Bislang war der italienische Fotograf Oliviero Toscani eher bekannt für seine Schockwerbung. Mal war es das Bild einer Nonne, die einen Priester küsst, mal das einer schwarzen Mutter, die ein weißes Baby stillt oder das eines sterbenden Aidskranken, das die Gemüter erregte. Auch seine Aufnahmen von Todeskandidaten in US-Gefängnissen für Werbezwecke wurden kontrovers diskutiert. Zumeist im Auftrag für das – inzwischen Pleite gegangene – italienische Modelabel United Colors of Benetton unterwegs, war Toscani immer für eine Provokation gut. Zwei mal ist er dort geschasst worden. Zuletzt 2020 wegen seiner unrühmlichen Äußerung angesichts des fatalen Brückeneinsturzes in Genua zwei Jahre zuvor. Den hatte der damalige Art-Direktor in einem Interview des Senders Radio Uno mit den Worten kommentiert: "Wen kümmert es schon, wenn eine Brücke einstürzt?". Für das Bauwerk war das Unternehmen Autostrade per l`Italia verantwortlich, das seinerzeit von der Benetton-Holding Atlantia kontrolliert wurde.
Für sein neuestes Projekt – diesmal im Auftrag des Versicherungsunternehmens Generali Deutschland – ist der einstige Skandalfotograf mit seinem Team durch deutsche Großstädte gereist, um in deren Fußgängerzonen Menschen vor die Kamera zu bitten. Die so entstandenen 800 Fotografien wurden in dem jüngst erschienenen Fotobuch "Die Deutschen des 21. Jahrhunderts" verewigt. Seit wenigen Tagen ist zudem eine Auswahl von ihnen auf 50 Stahlbeton-Stelen beidseitig installiert auf dem Potsdamer Platz in Berlin zu sehen. Ein Kaleidoskop aus hundert Gesichtern, die das Bild einer multikulturellen Gesellschaft spiegeln.
"Look at me" bekamen die Modelle von Toscani zu hören. Ihr direkt in die Kameralinse gerichteter Blick fesselt und schafft eine fast persönliche Beziehung zu den Portraitierten. Ob lange Haare, schwarz oder weiß, mit schrägem Hut, Piercing in der Lippe oder krasser Brille auf der Nase: In jeder Person – und war sie noch so verschieden – sah der Fotograf einen kleinen, aber wichtigen Baustein des Landes, das er aufgrund seiner Vielfalt und Integrationsleistung der vergangenen Jahrzehnte das "fortschrittlichste Land der Welt" nennt. Mit dem Projekt habe er der Voreingenommenheit begegnen und zeigen wollen, dass die Deutschen gar nicht so unsympathisch sind wie ihr Ruf, erklärt Toscani seine Motivation.
In der Tradition von August Sander
Das sagt einer, der im Krieg geboren (28. Februar 1942) wurde und die Nachwehen der Nazi-Zeit in Italien inklusive Deutschen-Hass noch leibhaftig miterlebt hat. Genau deshalb aber, so der 80-Jährige, habe er die Stereotype hinter sich lassen und zeigen wollen, wie sehr sich Deutschland hinsichtlich Vielfalt und Integration gewandelt habe. "Jeder, der nach Deutschland kommt, spürt sofort, dass es ein ganz anderes Land ist als das, was es einmal war. Die Vision Deutschlands ist fortschrittlicher als die der übrigen Welt. Das war der Gedanke hinter meiner Idee."
Bei der Umsetzung sieht sich der Mailänder in der Tradition von August Sander. Der Kölner Fotograf hatte mit seinen "Menschen des 20. Jahrhunderts" schon vor fast 100 Jahren Fotogeschichte geschrieben. Nach Sanders Konzept sollten die von ihm Porträtierten "unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie" wiedergeben sein. Im Gegensatz zu Toscani jedoch reiste Sander in die Provinz (Hunsrück und Westerwald), um dort die Bauern und Handwerker zu fotografieren. Verschiedene Altersgruppen abzulichten, die verschiedene Berufe ausübten, war des Meisters Mission.
Während seines Zürcher Fotografie-Studiums sei er nach Köln gefahren, wo er Sander zwei Jahre vor dessen Tod (1964) noch getroffen habe, so Toscani. Das habe ihn sehr beeindruckt und geprägt. Analog dazu ist sein heutiges Buch "ein Angebot, die Menschen hierzulande von einem neuen Blickwinkel aus zu betrachten. Ob die Leute das Projekt mögen oder nicht, ist mir egal. Einige werden sich vielleicht provoziert fühlen. Aber andere werden es als ein gutes, interessantes Werk betrachten."
Was beschäftigt "die Deutschen"?
Als reiner Bildband würde das Buch vermutlich tatsächlich Kritiker auf den Plan rufen, die nicht wenig Lust hätten, das traute Miteinander anzuzweifeln. Um im Vorfeld den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurde der Band mit Themen angereichert, die "Die Deutschen des 21. Jahrhunderts" aktuell und nachhaltig beschäftigen. So gibt es Textbeiträge, die sich mit Angela Merkels Willkommens-Kultur in der Flüchtlingskrise befassen, aber auch mit ihrer Rolle als erste Frau an der politischen Spitze. Texte, die vom Alltagsrassismus im Fußball handeln, von Klimaproblemen, von Globalisierung, Diversifizierung und Digitalisierung.
Sängerin Lena Meyer-Landrut spricht über ihr Verhältnis zur deutschen Geschichte, während Christoph Amend vom "Zeit-Magazin" seinen Vater in den Fokus rückt, um auf persönliche Weise die Spaltung Deutschlands sichtbar zu machen. In "Typisch Deutsch" geht der Schriftsteller Daniel Kehlmann der Frage auf den Grund, was "die Deutschen" charakterisiert und lässt die Ärztin und Forscherin Marylyn Addo ihren Gedanken bei der Frage "Wie wird Deutschland im Jahr 2050 aussehen?" freien Lauf. "Ich hoffe, dass wir dann viele Professorinnen und Geschäftsführerinnen haben – mit je fünf Kindern."