutheils Bilderwelt schauen herunter: Monster, Katzen, Phalluswesen, Brüste und Anonyme mit Masken. Vielleicht ist es auch der Künstler selbst, der hier liegt und sich seine nächsten Bilder ausdenkt.
Gutheils Ausstellung "Hirngespinst" in seiner deutschen Hausgalerie Russi Klenner zeigt eine neue narrative Bilderserie. Sie beginnt mit dem gleichnamigen Werk "Hirngespinst". Das, was auf den ersten Blick wie ein unförmiger Ur-Riese wirkt, steht für das Hauptthema der Ausstellung: Transformation. Unklar bleibt, ob es sich um ein Kostüm, eine Puppe oder ein lebendes Wesen handelt. Am Zeh ist noch eine Schnur befestigt, vielleicht ein Puppenspiel, aus dem sich die Figur mit letzter Kraft befreite. Die zwei Narben an der Brust deuten auf eine Operation hin.
Der Künstler Gutheil, früher Stefanie Gutheil, lebt als Transperson und unterzog sich ebenfalls einer Operation. So sind viele Figuren in seiner Bildwelt aus autobiografischen Bezügen entstanden. Phallusbrusthybride und abgeschnittene Brüste, die wie auf dem Gemälde "Body Check" auf einem Tablett wie Pudding oder Kuchen dastehen. Vielleicht könnte man sie auch romantisch als Kerzen anzünden und einen Self-Care-Tag im Badezimmer zum leisen Herunterbrennen der nun überflüssigen Geschlechtsteile nutzen.
Das Wesen auf "Hirngespinst" lässt sich formal gesehen in die Familie der Kopffüßler einordnen. Kinder malen so ihre ersten Menschen, meistens ein Kopf, der im unteren Teil ein vager Körper wird, und direkt daran die Beine und Arme, natürlich in der Proportion unnatürlich und geschlechtlos. In der weiteren Entwicklung entstehen ausdifferenziertere Menschenkörper. Bei Gutheil steckt dieser Wesenskörper ebenfalls noch voll Potenzial. Wer weiß schon, wie er sich entwickeln wird? Wie er nach der Hormonbehandlung aussieht oder in den malerischen Folgewerken? An der Leine dahinter werden weitere Wesen, Masken und Uniformen aufgehängt. Phallusartige sind natürlich dabei. Außerdem ein weiß-rosa geblümter Stoff, der auf den anderen Bildern wiederauftaucht. Sozusagen ein roter Faden, ein Lieblingsstück, so wie die männlich konnotierte Tennissocke, ein weiteres Accessoire in Gutheils Welt. Das "Hirngespinst" ist aber auch das Gehirn der gesamten Schau und steht für die künstlerische Imagination, eben das Aufblasen von neuen Ideen. Die Bildfiguren um ihn herum sind die "Creators", sie bringen die Zutaten für die anderen Gemälde zusammen.
Woanders, auf "Flugtier", wird durch die Luft gesegelt, auf einem grauen Wursthund zwischen Fledermäusen in der Nacht.
Was sich darunter in den Häusern abspielt verrät das Werk "Schlafzimmer". Ein Paar im Bett, die eine sitzt mürrisch auf der Kante, mit Handy oder Fernbedienung in der Hand, der oder die andere liegt gelangweilt dahinter und greift sich in die Feinrippunterhose.
In einem anderen Schlafzimmer, in "Schlaflos", versucht jemand Ruhe zu finden, wird aber von einem Geist neben ihm heimgesucht. Oder ist es das gleiche Paar, das sich picassoartig um Mitternacht verwandelt? Die vielen Gesichter, die aus dem Kopf wachsen, scheinen sich zu beschweren und zu überfordern. An Schlaf ist wohl nicht zu denken.
Dann geht es besser weiter zu dem Haus mit Fenster, "Aussenansicht", das im Wald steht und im allerletzten Galerieraum hängt. Ein typisch deutscher Wald steht hier, vielleicht sogar ein Märchenwald der Brüder Grimm. Licht ist an, man kann durchs Fenster schauen. Ein zweites Kleinformat daneben zeigt die Fensterbank auf der drei Kakteen stehen: Zwei Phallusartige und eine Brust. Sie werden gegossen, wer weiß zu was oder zu wem sie heranwachsen. In einem anderen Innenraum spielt sich die Szene von "Hirngespinst" ab. Das große Bild, das am Eingang hängt.
Oska Gutheils Ausstellung lässt sich zusammenhängend lesen wie ein Bilderzyklus in einer Kirche oder wie ein gemalter Reisebericht über das Hirngespinst und alle seine Freunde. Dahinter steckten aber auch Momentaufnahmen, einzelne Werke, die Lebensstationen Gutheils markieren und seiner persönlichen Transformation. Die komplexe und über Jahre entwickelte Fabelwelt des Künstlers bietet aber noch mehr. Diese Welt beherbergt kindliche Abenteuerphantasien, und alle Auswüchse der Adoleszenz, die wichtigste Lebensphase der körperlichen, geistigen und emotionalen Transformation für jeden. Denn die meisten von Gutheils Figuren scheinen Jugendliche und junge Erwachsene zu sein, die dabei sind, sich zu finden, während ihre Gliedmaßen und Geschlechtsorgane unterschiedlich schnell in alle Himmelsrichtungen wachsen.
Aber auch der Erwachsene fühlt sich in Gutheils Welt aufgehoben, gerade weil sein inneres Kind und sein innerer Jugendlicher hier auf Akzeptanz stoßen. Es muss sich nicht gewaschen werden, auch die Tennissocken lassen sich noch einen Tag länger tragen. Der Fernseher kann nachts noch anbleiben und die weiß-rosa Bettwäsche tröstet die wilden Gedanken. Auch wenn die Transperson ganz konkret mit ihren Narben auftaucht, malt Gutheil doch uns alle auf der Suche nach dem Frieden mit uns selbst, unseren (Alb-)träumen und Beziehungen.
Das Gemälde, das das am meisten vereint, ist "Nachtwandlung". Das Wolfskostüm besteht nur noch aus dem Kopf, der Rest sind zusammengenähte Bettlaken und eben die rosafarbene Lieblingswäsche. Darunter sind viele, wer genau, bleibt ein Geheimnis. Sich verstecken und dabei auf Gleichgesinnte zu treffen, wirkt beruhigend. Eine kurze Flucht, bevor das Leben weitergeht. So wie diese Ausstellung, man kann sich guten Gewissens kurz in sie verkriechen.