Orlan in Wien

Das zerschnittene Ich

Orlan, "Le Baiser de l’Artiste" [Der Kuss der Künstlerin], 1977
© ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / SAMMLUNG VERBUND, Wien

Orlan, "Le Baiser de l’Artiste" [Der Kuss der Künstlerin], 1977

 

 

Die französische Künstlerin Orlan hat in ihrer Karriere immer neue Metamorphosen durchlaufen und die Schönheitsoperation als Kunstform ins Extrem getrieben. Nun ist ihr radikales Werk in Wien zu sehen

Das Bild der Künstlerin und ihr Blick, 1977 fotografiert als "Große Odaliske im Stil von Ingres", im Foyer der Vertikalen Galerie der Sam­mlung Verbund machen unmissverständlich klar: Bei "Orlan. Six Decades", der ersten Einzelausstellung der französischen Konzeptkünstlerin in Österreich, geht es um eine starke Persönlichkeit und ein streitbares Werk.

17-jährig entdeckt Mireille Suzanne Francette Porte, geboren 1947, ihr künstlerisches Selbst, wie die inszenierte Schwarz-Weiß-Fotografie "Orlan gebiert ihr geliebtes Selbst" (1964) zeigt. Zwei Jahre später entsteht die paradigmatische Fotoikone der nackten Künstlerin, die einem Barockrahmen entsteigt, "Versuch, dem Rahmen zu entkommen". Die Aktion formuliert ihr künstlerisches Credo: "Denken", so Orlan in Wien, "richtet sich zuerst immer gegen sich selbst. Gegen die eigenen Gewissheiten."

Diese Lebensleistung, immer wieder den gesellschaftlichen wie den selbst gezimmerten Rahmen zu sprengen, ist nirgendwo besser zu präsentieren als im Stiegenhaus am Firmensitz des Energieversorgers, das als Ausstellungsraum dient. Deckt sich seine Strecke über sechs Stockwerke hinweg doch exakt mit sechs Jahrzehnten Orlan und ihrem konzeptuellen Weg von der Defiguration zur Refiguration.

Unter der aufgeschnittenen Haut kein wahres Ich

Es wird dabei die Medienkünstlerin sichtbar, die in den 1970er-Jahren für ihre Installationen und Performances Fotografie und Film einsetzt, die in den 1980er-Jahren von Minitel fasziniert gleich "Art Accès" herausgibt, ein erstes Online-Kunstmagazin, die in den 1990er-Jahren in international über Satellit ausgestrahlten Operationsperformances erstmals die Chirurgie zum Mittel der Kunst macht, die seit 2010 mit Augmented Reality und KI arbeitet. Und natürlich handelt die Schau von einer Karriere, die ihren Ausgangspunkt in der feministischen Kunstavantgarde der 1970er-Jahre hat, deren Aufarbeitung ein Schwerpunkt der Sammlung Verbund ist, jetzt die Herausgeberin der überfälligen ersten umfassenden deutschsprachigen Publikation zu Orlan.

Mit feministischer Militanz setzt Orlan ihren Körper als Mittel der Kunst ein, wie die skandalträchtigen Performances der 1970er-Jahre "Sich auf dem Markt in kleinen Stücken verkaufen" oder "Der Kuss der Künstlerin" belegen. Gleichzeitig argumentiert sie auf raffinierte Weise mit Überlieferungen der abendländischen Kunst, etwa der Vorstellung des Gesichts als Maske. Es offenbart sich unter ihrer aufgeschnittenen Haut dann auch kein wahres Ich. Sie gibt nur Raum für weitere Maskenspiele, etwa für die markant über die Augenbrauen gesetzten Silikonimplantate, die Orlan bis heute von der "Opération Omniprésence" (1993) bleiben.