Wer würde nicht das Glück des Lesers kennen, so tief in einen Roman einzutauchen, dass das eigene Leben mit dem der Romanfiguren zu verschmelzen beginnt, dass Fiktion und Realität ineinander übergehen? In der aktuellen Ausstellung von Orhan Pamuk im Lenbachhaus in München können die Besucher noch etwas ganz anderes erleben: Sie können buchstäblich in die imaginäre Welt des türkischen Nobelpreisträgers eintreten, in der die schreibende und bildende Kunst Hand in Hand gehen.
Erstmalig ist der in 35 Sprachen übersetzte Bestsellerautor nun auch als bildender Künstler mit einer Auswahl seiner Gemälde, Zeichnungen, Skizzenbüchern, Notizheften und Fotografien zu entdecken, vor allem aber mit seinen dreidimensionalen Assemblagen, die wie Dioramen oder Wunderkästen eine ganz eigene Gattung bilden und allenfalls an die poetischen Boxen von Joseph Cornell erinnern. Sie lösen die Verheißung des Ausstellungstitels auf zauberhafte Weise ein: "Der Trost der Dinge".
Den programmatischen Ausgangspunkt und nostalgischen Nukleus bildet sein Roman "Museum der Unschuld", mit dem Orhan Pamuk nicht nur das schönste musée imaginaire einer unglücklichen Liebe errichtet hat, sondern ein veritables Gesamtkunstwerk mit Adresse in Istanbul, das nach seiner Station in der Dresdner Gemäldegalerie nun auch in München zu Gast ist.
Wenn einem Hören und Sehen vergeht
Wenn man den 40 numerierten Kapitel-Schaukästen per Audioguide mit den Kommentaren des Schriftstellers und Passagen aus seinem Roman folgt, weiß man bald nicht mehr, ob man durch ein Buch oder ein Museum spaziert. Beim gleichzeitigen Hören und Sehen könnte einem buchstäblich Hören und Sehen vergehen. Denn der Meister der Metafiktion weiß die Erzähltradition des Orients mit den intertextuellen und intermedialen Bezügen des postmodernen Okzidents zu kombinieren.
So wird das Buch zur begehbaren Fiktion, in der die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Fabrikantensohn Kemal und seiner schönen Kusine Füsun synästhetisch erlebbar wird: Für das aus Liebeskummer errichtete Museum der Unschuld hat Kemal tausende Dinge gesammelt und arrangiert, die ihn an Füsun erinnern.
Im Halbdunkel reihen sich die erleuchteten Schaukästen mit ihren musealen Holzrahmen dicht an dicht aneinander, gefüllt mit Panoramen, Fotografien, Kleinoden, Alltagsgegenständen und Nippes, die gleichzeitig den Alltag und die Geschlechterverhältnisse in Istanbul zwischen den 1950er- und 2000er-Jahren widerspiegeln, sodass man die Möwen über dem Bosporus kreischen und die Schiffe tuten zu hören meint. Sie vermitteln das melancholische Gefühl der "Hüsün" genannten Sehnsucht und setzen auf die "tröstende Kraft gegen die vergehende Zeit".
Ein genuiner Künstler
Während die nachgebildeten Schaukästen des Istanbuler Museums aus den Tiefen des ureigenen Schaffens hervorgegangen sind, wirken die eigens für München entstandenen Dioramen eher flach und konstruiert. Wie schon in Dresden sind sie aus der Beschäftigung Pamuks mit der Sammlung des Hauses entstanden, insbesondere mit Paul Klee und Alfred Kubin, bei denen sich textuelle Bezüge zum eigenen Schreiben herstellen lassen, die im Vitrinenheft nachzulesen sind.
Dass Oran Pamuk jedoch der genuine Künstler ist, der er schon als junger Mann werden wollte, offenbaren seine kleinen Skizzen- und Notizhefte, die eine Dichte und Poesie aufweisen, die mit den Zeichnungen Peter Handkes in seinen Tagebüchern vergleichbar sind. Die völlige Durchdringung von bildender und schreibender Kunst wird auf programmatische Weise in seiner großformatigen Zeichnung "Buchstabenberg" anschaulich, in der Pamuk seit 2009 bis heute winzige Buchstaben und Texte zu einem Funken sprühenden Gebirge auftürmt.
In dem unaufhörlichen Dialog zwischen Wort und Bild kann man bei Orhan Pamuk das Glück erleben, für das er selbst die schönste Definition gefunden hat: "Glück ist nichts anderes, als dem geliebten Menschen nah zu sein." Diese Ausstellung ist ein Glücksfall.